Es gibt wahrscheinlich kein Land, das so verworren ist, wie Israel. Eine Reise dorthin gleicht vermutlich dem Gefühl, das ein Kind hat, wenn es zum ersten Mal einen Rubiks Würfel in die Hand nimmt. Wie sollen all diese bunten Flächen zusammenpassen? Gehören sie überhaupt zusammen? Wo drehe ich zuerst? Und für viele stellt sich die Frage: Wie schafft man es, eine Seite zu komplettieren, ohne die andere zu zerstören? Israel ist wie einer dieser Zauberwürfel – mit dem Unterschied, dass es keine einfache Formel gibt, mit der sich dieses Rätsel lösen lässt. Und wenn man so will, kommt erschwerend hinzu, dass der Würfel eine Bombe in sich trägt, die zündet, wenn man einmal an der falschen Seite dreht.
Seit Jahrtausenden prallen in Israel Völker und Religionen aneinander. Die Kräfte, die dabei entstehen, entladen sich seit jeher in biblischen und historischen Ereignissen: angefangen beim Urvater Abraham über den von Moses geführten Exodus aus Ägypten, dem Kampfe des Hebräers und späteren Königs David gegen den Philister Goliath, die Zerstörung des ersten Tempels, dem babylonischem Exil der Israeliten und der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer bis hin zur Staatsgründung Israels 1948, den darauffolgenden blutrünstigen Kriegen mit den umliegenden arabischen Staaten und dem Konflikt mit den Palästinensern, der das Kräfteverhältnis des Kampfes David gegen Goliath nun bei gleichbleibenden Kontrahenten auf den Kopf stellt. Eroberung, Zerstörung, Vertreibung, Rückeroberung und Wiederaufbau prägen diese Region am Rande des Nahen Ostens. Oder genauer: All diese Dinge prägen besonders die Menschen, die dort leben – unabhängig davon, warum und seit wie vielen Generationen sie dort sind. Und auch unabhängig davon, welchen Anspruch sie auf dieses hart umkämpfte Land erheben.
Der erste Kontakt, den wir mit einem dieser, von der Geschichte Israels geprägten Menschen machten, war im Flieger nach Tel Aviv.Wir, das sind Nadja, meine Freundin, und ich. Es ist schon fast Mitternacht, als wir in Istanbul den Flieger wechseln und nur noch zwei Stunden vom heiligsten Land der Welt entfernt sind. Während ich am Fenster sitze, Nadja in der Mitte, ist der Gangplatz frei. Einer der Letzten im ganzen Flugzeug. Ein orthodoxer Jude schreitet mit unter dem breitkrempigen Hut baumelnden Schläfenlocken den Gang entlang. Unter seinem blütenreinen Hemd schauen die Fäden eines Gebetsgürtels hervor. Sein ungewohntes Äußeres macht ihn sehr interessant. Wir hoffen beide, dass er sich neben uns setzt und in der Tat: Vor unserer Reihe bleibt er stehen. Doch anstatt seinen Koffer zu verstauen, rückt er nervös seine Brille zurecht und will sich nicht setzen. Händeringend sucht er nach einer Lösung für ein Problem, aber er erklärt sich nicht. Als eine Stewardess hinzukommt, wird klar, dass er sich nicht neben eine Frau setzen will. Ich möchte nicht, dass die Situation durch eine Eskalation noch unangenehmer wird und hätte mich geärgert, wenn er deswegen in die Business Class versetzt werden würde, weshalb ich anbiete, den Mittelplatz einzunehmen. „Noch nie habe ich mich so diskriminiert gefühlt“, sagt Nadja und blickt aus dem Fenster, während wir zur Startbahn rollen.
