Diese kurze Geschichte handelt von Baron Werner-Georg von Trupp, man kann sagen, er ist unser Held. Ich verehre nämlich deutsche Barone! Baron Werner-Georg von Trupp erblickte in der ländlichen Umgebung Frankfurts am Main in einem beschaulichen, offenbar unbescheidenen, ja beeindruckend großen Haus, das inmitten von Wiesen und weiten Wäldern noch heute gedeihlich liegt, die frohe Welt – in einer Region namens Glauberg, wo einst die alten Kelten beheimatet waren.
Unser Baron – der Leser möge dem wohlwollenden Erzähler nachsehen, wenn er von nun an nicht mehr den vollen Geburtsnamen des Helden nennt, der ja für heutige Verhältnisse etwas arg Zurückstoßendes, dennoch Glänzendes zu haben scheint – ist heute Mitte vierzig. Er wusste sich von früh auf – trotz unübersehbarer Körperfülle – schicklich und modisch anzuziehen. Er betreibt seit seiner Jugend leidenschaftlich Körperhygiene, wenngleich er wie ein Laster seit seiner Kinderzeit manisch an seinen Fingern knibbelt, was er – nebenbei bemerkt – gerne leugnet. Sterilität ist ihm herausragend wichtig. Außerdem hat er ein außerordentliches Faible für schnelle Autos – möglichst laut, möglichst ohne Dach, möglichst Oldtimer. Hobbymäßig ist er nämlich Autosammler und entsprechend Mitglied in einem alteingesessenen Oldtimer-Verein von exquisitem Ruf, wo – ich habe es selbst erfahren müssen – die Bewilligung einer Mitgliedschaft eine ebenso verquere Angelegenheit zu sein scheint, wie der Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Europa. Auf seinen Adelstitel – der Baron – ist unser Held besonders stolz. Noch heute spürt er ein Entzücken, wenn Menschen in seiner Umgebung ihn Baron nennen. Zugegebenermaßen hat er es irgendwie geschafft, dass die Menschen annehmen, „Baron“ sei sein Rufname.
Als er noch als junger Mann Rechtswissenschaften an der Universität Bayreuth studierte, es aber nach zwei Jahren aufgrund eines unglücklichen Unfalls abbrach, da ihn wichtigere Familienpflichten vollends einnahmen, hatte er anhand des Familienarchivs zur Freude seines Vaters die Ahnenreihe der Familie von Trupp bis hin zum 17. Jahrhundert zurückverfolgt. Aus seinen Ergebnissen ließ er seinerzeit eine Familientafel herstellen, umrahmt mit Bronze – wirklich schön. Daran erinnert er sich noch heute gern. Und mächtig stolz war er, als ihm sein Vater – übrigens ein sehr aristokratischer, hochtaktierter Mensch, dem geflissentlich, fast pedantisch galante Umgangsformen kategorisches Gebot waren – das Lob aussprach: „Mein Junge, in deinen Händen [er war das einzige Kind!] ist das ewige Vermächtnis unserer tugendhaften und vorbildlich-betriebsamen Familiengeschichte wohlbehütet.“ Selbstverständlich hatte unser Baron den Vater, dem die Förmlichkeit ja sehr wichtig war, seinerzeit korrekt aufgefasst; er wusste, dass der Vater vom Familienvermögen sprach. Aber unumwundene Sprache und glanzlose Nüchternheit kommen in diesen Kreisen einer Peinlichkeit gleich, die man vermeiden sollte, wollte man ein gewissenhaftes und – wie der Vater seinem Sohn oft beteuerte – vorbildliches Leben führen. Dies beherzigte sich unser Baron in gewisser Weise. Jedenfalls hatte unser Baron in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die von Trupps ehemals angesehene Gutsbesitzer, besonders im einst idyllischen, ostfränkischen Gebiet waren, sich aber nach und nach mit dem unvermeidlichen Zwang der Zeit allmählich von ihrem großen Gut, das zunehmend mit Hypotheken belastet wurde, entsagen mussten. Das war sozusagen eine handfeste