Literaturkritik: „Der erste Mensch“ oder die Geschichtslosen

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41y9tnwRo9LIn dem Grund aller durch Kunst vermittelter Imagination liegt die Wahrheit eines Subjektes, so wie es die Welt betrachtet – ein subjektives Weltbild. Je schärfer, bestimmter, kontrastvoller das Bild im Geiste sich abzuzeichnen vermag, desto präziser ist der Fokus, der sich in das Denken des Schöpfers versenkt. Dringt man in diese Stürme ein, ins Epizentrum des Schaffenden, so verdichtet sich der Blick auf die Welt in eine unermessliche Mehrdimensionalität. Man beginnt Wahrheiten Anderer zu erblicken. Man erkennt die Lügen des eigenen Laufs. Man sieht durch die Augen eines Anderen sich selbst.

Der erste Mensch, so wie er sich mit Mühe und Not, aber auch mit geweckter, feinfühliger Intelligenz zu schaffen versucht, öffnet dem Leser bereitwillig und ohne Scheu jene Schleusen, die ins Denken des Albert Camus führen. Dieses Buch ist die literarische Aufarbeitung seiner Kindheit – seines Werdens. Auffällig ist, wenn man von Camus bereits mehr gelesen hat, dass der Stil weniger nüchtern und schlicht gehalten wurde, was normalerweise für Camus charakteristisch zu sein scheint. Er schreibt emotional, hält die Zeit an, beschreibt sehr aufmerksam Situationen und Orte und lässt die Zeit abermals fortfahren, um den Wandel zu begleiten, der von einem Lebenslauf ausgeht. Die Sätze sind ungewöhnlich lang und erzählerisch, sie sind plastisch. Der Inhalt ist aber auch sehr intim. Im Grunde genommen ist der Stil poetisch, ohne erhebend zu sein.

Das Buch enthüllt eine vergessene Welt, die in Armut getränkt ist und von der Geschichte abgestoßen wurde, eine Welt, jenseits der minuziös dokumentierten europäischen Welt. „Das Mittelmeer trennte in mir zwei Welten, die eine, wo auf abgemessenen Flächen Erinnerungen und Namen konserviert waren, die andere, wo der Sandwind die Spuren der Menschen auf weiten Flächen auslöschte.“ Diese Menschen, die am anderen Ufer des Mittelmeeres leben und sich abmühen, die nach Besserem trachten, dieser Tage nichts unterlassen, um ans europäische Festland zu gelangen, um ein Teil des Wohlstandes der Nutznießer konsumieren zu können, für die sie, ausgebeutet und von der nackten Existenz gepeinigt, Reichtümer produzieren, diese Menschen, ohne Biografie und ohne Wurzeln, sind Geschichtslose. Wenn die Vergangenheit nicht die Gegenwart zu definieren vermag, da nonexistent, dann schreibt die Gegenwart ihre eigene Vergangenheit auf ein leeres Stück Papier. Sie tut dies ohne Feder. Sie beginnt beim Nullpunkt und schreibt mit der Tat. Der erste Mensch, von dem das Buch erzählt, ist Camus selbst. Das ist kein Geheimnis. Und all die Entwurzelten, die Waisen, die nichts haben und nichts sind außer Fleisch und Blut, da ihnen Tradition und Überlieferungen im Konkreten fremd und im Allgemeinen zu abstrakt sind, haben gemein, dass sie in der Wiege einer Tabula rasa in die Welt geworfen werden, um sich zum Menschen zu machen. So werden sie immer wieder aufs Neue als erster Mensch geboren. Sie sind alle erste Menschen, da sie nicht in historischen Vorurteilen verfangen sind. Sie sind nicht befangen. Dieses Buch ist ein Plädoyer für sie und ihr Recht auf Würde, ohne das sich Camus mit ihnen zu solidarisieren braucht, da er selbst in ihrer Mitte steht. Insofern ist es auch das literarische Vermächtnis des Camus über seine Arbeit.[1]

Ein berühmter Denker seiner Zeit und späterer Kontrahent, Jean-Paul Sartre, bezeichnete Camus als den „Gassenjungen von Algier“. Der Kontext ist bekannt und der leichte Spott, der damit einher abklingt, ist nicht zu überhören. Wie man es auch bewerten mag, Camus ist bemüht, seine Kunst dergestalt auszurichten, dass sie von und durch Menschen lebt. Und sein Denken sucht die Konfrontation mit dem Menschen – unablässig, unnachgiebig, permanent. Das macht ihn zum Existentialisten. Dahingehend ist Sartres Bezeichnung nicht unzutreffend, denn das Leben der einfachen Leute spielt sich in den dunklen Gassen einer Stadt, einer Gemeinde ab.

Von Mesut Bayraktar, 24. Mai 2015

[1] Das Manuskript wurde an der Unfallstelle in seinem Auto gefunden, wo er 1960 starb.

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