Nachdem wir abgehoben haben, bedankt sich der Ultraorthodoxe bei mir für mein Verständnis. Im ersten Moment bin ich verwundert, weil dieser Dank beileibe nicht mir gebühren sollte. Nach kurzer Überlegung frage ich, ob Tora oder Talmud ihm denn den Kontakt zu fremden Frauen verbieten würden. Der aus Brooklyn stammende und in Israel lebende Mann verneint: „Es ist eine Tradition. Manche halten es sehr streng mit ihr, andere weniger.“ Eine Frau sei für ihn eventuell durch ihre Menstruation verunreinigt. Reinheit ist zentraler Bestandteil des orthodoxen Judentums. Deswegen essen sie koscher. Er selbst kommt gerade aus Paraguay, von dort wird ein Großteil des koscheren Fleisches importiert. Er habe den Arbeitern gezeigt, wie das äußerst komplizierte Schlachtritual vollzogen werden muss, und habe ihre Umsetzung kontrollierte. Lediglich als die Arbeiter einen Tag streikten, hatte er Zeit, sich die Gegend anzuschauen. „Aber nur glückliche Arbeiter sind gute Arbeiter“, sagt er. Allerdings zeigt er auch kein wirkliches Interesse an dem Wasserfall, den er dort besichtig hatte. Er kann sich nicht einmal an den Namen erinnern.
Mittlerweile liegt das leuchtende Tel Aviv unter uns und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Doch hier soll es uns zunächst nur eine halbe Stunde halten, denn zwei Wochen nach der Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, Jerusalem zur Hauptstadt Israels zu erklären, zieht es uns als Erstes genau dort hin. Es ist Herzstück, Heiligtum und Pulverfass zugleich.
In vollkommener Dunkelheit schreiten wir durch das Jaffator hinter die dicken Kalksteinmauern der Jerusalemer Altstadt. Hier tummeln sich sonst geschäftige Anwohner und unzählige Touristengruppen, die dort ihre Führung durch die verwinkelten und verzweigten Viertel beginnen. Doch um diese Zeit herrscht hier vollkommene Stille. Aus einiger Entfernung hört man lediglich ein paar Wachmänner murmeln, von Zeit zu Zeit fährt ein Auto oder ein Orthodoxer auf seinem Golfcart vorbei. Die leergefegten Straßen wirken beinahe gespenstisch. Völlig planlos gehen wir entlang der Innenseite der Stadtmauern zum Zionstor und dann weiter, bis wir einen gut ausgeleuchteten Platz entdecken, über den in schwarze Mäntel gehüllte Gestalten huschen, um kurz die riesige Mauer, auf die hier alles abzuzielen scheint, zu berühren und dann in die links danebenliegenden Gemäuer zu verschwinden. Wir sind nun an der Ostseite der Altstadt. Dort steht die berühmte Klagemauer, neben der Heiligen Schrift selbst das größte Heiligtum der Juden. Sie ist der letzte Überrest des zweiten Tempels, der nach seiner Umgestaltung durch König Herodes des Großen im Zuge des römisch-jüdischen Krieges im Jahre 70 zerstört wurde. Und ungünstiger Weise ist sie nun nicht nur Ankerpunkt der jüdischen Sehnsucht nach ihrem Tempel, dessen Überreste um sie herum zu suchen wären, sondern sie ist auch Stützmauer des religiösen Zentrums der muslimischen Gemeinschaft in Jerusalem – dem „al-haram asch-scharif“, dem „edlen Heiligtum“ von dem aus Mohammed seine Himmelfahrt angetreten haben soll – von Israelis und Touristen Tempelberg genannt. Doch bis es Touristen um sieben Uhr morgens erlaubt ist, für einige Stunden das Hochplateau zu beschreiten, auf dem die „qubbat as-sachra“, der Felsendom, und die al-Aqsa-Moschee stehen, bleibt noch einige Zeit, um an die Klagemauer heran zu treten. Der Zugang zu ihr war Juden zwischen dem Unabhängigkeitskrieg 1948 bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 nicht möglich, da dieser Teil der Altstadt von Jordanien kontrolliert wurde. Seitdem wird hier nicht nur rund um die Uhr gebetet, sondern es werden auch Soldaten und Soldatinnen eingeschworen. Männer sind für drei Jahre, Frauen für 21 Monate verpflichtet, in den „Israeli Defense Forces“ zu dienen.