Notwendigkeit. Allerdings hatten sie – verglichen mit adligen Bekannten – Glück. Ein sogenannter Freiherr Otto-Wilhelm von Trupp – ein Urgroßonkel unseres Barons, dessen Porträt, gemalt von einem talentierten, aber im Wirbel der Geschichte vergessenen Künstler, heute im geräumigen Arbeitszimmer unseres Barons seinen Platz gefunden hat – hielt es gut mit Mathematik und hatte zudem einen unvergleichlichen Weitblick für Geschäftsentwicklungen. Er war verantwortlich dafür – und natürlich auch seine Laufburschen –, dass um die neunzehnte Jahrhundertwende die Grundlage des Lebensunterhalts der bedarfsreichen Familie von Trupp sich vom Gutsbesitz allmählich, aber kalkuliert auf die Industrie verschoben hatte, namentlich auf Eisen. In den Memoiren des Freiherr Otto-Wilhelm von Trupp hatte unser Baron auch mal irgendwo gelesen: „An die Nachfahren von Trupp … die Industrie ist komplizierter als eine Gutsverwaltung usw. …, aber sie ist spannender usw. … und geschäftsträchtiger usw. … man muss Pflichtgefühl und ein unbestechliches Kommando haben … usw. usw.“ (An dieser Stelle möchte ich dem Leser die unzeitgemäße Orthographie altdeutscher Adelsgeschlechter ersparen.) Unser Baron sah sich – insbesondere mit dem Abbruch seines „faden“ Jurastudiums, worüber er sich insgeheim freute – als sogenannter direkter Vermächtnisnehmer seines Urgroßonkels an. Aber eines begriff unser Baron wie viele seines Geschlechts nicht: Nämlich, dass seine adlige Ahnenreihe sich in den Verwicklungen des siebzehnten Jahrhunderts ohne Anhaltspunkte wie ein seidener Faden im Raunen eines Ozeans verliert, wo es lediglich mythisch heißt, dass Georg-Wilhelm-Friedrich von Trupp – der erste adlige Ahnherr der Familie von Trupp – „außerordentliche Dienste“ dem Landgraf Ernst Ludwig von Darmstadt-Hessen erwiesen hatte, die einen „nicht unwesentlichen Beitrag“ zum Aufkommen des Großherzogtums Hessen bewirkt haben sollen. Was die „außerordentlichen Dienste“ waren, das hat unser Baron bedauerlicherweise nirgendwo erfahren können, obwohl er darüber so lange, ja so lange in seinem großen Kopf – er hat wirklich einen großen, fleischigen Kopf – gegrübelt hatte. Tatsache war, dass ab diesem Zeitpunkt die Familie von Trupp zum Adel erhoben wurde.
Gerne denkt unser Baron noch heute über diese Umstände nach, wenn er in seinem Arbeitszimmer sitzt, die Klimaanlage dezent summen hört und das Porträt seines Großonkels mit innerer Genugtuung betrachtet. „Mein Geschlecht ist ruhmreich“, sagt er dann ohne alle Bescheidenheit zu sich.
Kurzum, unser Baron hatte die Kindheit eines Chefs, so wie sie mal ein unbestechlich denkender Franzose geschildert hatte; die Kindheit eines Chefs, mit Höhen und Tiefen und Scherereien und Verwirrungen und dergleichen – wie ein Lucien Fleurier. Was die heutige geistige Ausbildung unseres Barons allerdings betrifft, verhält es sich in der Tat so, wie es ein verwegener russischer Held, wohlgemerkt ein Adelsgenosse unseres Barons und Generalssohn, Nikolai Wsewoloschschschitschitsch…, kurz Stawrogin, formuliert hatte: „Da sieht man allerdings wieder einmal, dass die ganze zweite Hälfte des menschlichen Lebens sich gewöhnlich nur aus den in der ersten Hälfte angenommen Gewohnheiten zusammensetzt.“ Na – das sieht man auch glasklar bei unserem Baron! So steht es nämlich auch mit ihm, und wahrscheinlich – eher bedauerlicherweise – auch mit vielen anderen, doch die anderen gehen uns nichts an. So, jetzt wird der Leser einen ganzen Ansatz über die Persönlichkeit unseres Barons haben.
