Literaturkritik: “Wo wir stolpern und wo wir fallen” oder Die Frau, die eine andere sein will

Korrupte Verhältnisse in der Politik, reaktionäre religiöse Strukturen und die Sexualität einer gläubigen Muslima – es sind konfliktträchtige, von den Herrschenden tabuisierte Themen, auf denen der Nigerianer Abubakar Adam Ibrahim die Handlung seines Debütromans aufbaut. Ein aufklärender, mutiger Roman, dem aber die Verknüpfung seiner einzelnen Elemente zu einem einheitlichen Ganzen nur phasenweise gelingt.

Die ältere Frau, die dort in ihrem Garten auf der Veranda sitzt, hat an diesem Morgen nichts von der für sie charakteristischen jugendlichen Frische im Gesicht. Sie denkt nach. Direkt neben ihr leuchten die blauen Petunien, die sie noch vor wenigen Augenblicken gegossen hat, in der prallen Morgensonne. Kleine Wassertröpfchen perlen auf der samtenen Haut der Blütenblätter, die Wärme der Sonnenstrahlen in sich aufnehmend, bis ihr Körper der Kraft seiner nach oben strebenden Teilchen nicht mehr standhalten kann. Doch die Frau achtet nicht auf die Wassertropfen und auch nicht auf die Blumen, die sie sonst so gerne hat. Sie denkt an ihren verstorbenen Mann, den sie nicht geliebt hat, an ihren verstorbenen Sohn, den sie nicht lieben durfte und sie denkt an den Mann, den zu lieben, sie sich das Recht genommen hat. Sie fühlt das Gewicht der vielen Erinnerungen, der vielen Gedanken, der vielen Emotionen auf ihrer Brust, wie das zarte Blütenblatt den anfangs so schweren Wassertropfen. Ein kleiner Schmetterling schwirrt in zackigen Fluglinien um die Petunien herum, scheinbar noch unschlüssig, ob er sich auf ihnen niederlassen soll. Auch Hajiya Binta Zubairu wirkt unschlüssig. Aufmerksam beobachtet sie den Schmetterling, während ein Gedanke in ihrem Kopf Gestalt annimmt.

„Allmählich kam der Moment, in dem sie sich entscheiden musste zwischen der Frau, die sie war, und der, die sie sein wollte.“*

Doch welche Frau war sie? Welche Frau will sie stattdessen sein – und was hielt sie bisher davon ab, diese Frau zu sein? Es sind diese Fragen, in welche die Handlung des 2019 vom österreichischen Residenz-Verlag erstmals auf Deutsch veröffentlichten Romans kulminiert. Fragen, deren Beantwortung sowohl den fortschrittlichen Charakter des Werkes offenlegt als auch die Grenzen seiner emanzipatorischen Wirkkraft.

Wer war Binta?

Zu Beginn der Handlung ist Binta eine selbstbewusste Mitfünfzigerin, welche verwitwet mit ihrer Nichte und ihrer Enkelin am Rande von Nigerias Hauptstadt Abuja lebt. Sie ist eine sehr religiöse Frau, die aus tiefer Überzeugung betet, eine Koranschule besucht und andere von der Richtigkeit eines gottesfürchtigen Lebens zu überzeugen sucht. Sie ist eine traditionsbewusste Frau, die weiß, dass bestimmtes Essen nur schmeckt, wenn es über offenem Feuer gekocht wird und die nichts übrig hat für die „Gas- und Elektroherdköchinnen“, die gar nicht mehr wüssten, wie man das macht. Sie ist eine Frau, die sich eine eigene politische Meinung bildet und nicht davor zurückschreckt, diese im Gespräch mit anderen zu verteidigen. Sie ist auch eine stolze Frau, die sich von unzähligen leidvollen Erfahrungen nicht brechen ließ und unbeirrt an das Gute im Menschen glaubt. Das alles ändert aber nichts daran, dass sie ein Mensch ist, der keine wichtige Entscheidung in seinem Leben selbst treffen durfte. Sie durfte sich ihren Ehemann nicht aussuchen, nicht ihren Sohn erziehen, nicht ihrer Sexualität Ausdruck verleihen. Das alles prägte sich in ihr Denken ein und so ist Binta auch eine in ihrem Innern von Zweifeln, Wehmut und einer unbestimmten Traurigkeit erfüllte Frau.

Wer will Binta sein?

Die naheliegende Antwort lautet, dass sie eine Frau sein will, die sich ihren (Sexual-)Partner selbst wählen darf, die selbst bestimmen darf, mit wem sie welche Art von Beziehung führt. Die weitergehende Antwort wäre, dass sie eine Frau sein will, die mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung auch Einfluss auf das Leben von Männern haben darf, was gegenwärtig gleichbedeutend damit ist, Einfluss in der Gesellschaft zu haben. Sie will nicht mehr zur Hilflosigkeit verdammt sein. Sie will nicht in ihrer Rolle als ältere Witwe, die mir ihrer Pilgerschaft nach Mekka ihre religiöse Verankerung bewiesen hat, anerkannt sein, sondern sich ihre Rolle selbst auswählen dürfen, was freilich die Annahme von Elementen ihrer gegenwärtigen Rolle nicht ausschließt. Sie will eine Gesellschaft, die ihre Selbstbestimmtheit und ihr Selbstbewusstsein anerkennt und achtet. Doch was heißt das konkret in Bezug auf die Romanhandlung?