Mittlerweile kommen vermehrt Betende aus dem kleinen Eingang auf den Platz vor die Mauer, berühren sie ab und zu, während sie hin und herschwenkend und abwechselnd nach oben und auf ihr kleines abgegriffenes Büchlein blickend, ihrem Gott nahe sind. Auch zwei Frauen haben sich um diese Zeit schon an dem für sie eigens vorgesehenen Drittel der 18 Meter hohen und 48 Meter breiten Mauer eingefunden. Die Geräuschkulisse wird hier nicht wie tagsüber von dem Gemurmel Betender und dem Summen allgemeiner Gespräche bestimmt, sondern hauptsächlich von den Flügelschlägen einiger Tauben und dem Gezwitscher der Spatzen, die in den Ritzen der Mauer verschwinden, die nicht mit den berühmten Gebetszetteln vollgestopft sind oder sich in dem aus der Mauer wuchernden Gestrüpp sammeln. Nachdem ich sichergestellt habe, dass es Nicht-Juden erlaubt ist, durch das niedrige Tor am Rande der Klagemauer zu gehen, trete ich selbst in das kleine Gemäuer, in dem vorher die vielen Orthodoxen verschwanden. Frauen ist der Zugang hier verboten. Sie haben ein eigenes kleines Kämmerchen nebenan. Nach einigen Schritten sehe ich, wie sich ungefähr fünfzig Gläubige für ihr Gebet präparieren, indem sie Lederriemen um ihre Arme wickeln oder sich in die Lektüre der heiligen Schrift vertiefen. Zwei von ihnen zeigen mir, dass ich eine Tora aus dem vollgestopften Bücherregal an der hinteren Wand ziehen solle, und weisen mir einen Platz zum Lesen. Als ich dankend und freundlich ablehne und ihnen erkläre, dass ich nicht jüdisch bin, blicken sie mich verdutzt an und fragen ein wenig trotzig: „Wieso bist du dann hier?“ Da ich nicht Hebräisch spreche und ihr Englisch sehr gebrochen ist, unterlasse ich den Versuch, ihnen mein Interesse darzulegen und sehe ihre Reaktion als Aufforderung zu gehen.
Nach dem Sonnenaufgang lockt nun endlich die golden glänzende Kuppel des Felsendoms, dessen herkömmlicher Name vom unter der Moschee liegenden Opferfels rührt, auf den Abraham seinen Sohn Isaac band und später auch von den Hohepriestern zur Darbringung genutzt wurde. Der einzige Eingang auf das Plateau für Nicht-Muslime befindet sich neben der Sicherheitskontrolle zur Klagemauer. Ebenso wie an den Eingängen zur Klagemauer muss man durch die Detektoren, die man sonst nur vom Flughafen kennt. Über dem Eingang zur alten Holzbrücke, die uns hinaufführt, hängt ein Schild des Oberrabinats, das es gläubigen Juden verbietet, einen Fuß auf den Tempelberg zu setzen, weil die Gefahr bestehe, auf Stellen zu treten, die nur für durch bestimmte Rituale gereinigten Hohepriestern zugänglich waren. Aber auch für nicht gläubige Juden ist es unklug, dort hinaufzugehen, wenn sie nicht einen Protest oder gar Angriffe riskieren wollen. Und trotzdem: Während wir 15 Minuten nach Öffnungszeit immer noch am Tor stehen, huschen ungefähr zehn Kippa tragende Männer unterschiedlichen Alters an uns vorbei. Oben auf dem erstaunlich weitläufigen Plateau, auf dem muslimische Kinder sich gerade wahlweise prügeln oder miteinander spielen, treffen wir die jüdische Gruppe, wie sie umringt von schwer bewaffneten Soldaten zwischen den knorrigen Ölbäumen und alten Marmorsäulen entlangschreitet. Als ein Araber auf mich zutritt und fragte, ob ich eine Führung benötige, lehne ich dankend ab, aber frage ihn, wieso doch Juden hier oben wären, obwohl es ihnen eigentlich verboten wurde. Ich stellte dieselbe Frage vorher einem israelischen Polizisten, der am Eingang stehen blieb, aber er verstand sie nicht. Der Araber antwortete mir: „Du hast zehn Juden und zehn Meinungen, aber alle denken, sie haben die richtige.“ Manche folgen dem Rat des Oberrabinats, während andere es für eine Pflicht halten, am vermutlichen Standort des ehemaligen Tempels, des großen Heiligtums, zu sein. Letztere sind auch Befürworter für Grabungen unterhalb des Plateaus, die jedoch verboten sind. Wie kontrovers oder geradezu explosiv israelischer Besuch auf dem Tempelberg sein kann, zeigt der Besuch von Ariel Scharon im Jahre 2000, nachdem die zweite Intifada ausgebrochen war. Dieser Aufstand entwickelte sich in einen blutigen Krieg bei dem rund 1000 Israelis und 3500 Palästinenser starben. An diesem Morgen bleibt jedoch alles friedlich. Es sind allerdings auch noch kaum Muslime hier oben, die gegen die Anwesenheit der Juden protestieren könnten. Um den Felsendom wird noch gefegt, während sich vor der Al-Aqsa Moschee, wo der Prophet Mohammed seine Offenbarung erfahren und einige seiner Koranverse überliefert haben soll, vereinzelt Gläubige ihre Schuhe ausziehen, um einzutreten.
