Die Psyche des D. II

< „Wer gegen Armut kämpft,
bekämpft Reichtum.
Wer gegen Reichtum kämpft,
bekämpft Armut.
Wer gegen Armut und gegen Reichtum kämpft,
kämpft für Gerechtigkeit.
Wer für Gerechtigkeit kämpft,
hasst die privilegierte Freiheit, weil er liebt.
Wer für Reichtum kämpft,
kämpft für Armut.
Wer für Armut kämpft,
kämpft für Reichtum.
Wer für Armut und für Reichtum kämpft,
kämpft für Unterdrückung.
Wer für Unterdrückung kämpft,
liebt die privilegierte Freiheit, weil er hasst.“ 

Die Zeilen gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich … ich weiß nicht, woher ich sie habe, sie sind nichts Großes und schon gar nicht poetisch, doch ich frage mich: Wofür kämpfe ich … >

D. nahm sich den Gesichtsschutz ab und wischte sich die Stirn frei. Er war in der Gießerei. Die Luft war aufgedunsen und erhitzt. Sie war verbraucht. Die Sauerstoffmoleküle blähten sich auf und platzten wie Luftblasen auf der Oberfläche von Öl. Sie entwichen den überall in der Halle umherströmenden, brennenden Metallen, die klirrten und peitschten. Sie zerrissen die Reinheit der Luft. Die Metallpartikel belagerten die Atemwege und bequemten sich ihrer, bis sie sich in den Lungenflügeln festsetzen konnten. Schweiß quoll wie Eiter aus jeder Hautpore und benetzte unter der Schutzkleidung den ganzen Körper des D. und, sobald die verflüssigte Mühsal durch die Flammenhitze im Stahlwerk getrocknet war, verklebte der Schweiß gelatineartig auf Haut und Haar. D. fühlte sich wie ein Wurm, der auf den Boden gespuckt wurde und sich seinen Weg durch dürre, trockene Erde schaufelte.
D. hatte das vorerst letzte Werkstück gegossen. Er entschuldigte sich beim Vorgesetzten und ging in den Hof, um eine Zigarette zu rauchen. Sobald er draußen war, zog er seine zerfransten, schwarzgetrunkenen Arbeitshandschuhe aus, legte sie auf übereinander gestapelte Industriepaletten und griff mit seinen müden, zerfurchten Händen in die Hosentasche. Einem Rotkehlchen lauschend, das einen Augenblick auf dem Ast eines im Hof stehenden, unfruchtbaren Baumes Ausschau hielt und jäh von dannen flog, drehte er eine Zigarette mit seinen fleischigen und dreckigen Fingern. Er setzte sich die Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und zog tief ein. Er zog so tief, bis der vaporisierte Tabak sich wie glühende Asche einen Weg in den Blutkreislauf bahnte, seine in Venen und Arterien zirkulierenden, purpurroten Blutkörperchen umschloss, um schließlich vermittels ihrer Wanderung sein rastlos-pumpendes, sterbliches Herz zu durchdringen.