Binta hat eine Affäre mit dem fast 30 Jahre jüngeren Reza. Aber durch diese erstmalige Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse wird sie nicht zu einer anderen Frau. Sie hätte diese Affäre nie begonnen, wenn sie nicht bereits ein Selbstbewusstsein entwickelt hätte, das ihr – bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung ihrer gesellschaftlichen Rolle – die Einstufung eines Aktes, mit dem sie bewusst gesellschaftliche Normen bricht, als richtig ermöglichte. Sie hatte sich bereits eine eigene Meinung gebildet, ging im Kleinen eigene Wege. Vor diesem Hintergrund markiert die Entscheidung zur Auslebung ihrer sexuellen Begierde zwar einen Bruch in dem Sinne, dass sie für ihr selbstbestimmtes Handeln eine neue Qualität gesellschaftlicher Repression zu riskieren bereit ist, aber eine Kontinuität in dem Sinne, dass selbstbestimmtes Handeln als solches für sie nichts Neues ist. Ihr selbstbewusstes Denken hatte sich bereits an vielen Stellen eine Bresche zur Handlungsebene geschlagen.

Die Frau, die Binta sein will, ist nicht eine selbstbewusste Frau, denn eine solche ist sie bereits. Es ist auch keine selbstbewusste Frau, die für ihr selbstbestimmtes Handeln gesellschaftliche Normen bricht, denn auch das tut sie bereits. Nein, die Frau, die Binta sein will, ist eine selbstbewusste Frau, die für ihr selbstbestimmtes Handeln keine gesellschaftlichen Normen brechen muss. Das bedeutet aber, dass sie keine andere Frau sein will, sondern die gleiche Frau in einer anderen Gesellschaft. In dem gesellschaftlichen Käfig, in den sie eingesperrt ist, gibt es für sie überhaupt nicht die Option, frei herumzulaufen, diejenige zu sein, die sie sein will. Sie kann lediglich wählen, ob sie den Käfig akzeptiert oder auszubrechen versucht. Es ist diese zutiefst bittere Erkenntnis, zu der die Ereignisse Binta drängen, eine Erkenntnis, die sich weit hinten in ihrem Unterbewusstsein Stück für Stück formt und sich dann auf verschlungenen Wegen, mal in abstrakten Bildern und mal in Form neu angeordneter Erinnerungen, begleitet mal von Angst und mal von Hoffnung, mal von Trauer und mal von Wut, stetig, aber unaufhaltsam einen Weg zu ihrem Bewusstsein bahnt.

Ibrahims auf den ersten Blick klischeehaft wirkende Schilderung der Liebesaffäre zwischen Binta und Reza gewinnt durch das zunehmende Deutlichwerden dieses Bruch-Kontinuitätsverhältnisses an Realismus, an Überzeugungskraft. Allerdings macht der Autor dem Lesenden durch die starke Betonung und wiederkehrende metaphorische Beschreibung des Bruch-Charakters, welche der Affärenbeginn in Bintas Leben markiert („Das erste Mal in ihrem Leben…“, „Das erstmalige Blühen einer Blume“) die Einsicht in die tatsächlichen Voraussetzungsstrukturen nicht gerade leicht. In gewisser Weise spiegelt dies freilich die Komplexität des Verhältnisses von sexueller Begierde, Selbstbewusstsein und dem Druck gesellschaftlicher Normen wider.

Was verhindert, dass Binta die wird, die sie sein will?

Dem Autor gelingt es sehr gut, die Mechanismen zu veranschaulichen, durch welche die Durchsetzung herrschender Norm- und Wertevorstellungen in der Gesellschaft abgesichert wird. Binta erfährt in der Rolle, die diese Gesellschaft für sie vorgesehen hat, durchaus Anerkennung durch ihre Mitmenschen, sobald sie aber einen eigenen Schritt geht, wird – teils subtil, teils ausdrücklich, mal von den Herrschenden, mal von den ihre Stellung akzeptierenden Beherrschten – ein steigender Druck auf sie ausgeübt, wieder zurück an ihren Platz zu gehen. Konkret wird ihre Rolle wesentlich bestimmt durch die religiös geprägten, patriarchalischen Strukturen, aus welchen sich die herrschenden Gedanken, die bestehenden Normvorstellungen speisen. Die „Vollstrecker“ dieser Vorstellungen finden sich in ihrer Koranschule, in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Familie und schließlich auch – in ihrem eigenen Kopf.

