Warum Alkohol? – Gedanken zum Leben des ersten proletarischen Schriftstellers Amerikas (II/II)

Einige Zeit nach Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit, er war in diesem Zeitraum Mitte bis Ende Zwanzig, berichtet London davon, ernsthaft an Selbstmord gedacht zu haben und nur die Tatsache, dass so viele Menschen von ihm abhängig waren, ihn von der Ausführung abgehalten habe. Über die Gründe seiner Depressionen macht London nur recht vage Aussagen, schreibt, dass es sich um einen nur allzu bekannten Anfall von „Weltschmerz“ gehandelt habe. Er hätte die Wahrheit „zu unerbittlich geliebt“ und nachdem alle Schleier von ihrem Antlitz gezogen wurden, sei er erstarrt vor diesem Antlitz. Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang eine Anekdote, die der junge Schriftsteller in dem kurzen Essay „Was mir das Leben bedeutet“ erzählt. Er hatte zwei Frauen aus der gehobenen Gesellschaft darauf angesprochen, dass ihr gutes Essen und die schönen Kleider aus Profiten bezahlt wurden, die mit dem Blut von Kinderarbeit, mit Überausbeutung der Arbeiter und sogar mit Prostitution befleckt waren. Daraufhin hielten ihm die Damen eine Rede über den Mangel an Sparsamkeit, die Trunksucht und die angeborene Verderbtheit, die das Elend im „Keller der Gesellschaft“ verursachen würden. Der junge Jack London, als Kind selber aufs schärfste ausgebeutet und mit dem „Keller der Gesellschaft“ nur allzu gut bekannt, fragte trocken, wie denn Mangel an Sparsamkeit, die Trunksucht und Verderbtheit ein halbverhungertes Kind von sechs Jahren dazu bringen könnten in einer Baumwollspinnerei des Südens jede Nacht zwölf Stunden zu arbeiten – die Damen nannten ihn einen Agitator und die Diskussion war beendet. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die belegen, wie sehr Jack London die eklatante soziale Ungerechtigkeit in Amerika und der Welt aufregte, doch – und das ist ein entscheidender Punkt – es war nicht mehr eine moralische Empörung, nein, aufgrund seines theoretischen Studiums erkannte er im Kapitalismus die Ursachen aller Missstände, lernte, dass sie zu überwinden waren.

In seinem Übermut, seinem Tatendrang und nicht zuletzt auch seinem nur zum Teil überwundenen Individualismus nahm Jack London sich vor, es alleine mit dem System aufzunehmen. Er hatte die abwegige Vorstellung, den „Kapitalismus mit dessen eigenen Waffen zu schlagen“, wobei der Sieg in seinem Erfolg als sozialistischer Schriftsteller bestehen sollte. Doch es kam anders als erwartet. Er traf in der bürgerlichen Gesellschaft nicht auf die von ihm erhofften Ideale, auf Edelmut oder Leidenschaft, sondern auf Selbstzufriedenheit, Heuchelei und Menschen, die vielleicht eine gute Gesinnung hatten, aber lediglich „unbegrabene Tote“ waren. Es ist leicht vorstellbar, wie erschütternd das für London gewesen sein muss. Geradezu überwältigt von all den Erkenntnissen, die ihm das Studium brachten, zog er aus, um endlich einen dauerhaften Sinn im Leben zu finden und was er entdeckte war, dass all die bürgerlichen Ideale eine Lüge waren, dass die Menschen lieber in einer „Scheinzivilisation“ lebten als sich der Wahrheit zu stellen. Dabei verlangte sein Geist doch unersättlich nach Wahrheit, wie es H. B. Hargrave, ein Freund aus Goldsucherzeiten, formulierte.

Es muss sich in diesem Zusammenhang auch ins Gedächtnis gerufen werden, dass Jack London ein unermüdlicher Kämpfer war, aber alle seine bisherigen Kämpfe und Abenteuer, die auch immer eine (mehr oder weniger bewusste) Suche nach Sinn waren, mit einer Niederlage bzw. Desillusion endeten: Austernpiraterie – ständige Todesgefahr; harte Arbeit – körperlicher Verfall; Goldsucherei – kein Gold, aber Skorbut; durchs Land trampen – endete im Gefängnis. Wo war der Sinn? Was blieb noch?