Kommen wir zu unserer eigentlichen, kurzen Geschichte. Unser Herr Baron verkehrt oft in Berlin, geschäftlich versteht sich. Früher verkehrte der Alte unseres Helden in Bonn, auch geschäftlich versteht sich. Wer Geschäfte macht, pflegt unser Baron zu sagen, kommt nicht um die liederliche Hauptstadt herum. Ich verstehe übrigens selbst nicht, warum unser Baron einen Widerwillen zur Hauptstadt konserviert, da er doch dort Geschäfte arrangiert – nebenbei bemerkt, ein gern gesprochenes Wort unseres Barons; Arrrang-gmont, wie er es gerne inflationär aus seinen üppigen Lippen presst. Die Geschäftsniederlassungen unseres Barons sind hauptsächlich in Frankfurt am Main und in Nordrhein-Westfahlen. Um möglichst vollständig zu sein: tatsächlich verzweigen sie sich wie unsichtbare Spinnbeinchen um die ganze Erdkugel. Aber man darf ja nicht alles beim Namen nennen! Denn das mag unser Baron nicht gerne: Öffentlichkeit. Er legt nämlich großen Wert auf Diskretion. Dann hat man seine Ruhe und kann ungestört arbeiten, spricht er gern in dem Zusammenhang in einem Ton, als wäre es eine Weltweisheit. Man muss ihm schon hoch anrechnen, dass er es versteht, sich wie ein Phantom in den komplexen menschlichen Beziehungen, in denen sozusagen der gesellschaftliche Kausalnexus gesponnen wird, unbemerkt auszubreiten. Ein unvergleichliches Talent, sage ich Ihnen! Wissen Sie, ich habe unseren Baron gründlich studiert – ja, das habe ich. Aber warum spreche ich denn von mir? Es geht doch um den Baron! Jedenfalls muss unser Held dann und wann nach Berlin – er arrangiert sich dort zuweilen auch mit Politikern höchsten Formats, den „aufgeblasenen Plebejern“, wie unser Baron sie zu nennen pflegt. Aber bei seinem letzten Ausflug nach Berlin hatte der arme – also arm im Sinne von bedauernswerte – Baron etwas Grauenhaftes erleben müssen, und das, obwohl er doch frei von aller Schuld, also ein Unschuldiger ist.
Vor circa zwei Wochen – dreizehn Tage um genau zu sein –, da geschah, wovor die Republik schon lange bangte. Man hatte es herausgefordert, aber ist trotzdem überrascht – komisch. Es war am Alexanderplatz, zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem unser Baron, zufrieden mit seinem kurz zuvor abgeschlossenen Arrangement, über den Alexanderplatz huschte. Zwei Männer, zwei Sturmgewehre, zwei Bombengürtel, zwei Explosionen, einige Tote, viele Verletzte, viel Schaden, viel Staub und Rauch, viel Polizei, einige Helikopter und viel Gerede – ein Attentat auf dem Alexanderplatz! Wer hätte das gedacht! Zugegeben: viele. Unser Herr Baron kam glücklicherweise unbeschadet davon, wenngleich er einige Tage zur Beruhigung seiner Nerven im Krankenhaus verbrachte: Privatpatient versteht sich. Nach all der unerwarteten Tortur und inmitten der Verwirrungen in der Republik, die seither nur noch von „Sicherheit“, „Verteidigung“ und „Je suis Alexanderplatz“ spricht, kehrte unser Baron, etwas betroffen durch die unmittelbaren Ereignisse, verschwiegen zurück nach Frankfurt. Ich muss ja sagen, seine Verschwiegenheit war sehr rätselhaft, denn sie war – bei einer solch herrischen Kraftnatur wie der des Barons – nicht die übliche, die einem tragischen Ereignis oder einem Schockerlebnis folgt, sondern vielmehr eine erregte Verschwiegenheit. Doch gut, dazu komme ich am Schluss meiner kurzen Geschichte. Seine Frau und seine zwei Söhne waren selbstverständlich sehr betroffen. Wobei ich schon zugeben muss, dass ich kürzlich durch eine Türöffnung im Haus des Barons zufällig hörte, dass der ältere Sohn – ich glaube, er ist Mitte zwanzig – seiner Freundin sagte, warum „der Alte in Berlin denn nicht ins Gras gebissen hat.“ Belassen wir es hierbei – Privatsache. Ich muss ja meine kurze Geschichte zu Ende erzählen.