< Jeder kämpft. Doch man kämpft nicht, um zu kämpfen. Das wäre Schwachsinn. Man kämpft für etwas, für irgendetwas, in dem man sich findet und begegnet und in dem man sich erfüllt, weil man nützlich ist. Auch der kleine Vogel kämpft für etwas. Er kämpft gegen seinen Hunger; jeden Tag. Und vielleicht hat er Kinder, Küken, die im Nest nach Futter schreien, die gefüttert werden wollen, weil sie noch zu schwach zum Kämpfen sind. Der Vogel tut, was er tun muss … Ich kämpfe, ja, um meinen Hunger zu stillen. Wirklich? Ich arbeite, also kämpfe ich. Ich arbeite schichtweise, also kämpfe ich schichtweise … früh, spät und nachts … den Rest der Zeit muss ich ruhen … Ich arbeite für einen Lohn, also kämpfe ich für einen Lohn, mit dem ich meinen Hunger stillen kann … Ich tue, was ich tun muss – für einen Lohn! Das sagt die Gewerkschaft ständig: man arbeitet für einen Lohn! Verdammt, für einen Lohn kämpfen, das ist doch so absurd, wie es klingt. Wie kann man für einen abspeisenden Lohn kämpfen, der nie genügen kann? Warum muss man für Lohn kämpfen, der nie der schöpferischen Kraft der Arbeit entspricht? Warum Lohn für Produktion und nicht Produkt für Produktion? Was ist der Lohn überhaupt? Paar lausige Scheine? Dazu schweigt die Gewerkschaft. Sie sagt: arbeite und verdiene. Aber Grundsätzliches lässt sie nicht zu! Arbeite und verdiene, Tss … Arbeiten ist kämpfen, gut; aber für einen Lohn? Nein, das ist doch absurd. Das ist doch einfach absurd … da muss doch mehr sein! Dieser Gedanke reißt mich wie ein weißes, leeres Papier entzwei, knüllt beide Teile zusammen und verbrennt den einen Teil mit einem Feuerzeug und wirft den anderen Teil in einen überfüllten Papierkorb. Ich will arbeiten. Ich arbeite seit meinem vierzehnten Lebensjahr. Ich tue, was ich tun muss. Das habe ich gelernt. Doch was, was würde sein, wenn ich nicht muss? Wenn ich nicht für den Lohn arbeiten muss? Wenn ich für etwas Wirkliches arbeite, für etwas Konkretes? Wenn ich in der Produktion der Arbeit mich selbst produziere? Warum muss ich überhaupt? Ich muss nichts; Heißt es nicht, man muss nichts? Das ist eine Lüge. Man muss immer, weil man unfrei ist, weil man genötigt wird, zu müssen, weil man gezwungen wird, zu müssen, weil man in einer Lage ist, gegen die man sich nur durch das Müssen wehren kann, damit dieselbe Lage sich intensiviert und man am Ende noch mehr Muss. Die Frage ist lächerlich, aber: Geht es überhaupt darum, dass man nicht mehr muss? Das ist eine Frage, die die Lage infrage stellt, eine Frage nach der Freiheit … doch, wo denke ich hin, das geht über meine Verhältnisse hinaus, nicht wahr … ich bin Gießer und stelle Fragen, die ein Student oder irgend so ein Aufschneider stellt … Nein, man will, dass man muss, weil die Menschen die verstummte Stille, in der sie vereinsamen würden, nicht ertragen könnten, wenn sie nicht mehr müssten. Traut man ihnen denn mehr zu, als sich nur zu verkaufen, weil sie müssen?