„Er (Alkohol) leiht dem Körper Scheinkraft, dem Geist Scheinhöhe, gibt den Dingen einen trügerischen Schimmer, der sie weit schöner erscheinen lässt, als sie sind.“

An genau diesem Punkt hat sie geschlagen – die Stunde „John Barleycorns“. London wusste um die Wirkung des Alkohols, eine Wirkung, die er bisher nur einmal wirklich bewusst herbeigesehnt hatte. Während des Schuftens in der Wäscherei verlangte es ihm danach, seinen Geist zu betäuben, um die stupide Tätigkeit zu überstehen. Jetzt verspürte er exakt die gleiche Versuchung, um die ignorante bürgerliche Gesellschaft zu überstehen. Und da es diesmal weder an Zeit noch an Geld fehlte, gab er ihr nach. Nach ausreichender (stetig der Steigerung bedürfender) Dosis Alkohol, vergaß London die fundamentalen Probleme, an denen er sich „die Finger verbrannt“ hatte, durchdrang nicht mehr den genauso verlogenen wie verführerischen Schein der bürgerlichen Welt und ihrer (bei entsprechendem Budget) vielen Annehmlichkeiten, sondern ließ sich bereitwillig davon blenden. Er überwand seine „lange Krankheit“, den inneren Kampf eines nach Gerechtigkeit und Wahrheit strebenden Geistes gegen eine auf Ungerechtigkeit und Illusion aufgebaute Umwelt, und wurde glücklich.

„Zu glücklich“, wie London später mutmaßte? – Nein, glücklich nach dem Maßstab der bürgerlichen Gesellschaft, sprich von einem individualistischen Standpunkt aus betrachtet. Als Individuum hatte London alles, was man sich wünschen kann, sein Körper musste nichts entbehren, nur sein Geist war nicht zufrieden, kettete sich an die Erfahrungen und das Wissen vergangener Tage. Also trennte London gewissermaßen sein persönliches Ich, dass verzweifelt einen Ausweg aus der „langen Krankheit“ suchte, von seinem gesellschaftlichen Ich, dass weiterhin vom Sozialismus überzeugt war, ab. Konnte das funktionieren?

„Martin Eden starb, weil er ein Individualist war, ich aber lebe, weil ich ein Sozialist bin und das soziale Gewissen meiner Klasse besitze.“

Diesen Satz schrieb London mit Bezug auf die Romanfigur Martin Eden aus seinem gleichnamigen, stark autobiographisch geprägten Buch. Die Aussage führt uns zum Kernpunkt der letzten Frage dieser Abhandlung: Ist Jack London die Gratwanderung gelungen, sich einerseits unter Mithilfe seines alten Freundes „John Barleycorn“ dem bürgerlichen Lebensstil anzupassen, aber gleichzeitig ein Kämpfer für die Sache der Arbeiterklasse, ein Sozialist, zu bleiben?

Zunächst muss festgestellt werden, dass London nicht nur weiterhin Mitglied der Sozialistischen Partei war, sondern auch unzählige Vorträge und Reden zum Sozialismus hielt, mit „Die eiserne Ferse“ einen sozialistischen Roman schrieb, der seinen Namen verdient und mithin auch selber in „König Alkohol“ berichtet, dass ihn nicht zuletzt die „Liebe, der Sozialismus und das Volk“ aus den Tiefen seines Weltschmerzes retteten. Gleichzeitig gibt er aber offen zu, dass sich eine „gewisse Heuchelei und Unaufrichtigkeit“ in sein Wesen einschlichen, um daran anschließend die Theorie aufzustellen, dies sei dem Menschen zum Leben nötig. Auch an späterer Stellte betont London erneut, dass sich der Mensch, um „in Fülle“ zu leben, von dem Leben blenden lassen müsse, tiefere Wahrheiten nicht hinterfragen dürfe. Dies erinnert sehr stark eine Passage aus dem 1885 erschienen Stück „Die Wildente“ des berühmten norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun: Ein Arzt resümiert, dass die Menschen so ziemlich alle miteinander krank sind und gefragt, was denn im vorliegenden Fall seine Kur sei, antwortet er: „Mein übliche. Ich sorge dafür, dass das Flämmchen der Lebenslüge in ihm nicht erlischt. […] Wenn sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen, so bringen sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“

