Warum Alkohol? – Gedanken zum Leben des ersten proletarischen Schriftstellers Amerikas

Mit gerade einmal fünfzehn Jahren trieb er sich unter Austernpiraten um, über deren whiskygetränktem Leben bei jedem Raubzug das Damoklesschwert einer feindlichen Kugel hing. Wenige Jahre später „enterte“ er fahrende Züge und streunerte nachts auf der Suche nach einem Schlafplatz meist ohne einen Penny in der Tasche bei Minusgraden durch die Straßen. Er überstand auf einem kleinen Robbenschoner die gefürchteten Unwetter im Pazifik und kämpfte sich von Skorbut gezeichnet durch die beißende Kälte Alaskas. Dies sind nur einige der vielen Abenteuer, die für den jungen Jack London ein frühes Ende hätten bedeuten können. Doch er überlebte. Um ihn zu besiegen brauchte es mehr als Wind, Wasser oder wütende Bahnangestellte, es brauchte jemanden, der ihn ein halbes Leben lang begleitete, sich gewissermaßen an ihn heranmachte, um dann im richtigen Moment zuzuschlagen: König Alkohol.

Die Umstände von Jack Londons Tod am 22. November 1916 wurden nie vollständig aufgeklärt. Direkt bewirkten wohl die Folgen einer Niereninsuffizienz sowie eine Überdosis Morphium sein jähes Ende im Alter von nur 40 Jahren. Auch wenn der weltberühmte Schriftsteller ebenso an Krankheiten zu leiden hatte, die keine Folge des Alkohols waren, spielte seine jahrelange Abhängigkeit zweifellos eine entscheidende Rolle dabei den einst vor Kraft strotzenden Körper in einen Zustand zu bringen, in dem Schmerzmittel und vielleicht sogar der Freitod als einzige Lösungen erschienen. Dies wirft letztlich die Frage auf, was es eigentlich war, dass den Autor in die Fänge dieses so bekannten Lebergiftes trieb. Natürlich können die Ursachen hierfür vielfältiger Natur sein und wildes Spekulieren würde wohl maximal den Ansprüchen eines Boulevardblattes entsprechen. Allerdings ist in diesem Fall tatsächlich eine durchaus fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema möglich, da London in seinem autobiographischen Werk „König Alkohol“ (im Original trägt es den teilweise auch im deutschen verwendeten Titel „John Barleycorn“) ungewöhnlich offen und ehrlich über seine im Nachhinein verhängnisvolle Beziehung zur namensgebenden Flüssigkeit berichtet. Berechtigterweise könnte nun aber angemerkt werden: wozu einen Text über die Ursachen von Londons Alkoholabhängigkeit schreiben, wenn er dies selber schon getan hat? Der Grund hierfür, woraus sich sogleich auch die Intention dieser Schrift ergibt, liegt darin, dass die Argumentation des Autors vielfach darauf hinausläuft, den Alkohol als Ursache seiner Probleme und nicht als Folge dieser anzusehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der abschließenden These bzw. eher dem flammenden Appell, dass Alkohol verboten werden sollte, um kommenden Generationen das zu ersparen, was er durchgemacht hat. Einerseits hat die letztlich gescheiterte Prohibition in Amerika von 1919-33 praktisch die Grenzen dieser Forderung aufgezeigt, auf der anderen Seite steht sie aber auch theoretisch auf wackligen Beinen. Schließlich würden Konflikte auch nicht dadurch beseitigt werden, indem man Waffen verbietet. Aber zurück zum Alkohol. Was die Frage nach den Ursachen für seine Anziehungskraft im Falle Jack Londons so interessant macht, ist vor allem die Tatsache, dass er die widrigsten Lebensumstände durchgemacht hat, ohne ihr zu erliegen. Weder zehnstündiges Kohleschaufeln mit geschundenen Händen noch die Entbehrungen in Alaska oder als Tramp haben ihn schwach gemacht. Er fing an alleine, heimlich, vor der Arbeit, vor dem Einschlafen, kurz, in krankhaftem Maße zu trinken in einer Zeit, als er vermeintlich alles hatte:

„Ich habe Grundbesitz, Geld, Macht, die Anerkennung der ganzen Welt, das Bewusstsein, anderen Wohltaten erwiesen zu haben, eine Frau, die ich liebe, Kinder von meinem Fleisch und Blut. Ich habe getan und tue noch, was einem guten Weltbürger ziemt.“

Was fehlte dann? An einer anderen Stelle fragt sich London, ob er denn vielleicht „zu glücklich“ gewesen sei. Freilich ist dies maximal eine verklärende Phrase, denn eine wirkliche Erklärung. Und da Jack Londons an Widersprüchen reiches Leben viel Stoff für eine tiefergehende Analyse liefert, soll im Folgenden anhand seiner Biographie, seiner Werke und natürlich auch seiner eigenen Aussagen der Versuch unternommen werden herauszufinden, wo die wirklichen Ursachen liegen könnten – welche gesellschaftlichen Umstände „John Barleycorn“ den Sieg ebneten.

Der gesellschaftskritische Autor und Weggefährte Londons, Upton Sinclair, bezeichnete seinen Freund nach dessen Tod als den ersten Schriftsteller des modernen Amerikas, der dem „Proletariat entstammte und dessen literarische Laufbahn von seinem Klassenbewusstsein bestimmt wurde“. Ersteres trifft auf den in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Jungen, der, kaum dass er die Schule verlassen hatte, für zehn Cents die Stunde in einer Konservenfabrik schuftete, sicher zu. Mit dem zweiten Teil des Satzes hingegen berührt Sinclair im Prinzip den Grundwiderspruch in Londons Leben. Nachdem er bereits mit zwanzig Jahren der Sozialistischen Partei beigetreten ist, sah sich der Autodidakt auch nach seinem endgültigen literarischen Durchbruch mit „Ruf der Wildnis“ im Jahre 1903 zeitlebens als Kämpfer für die Sache der arbeitenden Bevölkerung. Er schätze den proletarischen Teil seines Lebens am höchsten und wolle sich zu ihm bekennen, solange er lebe, verkündete London am Ende einer Rede aus dem Jahre 1905. Dennoch war er wenige Jahre später der erste Autor Amerikas, der mit seinen Werken mehr als eine Million Dollar verdiente und vertraglich ausgerechnet an den berüchtigten Zeitungsmogul Randolph Hearst gebunden. London hasste die Verlogenheit, die Arroganz und die Heuchelei in bürgerlichen Kreisen, er wollte nicht im „Salon der Gesellschaft“ leben – und doch tat er exakt das. Befriedigung verschaffte es ihm „mit der Brechstange in der Hand Schulter an Schulter mit Intellektuellen, Idealisten und klassenbewussten Arbeitern zu arbeiten“ – und doch schlürfte er als erfolgreicher Autor jahrelang jeden Nachmittag Cocktails mit Menschen, deren Lebenseinstellung er im Grunde verachtete.

„Ein Cocktail oder mehrere befähigten mich herzlich über Dinge zu lachen, die längst aufgehört hatten, lachenswert zu sein.“

An solchen Aussagen wird deutlich, dass Alkohol für ihn letztlich eine Möglichkeit war, seinen Klassenstandpunkt (zumindest vorübergehend) zu vergessen; Wahrheiten, die er erkannt und verinnerlicht hatte, zu verdrängen. Es war eine Art Betäubungsmittel für den Geist eines überzeugten Sozialisten. Doch wie kam es dazu, dass London zu diesem Mittel greifen musste? Wie gerieten seine geistige Überzeugung und sein tatsächlicher Lebensstil in einen solchen Widerspruch?