Doch als sich die Wege stetig mit weiteren Touristengruppen füllen, flüchten wir uns in die schmalen Souks des arabischen Viertels, in denen sich unzählige Katzen an den Resten des Vortages bedienen. Wir trinken einen der vollmundigen, frisch gepressten Säfte, atmen den Duft der vielen Gewürze ein, der aus den angrenzenden schmalen Läden strömt, die langsam von den ersten Verkäufern geöffnet werden. Sie hängen billig gewebte Teppiche, Kopftücher und gefälschte Modeartikel vor ihre kleinen Geschäfte und langsam erwachen die basarartigen Straßen, durch die man sich einige Stunden später nur noch quetschen kann.
Wir laufen zuerst planlos über das Pflaster, bis es auf einmal nicht mehr nach Gewürzen, sondern nach Weihrauch duftet, der nun an denselben engen Straßenläden neben Dornenkronen, Holzkreuzen und sonstigen Devotionalien feilgeboten wird. Plötzlich sind wir im christlichen Viertel angekommen und schreiten auf die Via Dolorosa zu, die Jesus mit dem Kreuz entlanggegangen sein soll. Wobei es sich eigentlich nur um einen Irrglauben handeln kann, da dieser Weg vermutlich eher drei Meter unter dem heutigen Jerusalem zu suchen wäre. Nichtsdestotrotz ziehen hier Pilgergruppen aller Couleur entlang. Von Zeit zu Zeit trabt die eine oder andere Gruppe Franziskanermönche in ihren braunen Kutten vorbei. Wir folgen dem vermeintlichen Weg des christlichen Messias und kommen an einem Antiquariat vorbei, dessen Schaufenster mit gut erhaltenen und kunstvoll verzierten Keramiken und Steinfiguren unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Direkt beim Eintreten freut sich der Besitzer über seine Kundschaft und fragt uns, woher wir kommen. Der beinahe glatzköpfige, arabisch aussehende Mann trägt ein gebleichtes Hemd, das er über seinem stabilen Bauch in die enge Jeans gestopft hat. Nach einigen Sätzen in fast akzentfreiem Englisch kommt er unumwunden auf die deutsche Flüchtlingspolitik zu sprechen. Er lobt die Bereitschaft Angela Merkels und kritisiert erst den Rest der europäischen, dann die arabische Gemeinschaft. Auf die Anmerkung, dass ein Drittel der jordanischen Bevölkerung aus Geflüchteten besteht, entgegnet er mit einem Lächeln abwinkend: „Die ganze Idee Jordaniens basiert auf Flüchtlingen.