Wenn ich arbeite, um zu leben und lebe, um zu arbeiten … was dann? Ach, totes Leben, schmieriges Leben, zerfahrenes Leben, das Leben … ein freier Fall, bei dem man Angst vorm Aufprall hat, obwohl es einen Boden, auf dem man aufprallen könnte, nicht gibt. Man stellt ihn sich vor. Der eigentliche Fall ist die unvermittelt hereingebrochene Ohnmacht … man spürt nichts … man löst sich auf … Knack: Genickbruch! Man will aufsteigen, wie ein Heliumballon, oder schweben, wie eine Wolke, statt zu fliegen, wie ein Zugvogel. Die Angst ist unbegründet. Es gibt nur eine Angst: Angst zu vereinsamen … Das Leben, so kompliziert ist es nicht; Es ist eine trübe, seichte, bodenlose Pfütze, vollkommen verdreckt und verklumpt. Man legt seine Hand hinein und es passiert nichts. Die Hand bleibt dieselbe Hand, sie wird nur etwas dreckig und mit der Zeit schwächlich. Und irgendwann, in einem bestimmten Augenblick, springt eine fette Giftschlange aus der Pfütze, schnappt zu und reißt einen in das abgründige Schweigen des finsteren, ölspurigen Wassers. Ist das etwa leben? Das ist atmen, um zu atmen. Das ist essen, um zu essen. Das ist funktionieren, um zu funktionieren. Das ist arbeiten, um zu arbeiten. Und der ganze Kreislauf endet, wenn die Organe verbraucht sind. Das ist ausleeren, was man in sich hat, ausleeren um der Leere willen, wie eine geistlose Maschine, die irgendwann auf dem Schrotplatz landet. Auf so ein lächerliches Leben, wer auch immer sie aufbürdet, pfeife ich!
Wofür kämpfe ich? Ehrlich gesagt … ich weiß es nicht. Ich arbeite, weil ich es nicht anders kenne. Ich produziere für einen Lohn. Und wieder: der Lohn! Ist der Lohn mein Leben? Was auch immer er ist, für mich ist er die abstrakte Realität meines Lebens, denn das Konkrete ist die Arbeit. Ich verstehe nur das Konkrete … Am Ende tue ich das, was ich tun muss. Und bilde mir vielleicht ein, dass ich kämpfe…
Warum muss man überhaupt kämpfen? Gehören zum Kampf nicht wenigstens zwei? Gut, gegen wen kämpfe ich dann? Wer ist mein Gegner? Jeder! Ich kämpfe gegen alle! Und dabei hat das nichts mit meinem Willen zu tun. Der eigene Wille spielt keine Rolle, wenn ein anderer Wille ihn herausfordert. Es hat etwas mit meinem Lohn zu tun; dessen bin ich mir sicher. Warum müssen alle gegeneinander kämpfen, wo alle miteinander kämpfen könnten – gemeinsam gegen den gemeinsamen Hunger kämpfen; gemeinsam kämpfen, nicht für einen tröstlichen, erworbenen Lohn, sondern für einen gemeinsamen Lohn; gemeinsam kämpfen für einen gemeinsamen Lohn, der das gemeinsame Leben ist, der Lie… ach, so ein Schwachsinn! So ein Schwachsinn!! Ich sollte aufhören ins Theater zu gehen. Ich bin Arbeiter und gehöre verdammt nochmal in das stinkende Loch einer Betriebshalle, in der das Getöse der Maschinen sich auf meine Ohren legt, damit ich nichts höre, nichts spüre und nichts empfinde – wie eine hässliche Ratte in ihrem Laufrad, aber in einem solchen Laufrad, das sich von selbst bewegt, damit die Ratte läuft, und nicht umgekehrt. So einer bin ich, eine Ratte, die nicht berechtigt ist, Fragen zu stellen, auf die man mir keine Antworten geben will, sondern mich pädagogisch mit den Worten abwinkt: schweig‘ und laufe, du hast ein begrenztes Rederecht, du Ratte! … arbeite und verdiene…
Wenn man horchen könnte, was ich denke, würde man mich entweder auslachen oder ausgrenzen. Beides kommt auf dasselbe hinaus: Beides ist Einsamkeit. Und selbst wenn man meine Gedanken nicht hört, so denkt man immer allein. Auch das ist Einsamkeit. Am Ende stirbt man immer allein, nicht wahr … >

D. schloss die Augen und erhaschte ein in seiner inneren Betrachtung verhaftetes, weit in seiner Kinderzeit entstandenes, verschwommenes Bild von einem milchweißen Schmetterling, der auf einem Blütenkelch seine schwarz gepunkteten Flügel geruhsam auf und ab spreizte. Er öffnete seine Augen und stieß den Rauch der Zigarette mit einem ernsten Gesicht, das die Melancholie in seinen Augen zu unterdrücken versuchte, aus.

