Literaturkritik: „Der große Gatsby“ oder Ein Blick hinter die Kulissen

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Nick Carraway befindet sich in der vermutlich besten Zeit seines Lebens. Mit Ende Zwanzig hat er den Militärdienst im ersten Weltkrieg hinter sich gebracht und beschließt wenige Jahre später, dem vertrauten Umfeld seiner gutsituierten Familie im amerikanischen Mittelwesten den Rücken zuzukehren. Dem früher oder später bei jedem jungen Menschen aufkeimenden Drang nach Abenteuern, dem immer stärker werdenden Bedürfnis, ein eigenes Leben abseits der bekannten Ordnung aufzubauen, nachgebend, zieht es Nick in die vielleicht aufregendste Metropole der damaligen Welt – New York. Die Schilderungen seiner dortigen Erlebnisse werden in dem immer wieder zum Schmunzeln gezwungenen Leser der heutigen Zeit eine bisweilen bizarre Mischung aus Faszination, Abscheu und Verwunderung auslösen. Mit jeder umgeblätterten Seite, jedem von größeren inhaltlichen Brüchen verschonten Kapitelwechsel, wird allerdings nachvollziehbarer, woher die Gruppe junger Schriftsteller, zu der auch der Autor des vorliegenden Werkes zählt, ihre historische Bezeichnung bekommen hat – die „verlorene Generation“.

Es gibt Bücher, deren Verdienst vor allem darin besteht, das Lebensgefühl einer ganz bestimmten Epoche wiederzugeben und den Leser in diese eigenartige Stimmung zu versetzen, dass er selber anfängt, sich sein Leben in genau dieser Zeit vorzustellen. Natürlich ist ein solches Werk immer auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung fokussiert. Was Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“ für die einfachen Leute zur Zeit der „Großen Depression“ oder Jack Kerouacs „Unterwegs“ für die rastlose Jugend der Nachkriegszeit war, das ist Scott F. Fitzgeralds „Der große Gatsby“ für die jungen, bürgerlichen Intellektuellen in den Wirren des Amerikas der „goldenen Zwanziger“. Es ist dieser, auch in vielen von Hemingways Werken thematisierte Zwiespalt zwischen dem Genuss, ja sogar der Faszination für einen ausschweifenden, auf materiellem Luxus basierenden Lebensstil und der Verbitterung über die immer offensichtlicher werdende, aber scheinbar ausweglose Banalität eines solchen Lebens. Auf amüsante Weise deutlich wird letzteres im vorliegenden Roman allein schon dadurch, dass Nick Carraway die Geschehnisse zwar ehrlich, aber alles andere als enthusiastisch wiedergibt und bisweilen geradezu wirkt, als würde er die Geschichte eher widerwillig erzählen. Angesichts des geradezu absurden Ausmaßes an Verlogenheit, Heuchelei oder auf pseudowissenschaftlichem Rassismus gestützter Überheblichkeit, dem Nick in der Upper Class New Yorks begegnet, ist dies allerdings durchaus verständlich. Doch so oberflächlich und teilweise gar abstoßend jene von den wirklichen Problemen der arbeitenden Bevölkerung abgehobene Welt auch sein mag, gleicht sie trotzdem einem Kunstwerk, in dem vielleicht nichts echt oder ehrlich ist, aber gerade der Schein eine blendende, von Neugier geleitete Anziehungskraft auszuüben vermag.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen, welche Fitzgerald letztlich in den Mittelpunkt der Handlung stellt, werden in dieser Welt angesichts der Belanglosigkeit des alltäglichen Lebens zu einer Art aufregendem Spiel, dessen Ziel einzig darin zu bestehen scheint, die Gier nach Ablenkung zu stillen. Es ist naheliegend, dass dies umso besser erreicht werden kann, desto weniger der Geist an moralische Prinzipien wie Treue oder Ehrlichkeit gekettet ist.

Aber sind es allein die subtile, häufig wohl unbewusste Gesellschaftskritik Fitzgeralds, sowie die in ihrer absurden Sinn- und Zusammenhanglosigkeit bisweilen einen herrlichen Humor entfaltenden Gespräche, aus dem sich die Lesenswürdigkeit des Buches speist?

Bis zum Ende des ersten Drittels macht die wenig komplexe, zum schnellen Umblättern verleitende Geschichte tatsächlich einen solchen Eindruck, doch dann errichtet der Autor mit der Einführung eines neuen Charakters jenen Spannungsbogen, an dessen Ende den Leser noch ein durchaus überraschendes Finale erwartet: Jay Gatsby.

Ist dieser Mann, auf dessen fulminanten Parties sich ein aufgesetzt-mondänes Großbürgertum die frivole Inhaltslosigkeit ihrer Scheinwelt mit Champagner schön zu trinken versucht, die Verkörperung jener Welt der Ausschweifung, des großen Geldes? Oder ist dieser mysteriöse Charakter am Ende doch einer der wenigen durch echte Gefühle geleiteten Menschen; ein ehrliches Schaf, nur verkleidet im Wolfspelz der Dekadenz? Dies soll an dieser Stelle freilich nicht verraten werden, verdankt das Buch jenem Handlungsstrang doch nicht nur seinen Titel, sondern auch eine unentbehrliche inhaltliche Würze.

Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob die große Berühmtheit, welche das Werk Jahre nach seiner Veröffentlichung erlangen sollte, gerechtfertigt ist. Vor allem, dass Fitzgerald, bzw. sein Hauptcharakter Nick Carraway, über weite Strecken den Eindruck erweckt, als würde er das Leben in der luxuriösen, von harter Arbeit sicher abgeschotteten Parallelwelt der Oberschicht letztlich mehr genießen als kritisieren, nährt berechtigte Zweifel hieran. Im Grunde ist es erst das heutige Wissen um das genauso unvermeidliche wie jähe Ende der damals ewig geglaubten „goldenen Zwanziger“ mit dem Börsencrash im Jahre 1929, welches die kritische Interpretation des Stoffes in den Vordergrund rücken lässt.

Im Gegensatz zu der oftmals resignierenden Aussage am Ende von Hemingways frühen Werken, versucht sich der Autor in diesem Fall sogar noch daran, eine Alternative zu der Oberflächlichkeit der modernen Konsumgesellschaft anzudeuten, doch kommt er hierbei leider nicht über romantisch-verklärende Idealvorstellungen eines Kleinbürgers hinaus. So wird der Leser mit der Frage, was dem Leben eines jungen Menschen aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Zeiten relativer Stabilität des Kapitalismus einen Sinn einzuhauchen vermag, am Ende wieder allein gelassen. Aber solange unser Gesellschaftssystem fortfährt dem durchschnittlichen Menschen die Erlangung und Auslebung materiellen Reichtums als sinnvolles Ziel im Leben erscheinen zu lassen, stellt Fitzgeralds „großer Gatsby“ zumindest einen lehrreichen Blick hinter die Fassade dieses für die meisten unerreichbaren Traumes dar.

Von Daniel Polzin, 18.Sep’16

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