Literaturkritik: „Tanz mit dem Schafsmann“ oder Regungslos im Karussell

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Eine typische Murakami-Figur auf Rundreise im magischen Realismus

Ein Mann, der als freier Journalist für Livestyle-Magazine Urlaub nimmt und eine Rundreise macht, ist typisch für Murakamis Romane und zeigt sich in einigen seiner Werke, wie „Mister Aufziehvogel“ oder „Kafka am Strand“: Der Protagonist entzieht sich dem alltäglichen, werktätigen Leben und macht sich auf eine Reise zur Selbstfindung auf. Er geht einen Schritt zur Seite, um auf seine Umgebung und sich selbst in ihr zu blicken. Diese Reise beginnt im „Tanz mit dem Schafsmann“ der Ich-Erzähler mit der Suche nach seiner alten Geliebten Kiki. Er reist zu ihrem letzten Treffpunkt, einem restaurierten Hotel in Hokkaido, dem Norden Japans, wo er sie jedoch nicht auffinden kann. Stattdessen verliebt er sich in die Hotel-Angestellte Yumiyoshi, die sich zögerlich aus dem Druck und der Rolle ihrer Anstellung heraus öffnet. Trotz einer sich anbahnenden Liebesbeziehung mit ihr, sucht er zunächst weiter nach Kiki, um, wie bei einer Rundreise, über Zwischenstationen bei seinem reichen Schauspielerfreund Gotanda und einer ebenfalls reichen Künstlerfamilie am Ende wieder in Hokkaido bei Yumiyoshi zu landen. Dort stellt er ihr gegenüber ungläubig fest: „Du bist nicht verschwunden?“

Murakami, als einer der bekanntesten Vertreter des magischen Realismus (obwohl er im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag mit keiner Silbe erwähnt wird), wandelte in seiner Erzählung mehrfach an der Grenze des Realen und Surrealen, um sie immer wieder miteinander verschmelzen zu lassen. Die Surreale Welt ist die des Schafmannes, einer Figur in einer Traumwelt, in die neben dem Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, nur die Hotel-Angestellte Yumiyoshi eintreten kann. Sie dient als eine Erinnerungswelt des Ich-Erzählers rund um das Hotel und seiner alten Liebe Kiki. Eine Erinnerung, die der Ich-Erzähler Yumiyoshi in der Traumwelt sinnbildlich anvertraut, um gemeinsam aus einer düsteren Erfahrung der Enttäuschung herauszutreten, denn auch Yumiyoshi wurde einst schmerzhaft verlassen. Diese Erfahrung des Verlassen Werdens wird durch Murakami in seinem vorherigen Werk „Wilde Schafsjagd“ (1982), quasi als Vorgeschichte, detaillierter behandelt. Aus der Verarbeitung der Trennung heraus, lernen der Ich-Erzähler und Yumiyoshi allmählich einander zu vertrauen. Murakami bündelt geschickt durch die Verschmelzung von realer Wirklichkeit und magischer Realität die Verständigung des Liebespaares in einer sogenannten dritte Realität des magischen Realismus, was kennzeichnend für diese künstlerische Strömung ist.

Ein neues Babylon kurz vor seinem Fall

Der Roman „Tanz mit dem Schafsmann“ (jap. „Dansu, dansu, dansu“, also zu dt. „Tanz, Tanz, Tanz“) ist 1988 in Japan erschienen und wurde 2002, also erst 14 Jahren danach, in deutscher Übersetzung durch Sabine Mangold im DuMont-Buchverlag veröffentlicht. Die Geschichte findet während dem Ende der 1980er Jahre in Japan statt, dem zwischenzeitlichen Höhepunkt des ökonomischen Wideraufbaus des Inselstaates, der mit dem sogenannten Korea-Boom, also Koreakrieg, seinen fulminanten Startschuss in der Schwerindustrie erfuhr. Japan führte selbst keine imperialistischen Kriege mehr, sondern produzierte nur noch für sie. Auf diesem Fundament und einer neuen, US-diktierten Verfassung, konnte es zudem geopolitisch seine Rolle als zuverlässiges Bollwerk gegen den Kommunismus im Osten einnehmen, bis es Ende der 1980er schließlich die weltweit drittgrößte Ökonomie nach den USA und der Sowjetunion war. Das laute Platzen der Bubble-Economy Japans 1990, dem Sahnehäufchen des Wiederaufbaus, leitete eine Reihe von Insolvenzen in japanischen Bank- und Versicherungshäusern sowie eine neue Ära der ökonomischen Stagnation ein, die bis heute währt.

Murakami schreibt seinen Roman somit kurz vor dem plötzlichen Ende des ökonomischen Höhenflugs Japans, ohne es zu wissen. Dabei legt er seinen Fokus, statt auf Taten, auf den Bewusstseinsstand der Menschen in einem schwindelerregend berauschten Umfeld. Der profitable Anstieg der Produktivkräfte verlangte von den Menschen für den beschleunigten Warenhandel ein schnelleres Leben. Monatlich wachsende Bauprojekte, unersättlicher Massenkonsum und Neukauf statt Reparatur. All das kommt nicht zustande ohne märchenhafte Mengen menschlicher Arbeitskräfte, deren umkämpfte Ausnutzung für sich ein weiteres Kapitel japanischer Geschichte aufschlägt. Denn Arbeitskraft hat seinen Preis, den man heben und vor allem drücken kann. Doch Streiks oder politischen Bewegungen haben in diesem Roman keine Bedeutung, was neben dem Urlaub und der Selbstsuche von Murakamis Hauptfigur grundlegendere Gründe hat.