< … dort am Ende wartet die zunächst verwesende und dann die ewig sich auflösende Unempfindlichkeit der unendlichen Finsternis … der Tod, vor dessen Angst wir uns Gott schufen, den Boden für den Aufprall, den größten Betrüger der Weltgeschichte, der uns die unendliche Finsternis als unendliches Paradies vorgaukelt, damit wir uns nicht ans Leben klammern – ans Leben! –, sondern damit wir atmen, um zu atmen, weil wir beten sollen oder damit wir atmen, um zu atmen, weil wir die gleichmütige Schönheit der Natur bewundern sollen, kurz, damit wir vegetieren sollen. Aber nach dem Tod kommt nichts; doch bis zum Ende, bis zum Tod, muss man nicht alleine sein … man muss nicht vegetieren, denn man hat ja die Menschen … die Lebewesen, deren Augen nicht Schweigen können, wenn man in sie hineinblickt, und die fortwährend weinen, ohne Tränen abzulassen oder lachen, um die Tränen zu verbergen, die aus ihren Augen schießen; die einzigen Lebewesen, die den Ausdruck ihrer Augen nicht zu verbergen fähig sind … doch auch die meisten Menschen leben heute nur für sich; entweder alleine und einsam mit sich beschäftigt oder alleine und einsam mit ihrem Gott. Kommt auf dasselbe hinaus … sie machen sich was vor, um ihre Einsamkeit zu vergessen. Sie tun stark, obwohl sie für sich betrachtet ausnahmslos alle schwach sind. Sie haben Angst einsam zu sein. Sie werden so erzogen. Man kann ihnen nur verübeln, dass sie diese Art Erziehung gleichgültig dulden.
Gleich gehe ich zurück in meine; nein, in die Gießerei. Ich lausche dem gewalttätigen Rausch der Metalle, die ich forme, um sie nützlich zu machen. Weil ich für sie nützlich bin, bekomme ich einen Lohn. Ich forme den Stoff, damit der Stoff andere Stoffe formt. Bin ich ein Metall? Hart, roh, zäh, stumm. Verdammt, ich bin es. Ich muss … ich bin ein Metall. Ich muss ein Metall sein. Gibt man mir eine Wahl?
Nachts beobachte ich gerne die Sterne, ja die Sterne und vergewissere mich. Sie funkeln – dabei sind die meisten der leuchtenden Sterne längst tot; habe ich irgendwo aufgeschnappt. Sie sind tote Felsbrocken, und haben keinerlei Magie. Sie bohren sich in das Schwarze der Nacht, um die Nacht und das Universum zu tragen. Sie drehen sich ins Gewindeloch und hören nicht auf, sich zu drehen. Manchmal knacken sie und manchmal brechen sie das Gewindeloch auf oder manchmal reibt das Gewinde derart ab, dass sie sich weiterdrehen, ohne sich zu verzahnen und dann glätten sie sich vollends ab, wie eine Schraube. Doch ich höre immer den kreischenden Schleiß, wenn sie sich ins Schwarze kratzen. Sie halten mich wach … Viele sehen im Universum die höchste Herrlichkeit der ewig-obwaltenden Harmonie, das unendliche Weltgesetz, die ewige Ordnung, den ewigen Tanz zu einer ewigen Musik; ich dagegen sehe in seiner unendlichen, tiefen, schwarzen, leeren, gleichgültigen Masse das stumme und kalte Angesicht der bittersten Verzweiflung; die Ur-quelle aller Einsamkeit. Ist die Würde des Menschen die Verzweiflung, durch die seine Freiheit beginnt?
Wenn ich die Sterne beobachte, beginnt sich mir ins Herz etwas einzubohren und lässt mich ausbluten. In mein komplettes Inneres strömt das Schwarze der Nacht hinein, bis ich mich selbst als bohrender Stern wiederentdecke, der noch leuchtet oder der schon Tod ist und noch leuchtet, aber der irgendeine unerträgliche Last, so schwer wie das Universum selbst, trägt >

 D. drückte die Zigarette – vorschriftsmäßig – im Aschenbecher aus. Als er nach seinen Arbeitshandschuhen griff, sah er abermals ein Rotkehlchen. Dieses stand drei, vier Schritte entfernt von ihm. D. war überrascht, da er das Rotkehlchen nicht erwartet hatte und gedankenversunken war. Er hatte für einen Augenblick das unbehagliche, schauderhafte Gefühl, beobachtet worden zu sein. Doch dann schüttelte er den Kopf, öffnete die Tür zur Gießerei und es erschollen ihm die peitschenden Hiebe entgegen. Ehe er eintrat, wandte er sich noch einmal um und sah, dass das Rotkehlchen, erschrocken wie ein zartes Lebewesen bei der konzentrierten Naturgewalt durch die Physik nun einmal ist, geschwind davon flog. D. zog ab, ging geradewegs zum Arbeitsplatz und setzte sich seinen Gesichtsschutz auf. Die Schicht endete erst in drei Stunden.

Von Mesut Bayraktar

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