Während Ibrahims Darstellung auf dieser Handlungsebene überzeugt, gelingt die Verknüpfung zu einer weiteren, der Thematisierung der gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen, leider nur wenig. Für sich genommen hat dieses Handlungselement ebenfalls aufklärerischen Charakter, aber es werden kaum Verbindungslinien zu den erdrückenden patriarchalischen Verhältnissen sichtbar. So sieht Binta in den Auseinandersetzungen einen „Feuersturm des Glaubens und der ethnischen Zugehörigkeit“, aber einen Zusammenhang zu dem frauenfeindlichen Charakter der vorherrschenden religiösen Normen sieht sie nicht. Natürlich bleibt es dem Lesenden unbenommen, selbst die Verbindungslinien zu ziehen und so zu dem irrationalen Charakter von Religion, ihrer Spaltungswirkung, ihrer gesellschaftlichen Funktion zu gelangen, aber Ibrahim könnte diesen Gedankengang weit mehr anstoßen, die Linien zumindest ganz blass vorzeichnen. Eine Verknüpfung gelingt aber nicht zuletzt auch deshalb kaum, weil die religiösen Verhältnisse nicht an die allgemeinen gesellschaftlichen Machtverhältnisse gekoppelt werden, wofür die Geschichte ebenfalls das Potential bereitstellen würde.

Denn in einem zweiten großen Handlungsstrang beschreibt Ibrahim das Leben des jungen Drogendealers Reza, das geprägt ist von Armut, Gewalt und Korruption. Politiker, Polizei, Unternehmer, alle sind sie korrupt. Geld ist die einzige Sprache, die in dieser Gesellschaft gesprochen wird, weil Geld Macht bedeutet. Die einen macht diese Sprache zu Kriminellen, die anderen zu kriminellen Staatsbediensteten, Geschäftsleuten etc. Es ist eine entlarvende, unverblümte Darstellung ungezähmter kapitalistischer Lebensverhältnisse. Aber die Rolle der Religion wird in dieser weitestgehend ausgespart. Wem nützt die Aufrechterhaltung der patriarchalischen Strukturen, wem die Konflikte zwischen Christen und Muslimen? Ibrahim schildert in einer Szene schön, wie ein Junge aufgrund seiner Armut zum Einbrecher wird. Aber wie hängen Armut und religiöser Fanatismus, Armut und Religion überhaupt zusammen? Was verbindet die Menschen, was trennt sie? In diesen Punkten lässt Ibrahim leider viele Möglichkeiten, die Handlungselemente zu einem in sich geschlossenen Zusammenhang zu verweben, aus. Die Antwort auf die für Bintas Leben so entscheidende Frage, wo jene Kraft zu suchen ist, die die bestehenden Verhältnisse umzuwälzen imstande ist, bleibt damit weitestgehend im Dunkeln.

Bintas großer Hoffnung, dass Bildung die Menschen und die Gesellschaft zum Besseren verändern wird, haftet angesichts dessen etwas Rührendes, aber zugleich Tragisches an. Bildung findet nicht abstrakt im luftleeren Raum statt, sie ist eingebettet in die gesellschaftlichen Strukturen. Warum sollten die Herrschenden die Bildung nicht zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse nutzen, warum sollten Gebildete sich nicht in die Reihen der Profiteure einreihen und selbst wenn sie dies nicht machen, wie sollen sie die Gesellschaft verändern? Nichts illustriert die Wichtigkeit dieser Fragen mehr als die Tatsache, dass Bintas zweiter Sohn Munkaila eine gute Bildung genossen hat, erfolgreicher Geschäftsmann wurde und sich anschließend sehr gut in die bestehenden Strukturen eingepasst hat – ein Umstand, der für Bintas Leben noch fatale Folgen haben wird. Entlarvt die Geschichte auf diese Weise im Prinzip selbst Bintas zaghaften Optimismus als Illusion, bleibt nur noch Rezas ungebändigter Nihilismus zurück.

„Manche versuchen Mittel gegen Krankheiten zu finden, andere tüfteln neue Waffen aus. Und dann gibt’s noch die, die versuchen sich umzubringen. Ziemlich im Arsch die Welt.“*

Was bleibt?

„Wo wir stolpern und wo wir fallen“ ist ein wuchtiger erster Auftritt auf der Literaturbühne. Ibrahim macht deutlich, dass es kein Thema gibt, an das er sich nicht herantraut. Er will dorthin, wo es wehtut, wo sich die wirklichen Konflikte abspielen. Das, verbunden mit seiner über weite Strecken sehr poetischen, sehr eindringlichen Sprache, lässt Gutes für seine literarische Zukunft erhoffen.

Text von Daniel Polzin, 19 Jan’21
Bild von Ursula Bier

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*Alle Zitate aus dem Text finden sich im Buch „Wo wir stolpern und wo wir fallen“, Residenz-Verlag, Salzbug/Wien 2019



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