Also: Das Ereignis in Berlin war schlimm, sicher. Die Menschen waren alle mit dem Terror beschäftigt, den man jetzt urplötzlich überall zu sehen meinte, wie ein blutiger Pferdefuß im Gewand des Gewöhnlichen. Er war in Religionshäusern, im Nachbarn, beim Bäcker, bei Beamten, auf der Nase eines Chemikers, zwischen den Zähnen eines Arbeitslosen, hinter den Gardinen, ja gar im Kindergarten und unter Tischen – ja, vor allem unter Tischen! – und sogar in Universitäten zu sehen; dieser Pferdefuß. (Solcherlei steht in der Zeitung! Ich dokumentiere lediglich. Ich kann es Ihnen beweisen! Wirklich, schauen Sie sich doch um!) Aber in den Firmenhallen unseres Barons lief bereits ein Tag darauf ohne besondere Vorkommnisse der allgemeine Geschäftsbetrieb nach gewohntem Gang fort. Hier und da murmelte man – wie immer – hier und da krachten die Maschinen – wie immer – und hier und da telefonierte man mit Partnern – wie immer – und hier und da… – ach ist ja auch egal! Doch unser Baron, ja er war merkwürdig verschwiegen, so als würde er auf etwas ganz Bestimmtes warten. Auf einen Anruf vielleicht, oder auf einen Besuch. Ich habe ihn die Tage hinweg genau beobachtet. Ich sage „merkwürdig“, da seine ganze angespannte Körperhaltung, der geheimnisvolle Winkel in seinem Mund und die mächtige Stirnfalte auf seinem großen, fleischigen Kopf, die täglich wuchs, würdig waren, sie sich zu merken.
Vorgestern – früh am Morgen – als der Baron vor die Fabrik gefahren wurde, trug sich folgendes vor. Wie üblich berichtete ihm sein Gefolge alle wichtigen Tagesinformationen, damit er auch bestens im Bilde seiner Fabrik und seiner Maschinen und seiner Arbeiter und seiner Besen ist. Als sie geschäftlich zur Eingangstür trippelten, brüllte jäh ein Arbeitsloser, Thomas, – ich weiß es, ich habe auch dahingehend gewissenhafte Nachforschungen betrieben! Jawohl! Er arbeitete mal für den Baron – ihnen hinterher. Der Baron und sein rattenschwanzhaftes Gefolge hielten kurz an. Dann brüllte Thomas wieder: „Ihr Terroristen! Ihr seid die Terroristen im Land! … usw. usw. usf.“ Der Rest ist nicht erwähnenswert, nur unsortiert. Unser Held, souverän wie immer, ging weiter seines Weges und gab kurz die Anweisung: „Falls der dort in einer Stunde immer noch hier verweilen sollte, rufen Sie die Polizei.“ Ja sicher – Herr Baron – sicher doch – ich verstehe doch – das Image – das ist heute eine ganz große Sache – und sicher – geschäftliche Diskretion – ich verstehe – wie Sie sehen – natürlich – ich sorge dafür – machen Sie sich keine Gedanken über Thomas. „Gut!“, antwortete unser Baron.
Nun, ich erwähne diesen sonst unbedeutenden Zwischenfall nur, da ich denke, dass er einen wichtigen Moment in meiner kurzen Geschichte füllt. Wie dem auch sei, der Geschäftstag nahm seinen üblichen Gang.
Gestern, ein Tag wie jeder andere, da habe ich den Grund der merkwürdigen Verschwiegenheit unseres Barons, den er seit „Je suis Alexanderplatz“ hatte, endlich begriffen – ein Bonmot mit blendender Erleuchtung. Kurz vor der Mittagspause kam ein Anruf ein – Ausland. Wurde weitergeleitet. Dann kam im Anschluss ein weiterer Anruf – Berlin. Wurde weitergeleitet. Dann wieder ein Anruf – Ausland. Wurde weitergeleitet. Und dann noch ein Anruf – Berlin. Wurde auch weitergeleitet. Alles Schlag auf Schlag. Nachdem unser Held – wie gerissen er doch ist! – den Hörer abgelegt hatte, da wurde mir alles klar. Der Urgroßonkel, Berlin, „Je suis Alexanderplatz“, Thomas, der ältere Sohn des Barons und vor allem die geheimnisvolle Verschwiegenheit unseres Helden. (Übrigens ist er heute wieder wohlauf. Die Verschwiegenheit – einfach weg, aufgelöst, er ist in alter Form.)