Die Kapitulation unparteiischer Kritik

Neben der Liebesgeschichte erfährt der Leser vereinzelt kritische Stimmen zur „hochkapitalistischen Gesellschaft“, die sich als Gedankengänge in unlogischen Glaubensbekenntnissen zur Beruhigung des Gewissens verstopfen. Die äußerliche Ruhe und farblose Gleichgültigkeit des Protagonisten sind nur Ausprägungen seiner Überforderung. So in einem Gespräch mit einem ihm fremden Hotelgast beim Frühstück:

„Darauf belehrte ich ihn, dass besagte Verschwendung eine Errungenschaft der hochkapitalistischen Gesellschaft sei. Die Tatsache, dass Japan von den USA Phantomjets kaufe und Unmengen an Treibstoff bei Manövern vergeude, gebe der Weltwirtschaft doch einen zusätzlichen Impuls, wodurch der Kapitalismus wiederum einen höheren Grad erreiche. Würde man der Verschwendung Einhalt gebieten, wäre eine Wirtschaftskrise die Folge, und die globale Ökonomie würde zusammenbrechen. Verschwendung ist der Treibstoff, der Widersprüche erzeugt, und Widersprüche kurbeln die Wirtschaft an, und eine angekurbelte Wirtschaft führt wiederum zu mehr Verschwendung.“

Also gilt es, diese Widersprüche auszuhalten, fehlte es wohl nur noch zu ergänzen. Es werden zudem die Entscheidungshoheit des Monopolkapitals kritisiert, die Prostitution, in der sich der Erzähler in Befriedigung seines ausgeprägten Sexualtriebs sehr wohl fühlt, die künstliche Erzeugung von Bedürfnissen zum Zwecke des Massenkonsums oder die Abkehr vom systematischen Denken. Der Erzähler bleibt stets einem Mann, wie Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gerecht und weiß irgendeine Rechtfertigung anzubieten, um Probleme zu billigen oder kritisch tatenlos hinzunehmen. Dieser Defätismus zieht sich als Lebensphilosophie des Erzählers durch den gesamten Roman hindurch:

„Geduld haben und warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Einfach nur den Fluss der Ereignisse beobachten, ohne gewaltsam einzugreifen. Man sollte sich bemühen, die Dinge gleichmütiger und objektiver zu betrachten. Dann ergibt sich alles von selbst.“

Alles läuft bestens und wenn nicht, dann eben nicht. Es ist ja doch nicht veränderbar, zumindest im gesellschaftlichen Maßstab. Eine Kapitulation, die typisch ist für den Bewusstseinsstand des Individualismus, der Menschen zu egoistischen Einzelgängern erzieht. So bleibt in der Rundreise der Selbstreflexion das Potenzial der Veränderung immer nur ichbezogen und zwar „gleichmütig“, also ohne eigenen materiellen Standpunkt trotz Klassengesellschaft. Dass Murakami als Sinnbild dazu das Tanzen auswählt, lässt vermuten, dass er nur schlechte Tänzer kennt. Oder bejaht er gar diese Philosophie?

Unausgesprochenes ist da, auch ohne ausgesprochen zu werden

Zwar gibt Murakami aufschlussreiche Einblicke in den vermutlich repräsentativen Bewusstseinsstand zahlreicher Japaner kurz vor ihrer historischen Wirtschaftskrise. Dem Maßstab konfrontativer Literatur wird der Roman durch seinen fehlenden Tiefgang jedoch nicht gerecht. Menschliche Praxis bleibt blass gegenüber Meinungsbekundungen, die Gegenüberstellung von nicht Übereinstimmenden bleibt nur angedeutet und unpersönlich. Es gleicht eher einem unentschlossen abwägenden Kopf, vom Einerseits zum Andererseits, beim kühlen Bier, das die Spannung des Mannes ohne Eigenschaften beruhigt. Brecht schreibt in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“:

„Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf?“

Es würde das Werk aufwerten, wenn neben aller Extravaganzen und gesellschaftskritischen Unterhaltungen in ihm, auch der gesellschaftliche Treibstoff hinter den „Unmengen an Treibstoff bei Manövern“ betrachtet werden würde, nämlich die menschliche Arbeit. Sie ist als menschliche Praxis Lebenszeit, die angesichts von Überfluss und Verschwendung zum Erhalt des Industriekapitalismus naturzerstörend vergeudet wird. Zwar zeigt uns Murakami die Menschen übermüdet von ihrer Arbeit, sei es als Angestellte, Fotokünstlerin oder Schauspieler. Doch das wird zusammenhangslos gezeigt und bei der zu Wort kommenden Gesellschaftskritik verschwiegen. Die Kritiken im Roman bleiben somit stets bodenloses Schwatzen.

Murakami hinterlässt hier seinen eigenen Standpunkt, den er im New Yorker ausplauderte: der „American Dream“ funktioniere, auch in Japan. Man müsse nur Mut haben und wollen, an ihn habe auch niemand geglaubt. Er verschweigt oder verkennt die unterdrückende Klassengewalt, die der großen Mehrheit der Menschen einen sozialen Aufstieg verwehrt, doch „Unausgesprochenes ist da, auch ohne ausgesprochen zu werden“.

Von Andrej Bill, 2. Feb ’21
Illustration von Rita Mirosch

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*Alle Zitate aus dem Text finden sich im Buch „Tanz mit dem Schafsmann“, btb-Verlag, München 2003


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