Neulich, als ich nachts betrunken durch die Straßen schlich
und jede Straße der letzten Straße glich
und mein Kopf hämmernd dröhnte,
sowie mein Magen derbe stöhnte,
da musste ich auf einmal dringend pissen.
Aber ihr müsst mir glauben und ihr müsst wissen,
dass es nicht meine Absicht war,
nur diese Tür, die ich da vor mir sah,
die schien hervorragend dafür
und es kostete mich nicht einmal viel Mühe.
Also ließ ich es laufen und gerade, als ich meiner Sache beinahe ledig
war, da schwang die Tür auf und ich erschrak nicht wenig.
Ein feiner Herr war dem Rahmen entsprungen,
ich summte erst noch sorglos, musste aber bei seinem Anblick sofort verstummen.
Wie es aussah, ich wills euch nicht verschweigen, traf ich ihn wohl unglücklich am Bein,
als er da – wie aus dem nichts! – stand mit seinem Glas edlen Wein.
Dürr war er und hervorragend gekleidet.
Ich vergaß mich und fast hätte ich ihn darum beneidet.
Aber das mit der Pisse, das war mir wirklich peinlich, das könnt ihr mir glauben,
und ich befürchtete, es könnte dem feinen Herren seinen feinen Verstand rauben.
Doch er schaute mir nur streng ins Gesicht
und packte mich schlicht
an der Schulter und zog mich – noch hosezuknüpfend – hinter sich her
Und ich? noch immer betrunken, ließ mich ziehen ohne Gegenwehr.
Er führte mich ins innere, des überraschend großen Prachtbaus
und redete dabei vornehm von irgendeinem nie endenden Festschmaus.
Wir gelangten in einen weiträumigen Saal mit loderndem Kamin,
in dem viele Männer saßen und einer vergnügter als der andere schien.
Er ließ mich in der Mitte, neben dem Gemälde eines Königs stehen,
und ich kam nicht umher zu staunen, hatte ich doch noch nie einen König gesehen.
Der angepisste Herr sprach währenddessen mit seinen Kumpanen und scharrte sie um mich,
und mir wurde entsetzlich übel, da ihr Trara der Vorbereitung zu einer Hinrichtung glich.
So standen die feinen Herren um mich herum im Saal
Und begannen zu sprechen von der feinen Moral.
Ich sollte ihnen mein Gehör, sowie meine volle Konzentration schenken,
sie wüssten sie schon in die richtige Richtung zu lenken.
So sagten sie,
dass Lügen schlecht sei und ich nie
meine Gedanken verstecken sollte,
selbst wenn ich es müsste oder ich es wollte.
Stattdessen sollte ich brav mein innerstes offenbaren,
man kann es gebrauchen, für Profit und Waren.
Und die Wirtschaft, die sei ohne Frage eine humane Sache,
dies sagten sie mit einer besonders widerlichen Lache.
Es beschlich mich langsam ein merkwürdiges Gefühl
Denn die feinen Herren genossen ihre Rede und ihr Kalkül.
So sprachen die feinen Herren um mich herum im Saal
Und predigten weiter von ihrer feinen Moral.
Und da sie schon bei der Wirtschaft und den Waren waren,
sprachen sie auch gleich von den Zinsen und vom Sparen.
Sie erklärten mir, dass Sparen eine Tugend sei
und belächelten mich, während sie erklärten, ich sei offensichtlich von Tugend frei,
dass es sie nicht wundern würde, wenn ich mich an dem Eigentum anderer vergreife,
bei meiner mangelnden und sicherlich mittleren Reife.
Seis drum, jedenfalls sagten sie, dass ich niemals stehlen dürfte,
selbst wenn ich es aufs nötigste bedürfte.
Würde ich Geld brauchen, so sollte ich es machen wie sie,
ich sollte andere für mich arbeiten lassen, das sei die gesetzestreue Strategie.
Die Schwachen hätten es eben nicht verstanden und sollten deshalb ruhig schuften,
so ist das eben, auch die Natur hat so ihre unüberwindbaren Kluften.
Sie hatten Zigarren im Maul und ein grobes Grinsen,
Sie selbst leben schon lange von den besagten Zinsen.