Wirft man einen Blick auf die Jugendzeit Jack Londons dann fällt schnell auf, dass es das Leben eines Proletariers war, der immer wieder versuchte, aus dem Elend der Lohnsklaverei auszubrechen. Monotone, stumpfe Maschinenarbeit, mindestens zehn Stunden täglich, meistens aber zwölf oder auch achtzehn, monatelang – wenn das Leben hieß, beschreibt London später seine damaligen Gedanken, dann mache er sich nicht viel aus dem Leben. Angefangen mit seinem vierzehnten Lebensjahr entfloh der junge Jack zunächst der zermürbenden Arbeit in einer Konservenfabrik um „freier“ Austernräuber zu werden. Später kehrte er dem harten Leben als Seemann den Rücken zu und wurde ein „Abenteurer des Schienenstrangs“, sprich er vagabundierte bettelnd quer durchs Land. Ebenso hing er die eintönige Arbeit in einer Wäscherei an den Nagel, um als Goldsucher in den Weiten des Nordens sein Glück zu versuchen. Seine wohl wichtigste Entscheidung war jedoch, die zehnstündige Arbeit in einer Jutemühle gegen die Lehrbücher des Gymnasiums von Oakland einzutauschen. Die bittere Erfahrung, dass er als Proletarier nur immer wieder aufs Neue ohne Rücksicht auf seine Gesundheit ausgebeutet wird, haben den kräftigen jungen Mann zu der Überzeugung gebracht, lediglich Bildung könnte ihn vor einem sinnlosen Leben als stumpfes Arbeitstier bewahren. Hatten die Eindrücke der eklatanten sozialen Ungerechtigkeit in den Fabriken, vor allem aber während seiner Zeit als Tramp, bereits eine unbestimmte Feindschaft gegenüber dem bestehenden Gesellschaftssystem erzeugt, so wurde diese Feindschaft während der Jahre an Oberschule und Universität auf ein theoretisches Fundament gestellt. Unermüdlich erweiterte London sein Wissen, beschäftigte sich mit Philosophie und Ökonomie, hatte in Debattierclubs unzählige Auseinandersetzungen über den Sozialismus – später schrieb er, dass es eine Zeit war, in der sich das Leben wieder erneuerte und es für ihn eine Lust war zu leben.

 

„Ich war Es geworden, was immer das Es war, und mit Hilfe der Bücher machte ich die Entdeckung, dass ich Sozialist war. Seit jenem Tage habe ich viele Bücher gelesen, aber kein wirtschaftliches Argument, keine hellsichtige Darlegung der Logik und Unvermeidlichkeit des Sozialismus hat mich je so tief und überzeugend bewegt als das Gefühl jenes Tages, an dem ich erstmals die Wände jenes gesellschaftlichen Abgrundes um mich herum auftauchen und mich immer weiter hinunterschlittern sah, bis in den Schlachthof ganz unten.“

Wie war sein Verhältnis zum Alkohol in diesen Jahren vor Beginn seiner Schriftstellerkarriere? Aufgrund zweier negativer Erlebnisse in der Kindheit entwickelte London eine Abneigung gegenüber Bier, Wein und all den anderen seiner Ansicht nach nicht im mindesten schmeckenden alkoholischen Getränke. Dennoch wurde er in Gesellschaft anderer Austernräuber mit so verwegenen Namen wie „Wikinger-Nelson“ und „Whisky-Bob“ schon in jungen Jahren zu einem starken Trinker. Es war eine Selbstverständlichkeit zu trinken, ein Zeichen der Männlichkeit und mithin auch das Fundament gesellschaftlicher Kontakte. Von einer Abhängigkeit Londons kann in dieser Zeit allerdings noch keine Rede sein, denn sobald sich sein gesellschaftliches Umfeld änderte, war auch Alkohol schnell mal wieder für Monate oder Jahre aus seinen Gedanken verschwunden. Wenn er in „König Alkohol“ später resümiert, dass ihm die Idee des Trinkens überhaupt nicht gekommen wäre, wenn es in der Gesellschaft nicht so fest verankert gewesen wäre, dann entspricht das wohl den Tatsachen. Doch trank London in dieser Zeit freilich aus anderen Gründen, als er dies später tat. Es bestand kein Verlangen nach der Wirkung des Alkohols, vielmehr hat und hätte er das Leben auch ohne diesen später so vertrauten „Gefährten“ genossen.