Sein Büro: alles Mahagoni, groß, stark, atemberaubend. Er schaute aus dem großen Fenster auf sein Gelände, sodass zunächst nur sein breiter Rücken zu sehen war. Er kicherte etwas – nun wie soll ich sagen – verrückt vor sich hin und rieb sich dabei die wulstigen Hände. „Kommen Sie her!“, sagte er dann feierlich. Er fragte, ob Thomas denn noch vorm Eingang streune, „dieser Mistkerl.“ Die Polizei hat sich darum gekümmert. Man hatte sie angerufen. Er war zufrieden mit der Antwort – ja, er war zufrieden, ganz sicher. Seine Riesenfalte auf der Stirn war auch weg und hatte eine Glätte hinterlassen, bei der man mich einen Schwindler beschimpfen würde, wenn ich heute von dieser Stirnfalte sprechen würde. Dann sprach er, so als hätte er mich mit einem Ebenbürtigen verwechselt: „Wenn Sie wüssten mein Herr, wer mich heute Vormittag angerufen hat! Hehe – ganz besondere, große, mächtige Kundschaft! Ein Arrrang-gmont, das seinesgleichen sucht – Hehe! Dieser Thomas, dieser Schwachkopf, arm wie ein Kneipenschlucker, aber etwas Geist hat er ja noch; aber halt nur etwas. Mehr Geist würde wohl auch seinen hässlichen Kopf zersprengen. Hören Sie, mein Herr, dieses dumme Ereignis in Berlin, ein Glück, ein Glück und nichts anders! Töricht, wer was anderes behauptet! – ich sage ihnen, wenn Terror nicht wär‘, wären wir nicht dieser Welt Herr! Wir brauchen diesen Pakt; verstehen Sie? Wir brauchen ihn, ganz wie unsere schwarzen Mäntel und unsere klimatisierten Autos. Er ist sozusagen die Geschäftsgrundlage unserer Existenz … Famos! Hören Sie – nun hören Sie! Ich hab‘ einen epochalen Einfall! Hören Sie den guten alten Wallenstein vom guten alten Deutschen Schiller. Sie kennen doch Schiller? Und Wallenstein? Als junger Mann habe ich ihn schon gerne gelesen. Nun hören Sie jene Brillanz:
Es denkt der Mensch die freie Tat zu tun, umsonst! Er ist das Spielwerk nur der blinden Gewalt, die aus der eignen Wahl ihm schnell die furchtbare Notwendigkeit erschafft.
Ist das nicht genial? Heute, mein Herr, heute bin ich die blinde Gewalt auf Erden, verstehen Sie das? – Wunderbar! Ich bin die blinde Gewalt – die anderen sind blind und ich sehe. Sie sind mein Spielwer…“
Ich nickte bloß ununterbrochen, war unheimlich nervös und als unser Herr Baron so fortfuhr, habe ich mich sehr fehl am Platz gefühlt, verschränkt zwischen den Mahagoni-Möbeln und dem großen Kopf des Barons, der hektisch hin und her wog. Zumal der große, fleischige Kopf unseres Helden ein sehr frenetisches, rotanlaufendes Antlitz erfahren hatte, das mir nicht behagte. Der Baron war nämlich zuweilen sehr launisch, gerade wenn die Geschäfte eben nicht gut liefen – oder auch, wenn sie gut liefen – und das konnte ganz schnell gehen. So schob ich mich seitwärts wie ein Stück Papier durch den offenen Türspalt aus seinem Büro und ging nachdenklich zur Mittagspause.
Ich biss in mein Käsebrot – und erst dann begriff ich, was mit unserem Baron vorging. Alles fügte sich nun zusammen.
Er ist – nun geben Sie es zu – ein genialer Mensch, eine Führernatur; vorbildlich, pflichtbewusst und sehr gebildet. … Sie haben Einwände? Ich bitte Sie: er zitiert Schillers Wallenstein unmittelbar nach einem großen Arrrang-gmont! Diese blinde Gewalt, die unermüdlich waltet! Und schon morgen – ja das kann ich ihnen beweisen! Schwarz auf Weiß! Handfest! Signiert! – schon morgen wird fleißig unser Material – das schöne, handfeste Metall, genehmigt und verpackt, zerronnen und schöpferisch – exportiert! Das mache ihm erst jemand nach … Morgen lese ich Schillers Wallenstein.
Ich will auch ein Baron sein.
Von Mesut Bayraktar, 04.April’17 / Illustration von Nadja Bamberger und Priska Engelhardt