Ein interessanter Aspekt in Londons Schriften ist, dass er zwar häufig Individualismus und Kapitalismus kritisiert, aber seine „Lösung“ trotzdem fast nie gesellschaftlicher bzw. kollektivistischer Natur ist. Dies gilt für den Tiercharakter „Wolfsblut“ aus dem gleichnamigen Roman genauso wie für seine menschlichen Hauptfiguren. Weder Martin Eden, noch Humphrey v. Weyden („Der Seewolf“) oder Elam Harnish („Lockruf des Goldes“) schließen sich in irgendeiner Form einem kollektiven Kampf, bspw. dem der unterdrückten Arbeiterklasse an. Stattdessen sieht ersterer überhaupt keine Lösung und die beiden letzteren finden praktisch „die Liebe“ als Gegenstück zur brutalen Logik der kapitalistischen Gesellschaft. Gerade im Falle des „Seewolfs“ fragt sich, warum London den zum Proletarier gewordenen v. Weyden nicht als Teil seiner neuen Klasse gegen die Barbarei kämpfen, sondern ihn vor dieser in eine romantische, bürgerlichen Idealbildern entsprechende Liebe fliehen lässt. Dabei war London doch überzeugt vom Klassenkampf, bekannte sich zur sozialistischen Revolution. Freilich ist ein Teil der Erklärung sicher, dass die kapitalistischen Verlage die romantische Liebe mit Sicherheit dem Klassenkampf vorzogen. Allerdings hat dies London beim Schreiben von „Die eiserne Ferse“ auch nicht gestört. Die Erklärung könnte vielmehr darin bestehen, dass der Autor die im realen Leben vollzogene „Trennung“ seines persönlichen und gesellschaftlichen Lebens auch beim Verfassen seiner Romane verinnerlichte. Inmitten einer ungerechten Gesellschaft finden die Hauptcharaktere aus „Der Seewolf“ und „Lockruf des Goldes“ ein persönliches Glück, exakt das, was auch London selbst anstrebte. Nur bedurfte es dazu eben des einen oder anderen Cocktails – morgens, mittags, abends. Das war der Preis.

Es wäre falsch zu resümieren, dass es Jack Londons Fehler war, sich dem Leben in der bürgerlichen Gesellschaft anzupassen. Als rigoroser Verfechter seiner Überzeugungen, als unermüdlicher Kämpfer für die „Wahrheit“, hat er persönlich kein Glück gefunden, sondern geriet in eine lang andauernde Tiefphase, während der sogar Selbstmord eine reale Option für ihn gewesen ist. London hätte seinem Ziel, dem Kampf für die Unterdrückten und Ausgebeuteten, zweifellos nicht gedient, indem er diesen Zustand aufrechterhalten hätte. Im Gegenteil ermöglichte die Erlangung eines privaten Glückes eine Zeitlang sogar die Intensivierung der gesellschaftlichen Anstrengungen. Aber dennoch zeigt vor allem Londons steigender Alkoholkonsum, der bis hin zur Abhängigkeit führte, auf welch unsicherem Fundament dieses „Glück“ gebaut war. Mit dem Akzeptieren der Vorzüge des bürgerlichen Lebens, der Möglichkeiten, die materieller Reichtum jemandem im Kapitalismus eröffnen, entstand ein Widerspruch, dessen Regulierung London mit den Jahren immer weniger gelang. Wenn er später Texte schrieb, die überhaupt nicht seinen Vorstellungen entsprachen, um Geld für die Aufrechterhaltung einer Ranch mit bis zu 100 Arbeitern zu bekommen, gleichzeitig aber leidenschaftlicher Kämpfer für den Sozialismus sein wollte, zeigt das anschaulich, wie weit London die Kontrolle über seine vollzogene „Trennung“ aus den Händen glitt.