“ Nach einigen weiteren Worten verabschieden wir uns ohne etwas von den viel zu teuren Antiquitäten zu kaufen und gehen weiter durch die sich mittlerweile füllenden Gassen, den Schildern folgend, die von den Steinwänden hängend den Weg zum größten Heiligtum des christlichen Glaubens anzeigen. Nach einigen Biegungen kommen wir unerwartet an einen Vorplatz, der langweiliger nicht aussehen könnte. Nur die vielen Menschen machen stutzig, die vor dieser unscheinbaren Steinmauer mit den kleinen eckigen Fenstern in Trauben um ihre Guides herumstehen. Und ein weiteres Detail macht den aufmerksamen Betrachter stutzig: die alte Holzleiter, die an das rechte der oberen Fenster gelehnt wurde. Die Geschichte hinter dieser Leiter ist exemplarisch für die Konflikte in und um Jerusalem: Da Sultan Osman III im Jahr 1757 die Streitigkeiten der sechs verschiedenen in der Grabeskirche vertretenen Konfessionen, die ständig um die Vorherrschaft kämpften, beilegen wollte, fror er den Status quo ein. Das heißt, die zu diesem Moment geltenden Gebetszeiten und verantwortlichen Bereiche innerhalb der verwinkelten Kirche durften seither nicht geändert werden. Dieser Status quo wird derart penibel eingehalten, dass diese Leiter, die damals Mönche platziert hatten, um in die Kirche einzusteigen, wenn diese vom Sultan geschlossen wurde, seit über 200 Jahren unbewegt bleibt, weil unklar ist, wer für diesen schmalen Vorsprung am Fenster verantwortlich ist. In der Kirche reiben sich die vom Glaube elektrifizierten Touristen aneinander. Eine russische Pilgergruppe kniet rund um die Steinplatte im Eingang, die sie mit Küssen und Blumen sowie Kerzen als Gaben übersähen. Dort soll Jesus nach der Kreuzabnahme gesalbt worden sein. Wir gehen rechts die steile Treppe hinauf ins dunklere Gemäuer. Dort kriechen die Gläubigen gleichzeitig unter einen Altar, der als Golgathafels erachtet wird, um zu beten. In einer dunklen Ecke, an die wir auf dem Weg in den Keller vorbeikommen, betet frenetisch ein in weiß gehüllter Eritreer. Immer wieder kniet er sich hin, berührt fast mit der Stirn den Boden und steht wieder auf. Auf dem Weg nach unten zu der Kammer, wo Helena, die Mutter des Kaisers Konstantin, der die Kirche erbauen ließ, das Kreuz gefunden haben soll, zeigt sich an der Wand die für mich realste Spur in dieser Kirche: Hunderte von Kreuzen, die die pilgernden Ritter auf ihren blutigen Zügen und während der Herrschaft zu Beginn des ersten Jahrtausends dort in die Wände hineingeritzt hatten. Das, von einem griechisch-orthodoxen Mann in tiefschwarzer Kleidung bewachte, leere Grab des wiederauferstandenen Sohne Gottes ist umzingelt von Touristen, die gut eine Stunde anstehen, um einige Minuten lang ein stilles Gebet in der winzig kleinen Kammer, die immer nur vier Personen gleichzeitig fassen kann, zu sprechen.