So rauchten die feinen Herren um mich herum im Saal
Und beharrten weiter auf ihre feine Moral.
Weiter sagten sie, Ehebruch, ebenfalls eine Sünde,
ganz ungeachtet der Gründe.
Ich wollte gerade widersprechen, da versiegelten meine Augen mir den Mund,
denn was ich sah, dass war ein Boden ohne Grund.
Während die feinen Herren vom Ehebruch sprachen,
stürmte eine Horde junger Mädchen rein, die sich sogleich um ihre Hälse warfen.
Die feinen Herren grabschten an den Ärschen der jungen Damen herum,
und sie bogen sich schief und sie bogen sich krumm
Sie erklärten mir, ich habe mir eine Frau zu suchen und solle nur diese ficken,
fremdgehen würde sich in zivilisierten Kreisen nicht schicken.
Ich habe stets treu zu sein und nur sie zu lieben,
ist auch nichts mehr von der sogenannten Liebe geblieben.
So hurten die feinen Herren um mich herum im Saal
Und sangen weiter glücklich von der feinen Moral.
Ich hatte genug, ich wollte ihren Worten nicht mehr lauschen,
aber wandte ich mich ab, stoppten sie ihr Spiel
und begannen sich fürchterlich aufzubauschen
und mich zurechtzuweisen
und anzuschreien, dass ich wieder hörte.
Was mich aber vor allem an den feinen Herren verstörte,
das waren ihre zufriedenen und hämisch dürren Visagen
die während ihres Treibens aufquollen und begannen sich aufzublasen.
Fleischiger und fleischiger wurden ihre Grimassen,
und ich kam nicht umher, die feinen Herren aus Angst und Abscheu zu hassen.
Ihr Anblick war ein schiefes Kratzen auf meiner Seele
und kein rechter Ton verließ mehr meine Kehle.
Sie war trocken, ich war inzwischen ausgenüchtert, war dehydriert,
verwirrt und was sie von mir wollten, hatte ich noch immer nicht kapiert.
Also sprang ich auf und versuchte durch die Tür hinaus zu fliehen
Aber die fleischigen Herren warfen eine Leine um mich und begannen fest,
fest daran zu ziehen.
Vergnügt fuhren sie ihre Rede fort und verbannten nun die Gewalt,
verbaten sie, denn sie habe eine hässliche Gestalt.
Ich sollte lieber ein friedlicher Bürger sein,
still halten, sehen sie meinen Pass ein.
Still halten, vor dem Hammer der Justiz,
vor dem Gesetz sei ich nur eine kleine Notiz.
Während sie redeten, kamen ein paar Männer herein,
lumpige Kleidung, verdreckte Gesichter, Geruch nach billigem Wein.
Es waren Arbeiter. Proleten, sagten sie, sowie du auch!
Und gleich fühlte ich etwas Zuversicht in meinen Bauch.
Doch die Szene wechselte ihr Gesicht, so schnell wie der Wind,
und aus dem süßen, wurde schlagartig ein grässliches Kind.
Sie hieben mit dicken Peitschen über die Rücken der Proleten,
die daraufhin auf die Knie fielen und begannen zu beten.
Nur half es nichts und auf die erste folgte die zweite Szene,
denn die fleischigen Herren hat noch ganz andere Pläne.
Sie halfen wenigen auf die Beine, klopften ihnen auf den Rücken
Und reichten ihnen dann die Peitschen mit ganz besonderem Entzücken.
Einige von ihnen, nun Vorarbeiter mit daumendicken Peitschen in Händen
vergaßen wer sie waren und verteilten das Blut ihrer Brüder an den Wänden.
So grölten die fleischigen Herren um mich herum im Saal
Und schlugen Narben in Rücken mit ihrer feinen Moral.
Weiter hieß es, dass Krieg unmenschlich sei,
aber dass der Mensch dennoch nicht frei
vom Kriege sei.
Und jede Nachfrage hat ihr Angebot,
sei das Angebot zur Nachfrage auch der Tod.
Also verteilten sie fröhlich Waffen unter den Proleten,
lachten und konnten das Verteilen leicht vor ihren Geldbeuteln vertreten.