„Wer hilft gesellschaftliche Pflichten ertragen, wenn der Glanz verblasst ist? König Alkohol.“

Es war sein Verhängnis Erfolg nicht als Teil seiner Klasse, der arbeitenden Bevölkerung, erlangt zu haben, sondern als Individuum. Dadurch war er gezwungen in einer Umgebung zu verkehren bzw. zumindest sein Geld zu verdienen, deren Prinzipien er im Grunde verachtete und bekämpfte. Unter Mithilfe des Alkohols gelang es ihm dennoch einerseits dieses Leben zu ertragen, andererseits sich immer neue private Herausforderungen und Unternehmungen, sei es der Bau eines riesigen Steinhauses auf seiner Ranch oder die Weltumseglung auf einer eigenen Yacht, zu suchen. Doch mit jedem neuen Dollar, den London von den kapitalistischen Verlegern und Medienunternehmen bekam, mit jedem neuen privaten „Abenteuer“, in das er sich stürzte, entfernte sich der einst glühende Sozialist unmerklich immer weiter von seiner Klasse. Der Alkohol spielte bei diesem Prozess eine zwiespältige Rolle, welche der Schriftsteller allerdings entweder nicht durchschaut zu haben scheint oder aber sich selbst nicht eingestehen möchte. Denn mitnichten verursachte der Alkoholkonsum seine späteren Probleme, vielmehr schaffte er es immer weniger die Widersprüche in Londons Leben in gewissem Maße zu befrieden. Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach seiner eigenen Rolle im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung traten wie einst hervor, nur steckte der Autor bereits zu tief drin im bürgerlichen Lebensstil. Jahrelang hatte er den Großteil seiner Energie in private Projekte, allen voran seine Ranch, gesteckt und nicht zuletzt auch wegen finanzieller Verpflichtungen sowie Abhängigkeiten vermochte er nicht, sich davon zu lösen. Stattdessen löste London sich nach und nach von seinen sozialistischen Idealen, was sich in Spätwerken wie „Die Herrin des großen Hauses“ oder seiner Berichterstattung von der mexikanischen Revolution wiederspiegelt. Doch nicht nur ließ sich sein Geist immer weniger mit Alkohol betäuben, nein, ohne die Verbindung zu seinen Genossen und dem weltweiten Kampf der Arbeiterklasse, gab es nichts mehr, dass Jack London im Falle von privaten Misserfolgen hätte auffangen können. So sind seine letzten Lebensjahre erneut von Depressionen gekennzeichnet, die seinem mittlerweile geschwächten Körper weiter zusetzten und letztlich sein viel zu frühes Ende beschleunigten.

Jack London war den Großteil seines Lebens ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Er erlebte selbst all die Widersprüche des kapitalistischen Systems – das extreme Elend bei gleichzeitiger grenzenloser Ausschweifung, die unglaublichen Möglichkeiten technischen Fortschritts bei gleichzeitiger Hemmung ihrer Ausnutzung durch die erbarmungslose Konkurrenz, die holden bürgerlichen Ideale bei gleichzeitig notwendiger Verblendung – und sein Leben ist nur als Produkt dieser Widersprüche zu verstehen. Mag der Kapitalismus diesen ersten proletarischen Schriftsteller Amerikas am Ende vielleicht besiegt haben, seine unzähligen Leistungen für die Sache der Arbeiterklasse konnte er nicht verhindern. In seinem Roman „Die eiserne Ferse“ blicken die Menschen aus ferner Zukunft, dem „Zeitalter der Menschenbrüderschaft“, auf die Abgründe der kapitalistischen Klassengesellschaft zurück und wenn sie dies dereinst auch in Wirklichkeit tun, dann werden sie Jack Londons Beitrag für den Kampf um eine gerechte Gesellschaft zu würdigen und die Widersprüchlichkeit seines Lebens zu erklären wissen. So soll diese kurze Abhandlung auch nicht mit einem Satz über seinen zwiespältigen Weggefährten „König Alkohol“ enden, sondern mit einem Zitat, dass Londons Charakter hundertfach besser veranschaulicht:

„Wie kann es also geschehen, dass unter solchen Bedingungen, wo die Naturkräfte gemeistert sind und die Leistungsfähigkeit des Menschen hinsichtlich Nahrungs- und Obdacherwerb im Vergleich zum Höhlenmenschen tausendfach zugenommen hat, heutzutage aber Millionen Menschen ein elenderes Leben führen als der Höhlenmensch? Diese Frage stellen die Revolutionäre, und sie stellen sie der Klasse, die die Verwaltung innehat, eben den Kapitalisten. Und die Kapitalistenklasse gibt keine Antwort. Sie kann keine Antwort geben.“

von Daniel Polzin, 14. Januar 2017


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