Bei einer Pause auf dem naheliegenden Dach eines Cafés erspähen wir hinter der goldschimmernden Kuppel des Felsendoms den Ölberg. Unsere letzte Station des Tages sollte also der Ort der Himmelsfahrt sein. Die frischen Falafel werden noch schnell in den würzigen Hummus getaucht, den man hier überall angeboten bekommt, bevor wir uns auf die Wanderung machen. Diesmal gehen wir durch das erstaunlich europäisch aussehende, jüdische Viertel. Die sauberen, lichtdurchfluteten Straßen sind gesäumt von Burger-, Steak- und Pastarestaurants sowie einladenden Cafés. Die Orthodoxen mit den kleinen abgegriffenen Lederbüchern, die Schläfenlocken den gesenkten Kopf herunterhängend, sind zwar auch in den anderen Vierteln anzutreffen. Hier gehen sie allerdings weniger geschäftig und zielstrebig ihren Weg, sondern stehen beisammen und unterhalten sich. Wir werden freundlich gefragt, ob wir Hilfe bräuchten, nur weil wir langsamer als die anderen durch die Straße gehen. Die Altstadt verlassen wir wenig später durch das Dungtor, das direkt bei der Klagemauer und dem Tempelberg liegt. Es geht durch das Kidrontal zum Garten Gethsemane, wo Jesus seine letzte Nacht verbracht haben soll, der angrenzenden „Church of All Nations“, vorbei am Grabe der Jungfrau Maria und den tausenden jüdischen Steingräbern, die an den Hängen des Ölbergs platziert sind, damit die Toten auf der Stelle anwesend sind, wenn ihr Messias im Kidrontal das Jüngste Gericht halten soll – ein Glaube, den Juden und Moslems übrigens teilen. Oben angekommen bietet sich ein unglaubliches Panorama. Auf einen Blick sieht man die Kuppeln der Al-Aqsa Moschee und des Felsendoms, erahnt die betenden Juden an der Klagemauer dahinter und kann gleichzeitig die kleinere Kuppel mit dem Lichtkreuz sowie die große Rotunde der Wiederauferstehungskirche sehen, die sich gigantisch über das leere Grab erhebt. Von dieser Entfernung, mit der am Horizont im roten Licht versinkenden Sonne, strahlt dieser Ort eine unglaubliche Ruhe aus. Schon die ersten verworrenen Stunden in dieser Altstadt euphorisieren. Man wandert in kürzester Zeit durch verschiedene Länder, begegnet auf einem Quadratkilometer Menschen, die sich in ihren Lebensweisen derart eindrücklich unterscheiden, dass man an der Oberfläche dieses Tages meinen könnte, hier sei doch alles in Ordnung. Der distanzierte und friedliche Blick aus der Ferne verstärkt diesen Eindruck. Doch er verrät mehr, wenn man hinschaut. Man blickt auf die Ostmauern Jerusalems, durch dessen „Goldenes Tor“, das ebenfalls aus Kalkstein besteht, der jüdische Messias schreiten soll, um die Erlösung zu bringen. Doch es ist zugemauert. Je nachdem wen man fragt, erfährt man, dass der türkische Herrscher Süleyman der Prächtige es im 16. Jahrhundert schließen ließ, um genau das zu verhindern, oder, dass die Osmanen es nach der Kreuzfahrerzeit schlossen, um Nicht-Muslime daran zu hindern, durch das Tor auf das dahinterliegende heilige Plateau zu kommen und sie zu stören.
Als die Sonne untergegangen ist, nehmen wir den Bus zum Damaskustor, dem größten der acht Tore. Bei einem der vielen Straßenhändler versorgen wir uns mit Crêpes und gekochtem Mais. Das muslimische Viertel ist jetzt von deutlich mehr Polizisten oder Soldaten geprägt – man weiß nicht ohne Weiteres genau den Unterschied zu erkennen, da auch die Polizei mit schweren Maschinengewehren bewaffnet ist. Und auch direkt am Eingang zur Altstadt stehen jeden Tag beinahe rund um die Uhr einige bewaffnete Israelis. In unserem Hostel angekommen, sind wir dann überrascht, dass es unangekündigt kostenloses Abendessen gibt – Reis mit Kohlrabi, Möhren und Kartoffeln. Je nachdem, wie man die, jedes Mal vom ältesten Sohn des arabischen Betreibers gestellte Frage: „Are you vegetarian?“ beantwortet, wenn man sich in die Schlange neben der kleinen Küche auf dem Dach des Hostels eingereiht hat, bekommt man dazu gebratene Nüsse oder Hähnchen.
Wenig später sinken wir auf die harte Matratze unter dem steinernen Gewölbe nieder und schlafen schnell ein. Nachts hören wir es mehrmals laut knallen. Nach Feuerwerk hörte es sich nicht an, da waren wir uns beide einig, aber weder auf Twitter noch in europäischen oder israelischen Zeitungen stand etwas von einem Vorfall. Die Jerusalem Post berichtete lediglich groß, dass der Iran Jerusalem als Hauptstadt der Palästinenser anerkannt habe. Geweckt wurden wir dann auch sanfter von schwingenden Kirchenglocken und den kurz darauf über die Dächer der Altstadt schallenden Rufen der Muezzins.