Als nächstes zogen die Proleten all ihre Kleider aus, stapelten sie vor die fleischigen Herren
Und begannen mit den Waffen an einander nackten Leben zu zerren.
Die fein fleischigen Herren, gierig schwitzend mit roten Birnen, heiter
Rieben sie sich die dicken Finger in den Händen und schauten weiter
Auf die köstlichen Szenen vor ihren Augen
und begangen lüstern an den Daumen der jungen Damen zu saugen.
So trieben die fleischigen Herren Krieg um mich herum im Saal
Und die Armen schossen sich gegenseitig nieder im Takt der feinen Moral.
Als nur noch Asche blieb und keiner mehr stand,
nur ein paar verstümmelte Krüppel hinten an dem Rest einer Wand.
Da erklärten sie mir, dass es noch eine wichtige Tugend gebe
Und das ich mir diese Tugend merken solle, ganz egal wonach ich strebe.
Sie sagten, dass Ungehorsam nicht geduldet sei und keiner ungeschoren
davon käme, pisse man ihnen ans Bein. Ich wäre verloren
gewesen, und zwar von Geburt an
im Dreck zu schwimmen bis zu den Schultern,
Jeder Widerstand werde erstickt im Keim,
möge der Widerstand auch rechtens sein.
Also fragten sie, ob ich noch ein letztes zu sagen hätte,
bevor man mich zur letzten Ruhe bette.
Sie wollten mich also wirklich hinrichten, einfach exekutieren,
zur Hölle! Warum mussten sie dann all dies mit mir diskutieren?
Sei’s drum, für Fragen war keine Zeit, ich stand kurz vor meinem Ende,
ich schmeckte kalten Schweiß auf meinen Lippen und es zitterten mir fürchterlich die Hände.
Dann sagte ich ihnen, mit dem letzten bisschen Mut in mir,
matt und karg, wie ein ausgehungerter Stier.
Ich sagte:
Ich wundere mich nicht über eure feine Moral,
wenn ich das Gold sehe und euren goldenen Saal.
Wirklich nett habt ihr euch die Welt zurecht gelegt,
Doch scheint ihr zu vergessen, wer die Welt im innersten bewegt.
Wir sind es nämlich, die sie unter Blut und Tränen täglich tragen,
Und wir werden es sein, die eure schöne neue Welt auch wieder zerschlagen.
Dann bauen wir eine neue daraus,
in der keiner bleibt ohne Dach und Haus.
Und bis dahin bleibt mein Gewissen kahl,
denn besser keine – als eure Doppelmoral.
So standen die fleischigen Herren zur Hinrichtung um mich herum im Saal
Und begannen zu lachen über meine Worte zur feinen Moral.
Sie klopften mir auf die Schulter und lachten lauthals über mich,
es war, als ob man ein Spinnengewebe über meinen Nacken strich.
Ich bekam eine Gänsehaut und würgte auf den Boden,
denn die Atmosphäre um die fleischigen Herren hatte sich komplett verschoben.
Ich war bereit, aber von Hinrichtung war keine Rede mehr. Sie ließen meine Leine fallen,
und begannen sich mir gegenüber vergnügt zu einem Fleischknäul zusammen zu ballen.
Nach ein paar kurzen Worten drehte sich die Masse zu mir um
und betrachtete mich noch einmal grinsend mit ungläubigem Kopfschütteln, stumm.
Dann verließen sie das Schlachthaus. Ich lief ihnen hinter her
aber draußen, fand ich sie nicht mehr.
Ich weiß bis heute nicht, warum sie mich verschont hatten,
doch schwöre ich euch, alles ging genauso von statten.
Jetzt sind’s fleischige Gesichter, die ich nachts in meinen Träumen sehe,
und sind’s fleischige Gesichter, wenn ich tagsüber durch die Straßen gehe.
Denn schon lange hat’s die feine Moral soweit gebracht,
dass sie in den Köpfen der meisten Familien klafft.
Dies war die Ballade der feinen Moral,
die sich abspielt, täglich im immer selben Saal
Von Kamil Tybel, 22. März.’20
Illustration von Vito Rafiie
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