Einer der ersten Begebenheiten, in denen es ihn bewusst zum Alkohol hinzog, nach seinem Rausch verlangte, war während der harten Arbeit in einer Wäscherei, die er nach seiner Zeit an der Universität aus Geldmangel annehmen musste. Im Unterschied zu vorherigen, ähnlich stumpfen Jobs, während derer Alkoholkonsum keine Verlockung darstellte, war sein Geist inzwischen durch die umfangreiche Bildung erweckt und fühlte „das ganze Elend seiner Stockung und Untätigkeit doppelt“. Auch wenn er letztlich aufgrund mangelnder Zeit und Geld kaum trank, so ist die Ursache für sein damaliges Verlangen doch interessant. Aufgrund seiner geistigen Entwicklung war es ihm nicht mehr möglich, die banale Tätigkeit eines „Arbeitstieres“ auszuführen. Sich der betäubenden Wirkung des Alkohols bewusst, drängte es ihn nun unmittelbar nach dieser Betäubung um seinen Verstand gewissermaßen „ruhigzustellen“.

Er musste sein Geld mit geistiger Arbeit verdienen, davon war London nun mehr denn je überzeugt. Da Musik für ihn keine Option war, fiel die Wahl auf Schriftstellerei. Und tatsächlich wurde er nach anfänglichen Schwierigkeiten und vielen Entbehrungen aufgrund seiner unermüdlichen Arbeitsdisziplin nach und nach zu einem erfolgreichen Autor von Kurzgeschichten, Artikeln und Romanen. Inhaltlich griff er hauptsächlich auf das reiche Repertoire an Geschichten aus seiner abenteuerlichen Zeit als Seemann, Tramp oder Goldsucher zurück. In dieser Anfangsphase seiner Autorenlaufbahn spielte Alkohol für London praktisch keine Rolle.

„Ich hatte damals noch zuviel Glauben, lebte auf zu hohen Zinnen, war Sozialist und gedachte, die Welt zu retten; und Alkohol konnte jene Flamme nicht entfachen, die Ideen und Ideale entzünden.“

Eine überaus wichtige Feststellung für das Verständnis von seinem späteren Werdegang ist, dass London aus seinen Erfahrungen als Proletarier den Schluss zog, ein solches Leben nicht führen zu können, sich aufgrund seines erlangten Wissens und den daraus gebildeten Überzeugungen aber genau diesen Menschen, der lohnabhängigen Bevölkerung, verbunden fühlte. Er kämpfte und lebte fortan für eine Klasse, der er selbst nicht mehr angehörte bzw. auch nicht angehören wollte. Daran ist prinzipiell nichts Verwerfliches, ja, vielmehr konnte London seine Fähigkeiten sogar weitaus besser mit der Feder als mit Muskelkraft für die Interessen der Arbeiterklasse einsetzen. Doch mit dem Erfolg kam auch das Geld und mit dem Geld kamen die Verlockungen eines zufriedenen, bürgerlichen Lebens. Nur diese Verlockungen alleine vermögen aber noch nicht zu erklären, warum sich der Sozialist London eine Yacht für mehr als 30.000 Dollar oder ein Steinhaus für 80.000 Dollar bauen ließ; warum er auf einer riesigen Ranch mit Eukalyptusbaumplantage sowie Angoraziegenzucht wohnte und in einer Gesellschaft von „Narren“ verkehrte, deren Albernheiten nüchtern eine Qual für ihn waren. Nein, ein entscheidendes Puzzlestück fehlt noch und das ist die Phase, welche London in „König Alkohol“ als seine „lange Krankheit“ bezeichnet.

„Gesellschaftliche Einsichten sind von großer Bedeutung für die Massen. Für die wenigen sind sie eine Folter, etwas, womit sie gekreuzigt werden – nicht zu ihrer Erlösung, sondern zur Erlösung der Massen“

Von Daniel Polzin, 13.Januar 2017

Teil II der Schrift folgt morgen.


Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur

Kommentar verfassen