Der nächste Tag bietet starkes Kontrastprogramm zu seinem historisch und religiös überladenen Vorgänger. Wir fahren wieder auf den Ölberg. Jedoch diesmal begrüßen wir die Sonne auf der Rückseite, während wir durch die Straßen der palästinensischen Kleinstadt at-Tur laufen. Erst laufen wir an einer taubstummen Familie vorbei, deren Kinder auf dem Brachland vor ihrem Haus spielen und energisch winken und sich über den anscheinend ungewohnten Anblick europäisch aussehender Touristenfreuen. Während wir weiter durch die arabischen Straßen laufen, sehen wir immer öfter den Davidstern an trümmerhafte Wände gesprüht, neben die sich neben arabischen Schriftzügen auch ein paar Hakenkreuze reihen. Aus fast jedem Müllcontainer, an dem wir vorbeikommen, springen zwei oder drei Katzen. Wenig später erblicken wir zum ersten Mal die Mauer, die Ostjerusalem seit der zweiten Intifada im Jahr 2000 von der Westbank trennt. Damals begründete die israelische Regierung den Bau damit, dass zu viele Selbstmordattentäter in die Stadt kamen und nur so Sicherheit geschaffen werden könne, während Palästinenser darauf erwidern, dass sie rassistisch und diskriminierend sei. Einige frisch gebaute Hochhäuser ragen über die acht Meter hohe und 700 Kilometer lange Betonwand. Das Kreischen spielender Kinder hallt herüber. Wenn man aufblickt, sieht man im Draht an der Oberkante über Meter hinweg die geworfenen Steine hängen. Aber die Wand selbst ist noch fast vollständig grau. Ganz anders im 18 Kilometer entfernten Ramallah, wo es kaum eine Stelle gibt, die nicht bemalt oder beschmutzt wurde. Hier sitzt neben 34.000 Einwohnern ein Teil der palästinensischen Regierung. Wir müssen den arabischen Bus nehmen, um dort hinzugelangen. Er fährt unregelmäßig und von einer separaten Busstation, aber nach einiger Fragerei finden wir den richtigen. Aus dem Bus sehen wir im Süden und Norden Rauchschwaden aufsteigen, doch wir werden in den Medien wieder nicht fündig und kommen ungehindert durch den mit schwerbewaffneten Soldaten besetzten Checkpoint in die Stadt. In ihr bietet sich ein geisterhaftes Bild. Es ist Freitagmorgen. Die Straßen sind staubig und leer. Unfertige grau-gelbliche Gebäude ragen nach oben, die metallenen Stäbe wie ein Skelett aus ihnen herausragend, manche ihrer Wohnungen trotz fehlender Fenstergläser bezogen. Wir steigen an der zentralen Busstation aus und gehen zu einem Markt, dessen Boden mit Papier, altem Gemüse und Plastikmüll übersät ist. Vor einem angrenzenden Kiosk steht ein Zeitungsständer. Die junge Palästinenserin Ahed Tamimi wurde verhaftet und ist auf den Titelseiten der arabischen Zeitungen. Auf unserem Streifzug durch die heruntergekommenen Straßen, die mit Autoleichen und Müllbergen gesäumt sind, kommen wir an das al-Am’ari Camp, dass seit 1957 aus Betonbauten besteht, die mittlerweile heruntergekommen sind. Durch ein hohes Tor betreten wir die engen Gänge zwischen den grauen Betonblocks, die immer wieder mit arabischen Parolen bemalt sind. Kinder rennen an uns vorüber ihrem breitschultrigen Vater entgegen. Es fängt leicht zu regnen an. Eine Seltenheit, denn selbst im Fruchtbaren Halbmond herrscht seit den 2000ern eine Dürreperiode, welche den ohnehin existierenden Wassermangel verschärft – und somit auch den Konflikt um den Jordan als essenzielles Süßwassergewässer, das an manchen Stellen nur noch ein kleines Rinnsal ist. Wenig später kommen wir auch hier an die Mauer, die wir nun entlanggehen. Die Graffitis sind ebenso sehenswert, wie die berühmter Streetartkünstler wie Banksy, die man an der Mauer in Bethlehem sehen kann. Parolen wie „From the river to the sea – Palestine will be free“ oder „See Trump, walls don’t work“ sind neben politischer Streetart und Konterfeis palästinensischer Personen wie Jassir Arafat, der in Ramallah wohnte, auf die Betongrenze gemalt, die sich wenige Schritte von Wohnhäusern entlangzieht. Auch hier spielen Kinder, die uns euphorisch mit einem wiederholten „Hello, how are you“, begrüßen. Immer dasselbe Bild einige Kilometer lang bis zum Checkpoint: pechschwarze Brandflecken von angezündeten Müllhaufen und politische Parolen, bis wir wieder in den Bus steigen und aufatmen. Wie üblich müssen bei der Durchfahrt durch den Checkpoint die Palästinenser für eine Passkontrolle und gegebenenfalls eine Durchsuchung aussteigen, während wir sitzen bleiben können und der Soldat nur einen kurzen Blick auf unsere Pässe wirft.
