Schreiben organisieren

Ein Beitrag zur ästhetischen Debatte – Teil 1

Es ist nicht der Zufall, der entschieden hat, dass dem Autor dieser Zeilen jüngst gleich von mehreren Seiten angeraten wurde, den Roman „1984“ von George Orwell zu lesen. Denn die Zeiten begünstigen die pure Negation, die totale Abkehr von der Welt, die nicht zu wandeln scheint. Soziale Unsicherheit, Aufrüstung, Polizeigesetze und dabei wenig Gegenbewegung gegen all das. Auf dem ersten Blick liegt Orwells Dystopie erstmal nahe.
Der literarische Protest, der nicht nur negiert, sondern auf Alternativen verweist, lässt nach der Konterrevolution 1989/90 hierzulande weitgehend auf sich warten. Ein Protest, der über die Erscheinungsebene hinausgeht und mehr ist als Anleitung zum Krampfweinen, ist selten.
Doch das Realexistierende ist nicht so bitterschwarz wie das London Orwells. Die Bedingungen schließen den Aufbau von politischer wie kultureller Gegenmacht nicht von vornherein aus. Im Gegenteil.

Als Sozialgruppe stark von Prekarisierung, Flexibilisierung und Rechtsruck betroffen, haben einige KünstlerInnen die Wichtigkeit kollektiven Handelns erkannt. Nicht ohne Widerstände, die ihrem eigenen Status entspringen. Der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen schreibt der „Kreativen Arbeit“ eine gesellschaftliche Entfremdung zu, die AutorInnen und Co. durch ihre „identifizierte Produktion“ erfahren. Der gern mit Genie-Dünkel verbundene Fetisch für ihr eigenes Produkt erschwert es ihnen, sich sozialen Kämpfen anzuschließen.
Der Künstler erfüllt den „Tatbestand eines arbeitenden Unternehmers“, wie Peter Hacks es wiederum sagt, steht „zwischen den Klassen“. Ein Stand, der „Ausschläge nach unten oder oben zulässt“. Die Ausschläge nach unten überwiegen zunehmend.
Bei der Frage, ob der Schreibende sich nach Feierabend für Verbesserungen im unkünstlerischen, notgedrungenen Broterwerb einsetzt, oder die wenige Freizeit der Aneignung der Welt durch seine Literatur widmet, kollidieren objektive Interessen und Identitätsvorstellungen. Letztere sind keine überkommenen Schrullen, sondern Voraussetzung dafür, überhaupt mit Passion AutorIn zu sein.
Was nicht heißt, dass KreativarbeiterInnen höchstens mit individuellem Wutgebrüll reagieren, was das Reinhard Opitzsche „monopolkapitalistische Ingegrationsproblem“ so an Interessensgegensätzen zwischen Monopolkapital und Lohnarbeit offenlegt, an Konkurrenz unter den Nichtbesitzenden und Maximalflexibilisierung nicht mehr übertünchen kann.

IMG_6662Schreibende sind nicht dumm, nur in ihr eigenes Werk verliebt. Darin wittern sie zunehmend den Zwangscharakter des Systems: Romane wie „Hool“ von Philipp Winkler oder Roman Ehrlichs „Die schrecklichen Tage des fürchterlichen Grauens“ mehren sich, in denen der Glaube, als Individuum die Ausbeutung einfach zu boykottieren, als Illusion entlarvt wird.
In der gesellschaftlichen Dimension brauchen AutorInnen als KreativlohnarbeiterInnen politische bzw. gewerkschaftliche und ästhetische Alternativen, um den Schritt in die Organisation zu gehen. Sonst bleibt die unparteiische Partei ihre Vorzugsillusion, die ihnen als Einzelschaffer „zwischen den Klassen“ am nächsten läge. Ihre Haltungslosigkeit würde es sonst bewusst oder unbewusst mit dem Establishment halten, nicht mit den Subalternen, ihren Klassen- und Kämpfen um Anerkennung.

Politische und ästhetische Organisationen sind in diesem Land zwar nicht präsent genug, um sie als die Hegemonie gefährdende Gegenkultur bezeichnen zu können. Doch wurden vor wenigen Jahren mit den u.a. von Enno Stahl initiierten Konferenzen „Richtige Literatur im Falschen“ und der in diesem Jahr ausgerichteten Gegenkultur-Konferenz der Melodie&Rhythmus wieder Wege zu einer Kultur der Linken und Progressiven in Bündnisform aufgetan. Dem aus diesen Kontexten an Theorie Entstehenden kann man mal weniger, mal mehr zustimmen (zu letzterem zählt Mesut Bayaktars in der junge Welt erschienener Essay „Utopie und Realismus“). Dass nun wieder vermehrt ästhetische Konzepte verhandelt werden, steht außer Frage, ist ein nicht zu vernachlässigender Zwischenerfolg.
Dieser zweiteilige Essay soll einen kleinen Beitrag zu diesen Verhandlungen sein. Auf „1984“ wird noch einmal zurückgegriffen, als Beispiel etablierter mieser Literatur. Mit „Besser Kunst als Hoffnung, besser Kunst als Angst“ findet sich eine Analyse von „1984“ als Referat von Dietmar Dath, im November 2018 in Wien gehalten, die detailschärfer ist, als der Raum hier hergeben würde.

Im zweiten Teil des Essays sollen drei Anmerkungen zu poetischen Aspekten der Utopie, der Authentizität, sowie der Aufklärung einen Mehrwert liefern, sowie mit aktualisierendem Bezug auf Autoren, die keineswegs alle bekennende Marxisten sind (aber alles andere als Orwell-Epigonen), einen Bezug zum Zeitgenössischen herstellen.


Gastbeitrag von Ken Merten, 6.Nov’19
Foto von Marie-Kristin Boden

Hinweis: Der Text erschien erstmal in der Wochenzeitung »Unsere Zeit« (UZ) in der Ausgabe vom 13.09.2019. Wir bedanken uns bei der Redaktion und beim Autor, dass wir den Text hier veröffentlichen dürfen. Morgen erscheint Teil II des Textes »Organisieren durch Schreiben«.

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