Grenzgänger

 „Merkwürdig: Wovor fürchten die Menschen sich am meisten?
 Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritt,
  vor einem eigenen neuen Wort.“
Fjodor M. Dostojewski

Läuft man stets nur in eine Richtung, lediglich nach vorne blickend, eine vermeintlich gerade Linie hinter sich herziehend, so gelangt man letzten Endes wieder zum Anfang seines Weges, es ergibt sich also immer ein Kreis daraus, ein Raum, der sich teilt und getrennt voneinander kein Ganzes mehr ergibt.
Er lief eben solch einer Linie entlang mit einer doppelläufigen Flinte auf seiner Schulter liegend durch die nächtliche Undurchsichtigkeit des Waldes. Das Gesicht des Grenzgängers war entspannt und ein stummes Grinsen zierte seine Züge. Er kannte und liebte diese Wälder. Jeder Busch, jede Buche und Fichte, jedes Gras und jede Pflanze, sie alle waren ihm vertraut, sie alle waren ihm Freunde und Bekannte. Doch das war nicht immer so, anfangs fürchtet er sich vor der Dunkelheit und jeder Schritt durch die, wie ihm schien, willkürlich gewachsene Natur war mit einer tief in der Magengrube verankerten Furcht verbunden. Es konnte sich ja alles in der Dunkelheit verbergen und dieses Alles nahm in den ersten Zeiten durch seine Phantasie immer größere und schrecklichere Formen an. Knacken und Surren, schnelle leichte Schritte, unbeholfene dumpfe Schritte, zügiges Tappen, Knurren und Pfeifen, die Sprache der Natur. Es dauerte, aber mit der Zeit lernte er sie zu sprechen und die Furcht verflog, mehr noch zu seiner Überraschung setzte wie geschildert das Gegenteil ein, eine Liebe und ein Verständnis erwuchs aus der Angst, die sein ganzes Leben bestimmte. Der Wald wurde seine Heimat.

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Heute war er besonders zufrieden, denn sein Magen war gefüllt mit einer dicken Forelle, die der Wald ihm am Mittag bescherte. Ein so fetter und saftiger Fisch hatte schon lange nicht mehr angebissen. Sein Bauch war dermaßen voll nach dieser festlichen Mahlzeit, die auch gut und gerne seine Letzte hätte sein können, so köstlich war sie, dass er zur Folge einen Verdauungsschlaf benötigte, um den nächtlichen Routinegang bewältigen zu können. Aus dem Nickerchen wurde ein ungewollt langer Schlaf und so kam es zu einer außer planmäßigen Verspätung. Es war bereits Nacht als er erwachte. Hastig schnappte der Grenzgänger sich sein Gewehr um dann die langjährig einstudierte Route abzulaufen. Schon nach einigen Metern war sein Unmut aufgrund der Vernachlässigung seiner Pflichten vom angenehm warmen Wind hinfort getragen worden. Zufrieden lauschte er den Worten der Natur.

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Die Kunst, die Sprache des Waldes zu verstehen und zu sprechen, ließ sich nicht durch Anhäufung von Wissen erlangen, es brauchte praktische Erfahrung, direkten Kontakt und besonders bedurfte es Bereitschaft. Letzteres fehlte dem Grenzgänger zu Beginn, doch die Pflicht erbrachte, was er selber nicht aufzubringen vermochte. Er musste hier sein, das war seine Aufgabe, seine Berufung, die Sicherheit des Dorfs lag allein auf seinen Schultern. Aber so bedeutend er sich selber seine Tätigkeit gerne ins Gewissen rief, so unbedeutend wirkte sie bei Betrachtung der Vergangenheit. In all den Jahren seines Dienstes sah er auch nie nur eine Menschenseele, keine Eindringlinge, keine Räuber, Niemanden.
Doch dann, ein Pfeifen, ein fremdes Pfeifen!
Es gehörte nicht zu seinem Wald, kein Vogel pfiff so. Ein Mensch, es musste ein Mensch sein. Erregt suchte er sich eilig Schutz hinter dem mächtigen Stamm eines Baumes und lauschte dem melodischen Pfeifen. Langsam wurde es lauter und auch Schritte ließen sich vernehmen. Schon nach kurzem Horchen war er überzeugt davon, dass, wer auch immer dort durch seinen Wald lief, er allein war, genauso wie der Grenzgänger selbst auch. Sein Herz fing an heftige Sprünge in seiner Brust zu vollziehen, die lang vergessene Furcht kehrte zurück und stieg ihm bis in die Knochen. Was tun? Angreifen? Nein, das wäre übereilt. Vielleicht, ja vielleicht hatte sich ja auch nur ein Dörfler im Wald verirrt. Nach kurzem Zögern und einem Wirbelsturm an Gedanken, umschloss er seine Doppelläufige fest mit den Händen und schrie laut: „Hallo! Wer ist da? Zeige dich! Sofort!“