Der Konflikt entfaltet sich in ganzer Breite, nachdem wir an späteren Tagen – fernab von atemberaubender Flora und Fauna – Panzertransporte in der judäischen Wüste und am See Genezareth sahen, die Warnschilde vor Minen am Toten Meer und an den Golanhöhen lasen und von unseren Telefonanbietern per SMS in Jordanien und Syrien begrüßt wurden. Eine interessante Persönlichkeit, die das verkörperte, war der betagte Mann mit Hornbrille und Sandalen, der nun im Alter von 62 Jahren den Bus in seinen Runden um den See Genezareth lenkte, anstatt wie einige Jahrzehnte zuvor einen Panzer entlang der Golanhöhen. Er erzählte uns, dass er regelmäßig mit seinen Söhnen in Europa wandern gehe und dass wir uns in Griechenland bloß nicht als Deutsche zu erkennen geben sollten, weil sie uns dann verurteilen würden. Das sei ihm so passiert, er habe tatsächlich einen deutschen Nachnamen. Als ich ihn fragte, ob er glaube, dass bald wieder Krieg ausbreche, sagte er: „Sicher, sobald Syrien sich wieder gesammelt hat, werden sie den Golan zurückhaben wollen.“ Mittlerweile befinden sich dort umstrittene genossenschaftliche Siedlungen, sogenannte Moschavs. Auch er wohnt dort. Eine weitere Begegnung, welche diese Unsicherheit widerspiegelte, machten wir auf der Busfahrt nach Tel Aviv, wo wir die ganze physische und psychischen Belastungen bei ausgedehnten Spaziergängen durch das Bauhausviertel um den Rothschild-Boulevard und ergiebigen Museumsbesuchen verarbeiten konnten.Aber im Bus dorthin trafen wir Zion, der von seinen amerikanischen Freunden in Lakewood, New Jersey, immer Itzy genannt wurde. Der 27-Jährige zog vor einigen Jahren vor die Stadtmauern Jerusalems, weil es sich für ihn als Juden wie die richtige Heimat anfühlte, und verdiente nun sein Geld damit, auf Bar-Mizwas Piano zu spielen. Er liebe sein Land, aber eines sei sehr auffällig: „Die Menschen haben nicht unbedingt Furcht, aber ihnen ist bange“, sagt Itzy. Das jüdische Volk sei umzingelt von Ländern, die sie am liebsten tot sehen würde. So rechtfertigte er auch die große Militärpräsenz, die allgemeine Wehrpflicht.
Während eine Debatte über diesen Ort von erhitzten Gemütern und Polarisierung geprägt ist, verliert man häufig die Interessen des Gegenübers aus den Augen. Diese zu beachten ist jedoch essentiell, wenn es darum geht, eine friedliche Lösung für all die Probleme zu finden. Dabei kann man sich das Bild des Zauberwürfels ins Gedächtnis rufen und versuchen zu verstehen, wie unglaublich viel komplizierter sich die Lösung all dieser Probleme darstellt, wenn man allen Seiten gerecht werden will.
Text und Fotos von Lukas Schepers. 19. Jan’18