Garvesh sagte vor unserem vorläufigen Abschied: „In der Stadt sind die Menschen nicht arm. Arm sind die Menschen in den Bergen.“ Im Zentrum der Stadt angekommen, wurde klar, dass er diese Sätze am nepalesischen Maßstab ausrichtete, dem zufolge das durchschnittliche pro Kopf Einkommen 2.700 statt wie in Deutschland 52.000 Dollar beträgt. Wer arm ist, liegt zusammengekauert am Straßengraben zwischen Müllbergen, Hunden und Makakenaffen und schafft es vielleicht jede halbe Stunde, sich durch einige hyperventilierende Atemzüge aus mit Klebstoff gefüllten Plastiktüten wieder zu betäuben. Solche Fälle gehen traurigerweise im Grundrauschen dieses brummenden Sumpfes unter und werden genauso zur Normalität wie verkrüppelte und/oder minderjährige Bettler. Sie finden von den meisten Menschen kaum noch Beachtung. Aber es gibt sie, die schönen Wohnviertel mit mehrstöckigen Einfamilienhäusern in einigermaßen modernem Baustil. Es gibt ihn, den 20 Fußballfelder messenden Narayanhity Königspalast, in dem Kronprinz Dipendra 2001 erst neun Mitglieder der Königsfamilie und dann sich selbst erschoss.
Der Staat selbst ist nicht viel besser dran als die armen Teufel, die von ihm versorgt werden sollen. Das wird bei einem Besuch des Zentralcampus der Tribhuvan Universität deutlich, deren Vorsitz Premierminister Khadga Prasad Oli innehat. So wie überall sind die Straßen staubig und ihre Gräben zugemüllt. Aber es sind deutlich weniger Menschen zu sehen, obwohl die staatliche Universität mit 604.437 eingeschriebenen Studierenden als Zehntgrößte der Welt gilt. Diejenigen, die da sind, sitzen um 15 Uhr zwischen brennenden Müllhaufen und träge voranschreitenden Cricketpartien, wenn sie nicht gerade wegen Unregelmäßigkeiten beim Einschreibungsverfahren für den Landwirtschafts-Bachelor rebellieren, bis die Polizei für Ordnung sorgt – keine großartige Besonderheit, sagen einige von ihnen. Ganze Labore sind nach wie vor zerstört oder einfach mit Stühlen und Tischen vollgestopft und in der verwirrenden Bibliothek befinden sich mehr gurrende Tauben als Menschen. Laut einem Bericht von University World News wurde nach dem verheerenden Beben erst zehn Prozent des Geldes zum Wiederaufbau freigegeben. Dem Staat fehlt also das Geld, seine wichtigste Bildungsstätte wieder aufzubauen, während Investoren hinter nepalesischen Mobilfunknetzbetreibern vom Kaliber der Telekom fast 100 Milliarden Euro Steuern mittels Offshorefirmen und ausländische Direktinvestitionen hinterziehen und Schwarzgeld waschen, wie die Tageszeitung Kathmandu Post kürzlich berichtete. Die Chancen, dass die zumindest augenscheinlich im Niedergang befindliche öffentliche Universität demnächst das nötige Geld bekommt, sind also gering. Was jedoch bestimmt kommt, ist das nächste Erdbeben. Schaut man sich die lange Geschichte dieser geologischen Schicksalsschläge an, ist es wirklich verwunderlich, dass Nepal noch nicht wieder dem Erdboden gleichgemacht wurde. Samt des Himalayas. Die Götter müssen bei diesem Anblick schon lange ihren Sitz verlassen haben.”