Ein Beitrag zur ästhetischen Debatte – Teil 2
Ging es im ersten Teil des Essays um die Frage der Organisation der Schreibenden, finden sich hier drei poetische Anmerkungen zur Literatur:
1. Nochmal am Paradebeispiel undialektischer Dystopie: George Orwells Figuren sind hilflos, traurige Kleinigkeiten, von ihrer Welt zerquetscht. Das totalitäre Nein zu allem, das „1984“ posaunt, raubt der Kunst ihr Kostbarstes: Den Vorschein auf eine Welt, in der sich der Mensch von vielerlei Zwängen gelöst hat. Für Orwell ist alles Zwang. Möglichkeiten sind bei ihm unmöglich. Seine Literatur ist dadurch schlechte Propaganda. Schlechte vor allem, weil sie vorgibt, Literatur zu sein.
Auch wenn es für MarxistInnen Allgemeinplatz ist, dass sie die Welt, wie sie 2019 eingerichtet ist, in weiten Teilen negieren, so darf marxistische Belletristik nicht dabei stehenbleiben, das beschissene Jetzt zu verdammen, die Gegenwart als unheilbar toxisch, die Zukunft als Schrecken zu zeichnen. Literatur muss die Verstandesleistung mitbringen, Räume auszutarieren und Möglichkeiten aufzuzeigen.
Wenn etwa Saša Stanišić in seinem jüngsten Buch „Herkunft“ der Herkunftsliteratur die Determination austreibt und er uns zeigt, dass wir einen festen Rahmen haben, in dem aber viele Chancen schlummern, dann verweist er damit auf Utopiepotenziale. Wenn er dabei realistisch das ehemalige Jugoslawien und die BRD durch den Doppelblick eines Geflüchteten, aber eben auch eines Literaten in all seiner Freizügigkeit offenlegt, geht er tiefer und zugleich freier vor, als Orwell konnte, dessen Figuren nicht nur hilf-, sondern auch motivationslose Pappkameraden sind.
2. Im Kapitalismus wird arbeitsteilig und warenförmig produziert, Literatur nicht ausgenommen. Das hat Auswirkungen auf die Gattungen. Lyrik verkauft sich nicht, also erfährt sie eine Abwertung. Im Theater hat die Performance das Dramatische ersetzt. Der Einzelne wird manifestiert und atomisiert. Als Unding gilt, dass sich ein Mensch in eine Rolle, geschweigedenn in einen anderen Menschen einfühlen kann.
Ähnlich in der Prosa. Dort heißt die Forderung „Authentizität“ und führt zu Debatten, wie die um Philipp Winklers Roman „Hool“, der es wagte, einer aus dem Proletariat stammenden, nichtakademischen Figur ein Mehr als ihren Wert als Ware Arbeitskraft, nämlich ästhetisches Reflexionsvermögen, zuzutrauen.
Authentizität/Performativität sollen angeblich näher an der Wahrheit dran sein. Dabei sind sie genauso nah dran wie der Naturalismus. Sie reduzieren die Realität auf das, was unmittelbar ist. Sie reproduzieren Phänomene und eliminieren das, was sein kann. Das, was der Mensch wirklich zu leisten vermag. Es kann nicht damit getan sein, eine Figur den Sprech seines Milieus sprechen zu lassen und sie in ihrer Klassenzugehörigkeit einzuknasten. Es braucht Figuren, die sich über die Zustände erheben können. Keineswegs bedeutet das den Ausschluss von HeldInnen der Arbeiterklasse. Denn wer, wenn nicht diese suchen nach Auswegen aus der Misere? Auswege aus der Misere, die nicht in der romantischen Weltflucht und der Isolation des Subjekts münden, wie sie jeder Roman von Christian Kracht anbietet.
3. Was seit dem Ende der DDR und dem Einschrumpfen einer linken Gegenkultur in der BRD die wohl größte Frage aufwirft, eben jene Auswege aus der Misere mit geistigem Gerümpel versperrt, ist immer noch die Schernikaus vom letzten Schriftstellerkongress der DDR: „Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?“
Schmalspurbildung und Kulturindustrie haben ihr bestes getan, die Errungenschaften der Bühnen- und Leserepublik DDR samt ihrer Verbündeten zu liquidieren. Das stellt die marxistische Literatur vor ein Problem, weil sie nicht jede plumpe Verkürzung in Kauf nehmen kann, um noch marxistisch und Literatur zu sein. Sie kann es auch nicht dadurch wettmachen, indem sie auf Agitprop zurückfällt, in der Hoffnung, der lesende Proletarier werde dadurch klassenbewusst.
Aber sie kann einen Beitrag zur Aufklärung leisten: Dass das Ausbeutungsverhältnis in einem besitzbasierten Herrschaftssystem allumfassend ist, auch und gerade Randgesellschaften einbegreift, zeigt der bereits erwähnte Roman „Hool“. Sich einer solchen Herrschaft in ihren Krisenzeiten mit alternativen Gesellschaftskonzepten entgegenzustellen, haben Juan S. Guses „Miami Punk“ und Dietmar Daths „Für immer in Honig“ zum Thema.
Dath schreibt andernorts, dass es darum gehen muss, „die ganze wirkliche Welt [zu] erobern, vermittelt durch die Kunst“. Literatur ist der Widerspiegelung fähig, weil sie Menschen und ihre Verhältnisse abstrahieren, tief zeichnen, Interessen vermitteln und aufzeigen kann, mit wem und gegen wen es zu kämpfen lohnt. Sie zeigt auf, dass es zum Erkennen und Aneignen der Welt eine Haltung zu dieser verlangt: Die Haltung, die Welt auf das Bestmögliche hin abzuklopfen.
Gastbeitrag von Ken Merten, 7.Nov’19
Foto von Marie-Kristin Boden
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