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Manchmal, da zweifelte er insgeheim an seiner Tätigkeit als Grenzgänger. Warum hier draußen seine Zeit verbringen? Warum überhaupt Grenzen ziehen? Er wusste nicht viel von der Welt außerhalb des Dorfes, es gab alte Geschichten von den unbekannten Terrains rund ums Dorf, sie erzählten von fremden Völkern und Kulturen, die unsittlichen Bräuchen und Traditionen folgten. Und um frei von solchen barbarischen Riten zu bleiben, hat man sich abgeschottet und diese Grenze gezogen. Einen großen Kreis, den der Grenzgänger nun Tag für Tag, Nacht um Nacht patrouillierte, um bloß jeden Fremden vom Dorf fernzuhalten. Manchmal spielte er mit dem Gedanken sich selber ein Bild von diesen unerforschten Bereichen zu machen, aber immer bevor er sich entschloss den ersten Schritt zu wagen, hielt ihn eine innere Stimme zurück und er besann sich auf die Schönheit und Harmonie seiner Heimat. Wozu fortgehen? Hier ist alles, was ich zum Leben brauche.
Pfeifend bahnte er sich seinen Weg durch den Wald. Als dann ein lauter Schrei ertönte. Es war eine tiefe Stimme und die Worte, die sie sprach, konnte er nicht verstehen. Sofort legte er sich auf den Boden, unbeholfen packte er sein Gewehr und hielt es in die Leere. Niemand war zu sehen. Schweißperlen bildeten sich auf seinem Gesicht und seine ganze Umgebung schien ihn mit großen dunklen Augen zu beobachten. Wieder ein Ruf! Um Himmelswillen! Da ist jemand! Ein Eindringling, ein Fremder? „Wer ist da? Wer schreit da? Was willst du in meinem Wald?

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„Ich wiederhole mich nur noch einmal, zeige dich oder ich werde schießen“, er konnte den Unbekannten nun lokalisieren. Er hatte sich wohl nach seiner ersten Aufforderung auf den Boden gelegt. Kein gutes Zeichen, dachte er. Er konnte lediglich eine Silhouette erkennen, den Umriss einer, wie er meinte, fremden und gefährlichen Kreatur. Auch wenn seine Stimme entschlossen beim Ausruf klang, zitterten seine Hände wie wild. Vorsichtig spähte er am Stamm entlang. Er blickte dem Eindringling nun direkt an und einen Moment lang schien es ihm, als ob ihn zwei rote düstere Augen anfunkeln und fixieren würden. Beklommen versteckte er seinen Kopf wieder hinter dem schützenden Baum seines Waldes. Während er in seiner Anspannung noch abwägte, was zu tun sei, antwortete die teuflische auf dem Boden kauernde Silhouette in einer fremden Sprache. Sie klang hart und befehlend, ganz anders als das vertraute Schwingen seiner Worte. Jetzt stand es fest, er war ein Eindringling. Vorsichtig robbte er an den nächst gelegenen Baum, es war so, als würde der ganze Wald nun Schweigen, jedes Geräusch, das seine Bewegungen begleitete und sonst im Rascheln der Natur unterging, war jetzt laut und verräterisch. Dennoch gelang es ihm unbemerkt der fremden Bestie näher zu kommen. Ich muss ihn erschießen, zum Wohle des Dorfes! Angestrengt zielte er mit der Doppelläufigen auf den Fremden…

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Und nun? Was soll ich nur tun? Schrecken machte sich in seinen Eingeweiden breit. Der Grenzgänger fror am ganzen Leib und der kalte Stahl lag schwer in seinen Händen. Fieberhaft schaute er sich um, überall bewegte sich etwas in der Dunkelheit des Waldes. Fremdes und Vertrautes verschwammen und vor seinem geistigen Auge lag er brach im Angesicht einer alles verschlingenden Bedrohung. Ich will nicht sterben! Ich muss was tun! Ich muss, ich muss! Plötzlich sprang er auf und rannte unwissend seinem Gegenüber entgegen. Dann, ein lauter Knall, ein Schuss….

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Verdammt! Daneben! Es war zu spät. Zum Nachladen sollte er nicht mehr kommen, denn kaum hat er seinen Schuss abgegeben, erblickte ihn der Fremde. Er stand beinahe vor ihm, sein Gesicht hat etwas Grausames und die rotglühenden Augen brannten sich in ihn hinein. Es hämmerte ein weiterer Schuss und der Grenzgänger fiel auf seinen heimisch geglaubten Boden, zugedeckt von seinem eigenen Blut, zur ewigen Ruhe.

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Der Schuss verfehlte ihn nur knapp. Ohne zu denken oder zu verstehen, was geschehen war, sah er den Fremden, der plötzlich direkt neben ihm stand. Er hielt eine lange doppelläufige Flinte in der Hand. Ein Dämon! Und einem Automatismus gleich, betätigte er den Abzug seines Gewehres und traf den Eindringling mitten in der Brust. Sein Körper klappte zusammen und prahlte dumpf auf den Boden auf. Getroffen, ich habe getroffen! Er näherte sich dem Sterbenden und schaute ihn genau an. Er röchelte noch und spuckte etwas Blut. Beim Anblick des Sterbenden empfand der Grenzgänger kein Mitgefühl, sondern lediglich Freude, Freude darüber noch am Leben zu sein und den Kampf gegen das Unbekannte gewonnen zu haben. Er musste zurück ins Dorf, zurück zu den Seinigen und ihnen vor der aufkommenden Gefahr der Fremdlinge warnen.

Unbenannt

Von Kamil Tybel

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