Literaturkritik: “Naokos Lächeln” oder Hesse im Wald

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Ein jugendlicher Mensch befindet sich aus Mangel an Selbstbewusstsein in einer entwicklungsbedingten Ich-Zentrierung. Er befindet sich in einer intensiven Erforschung der eigenen Subjektivität. Zwar findet diese Erkenntnis in Wechselwirkung mit der, das Individuum umgebenden Gesellschaft, statt, doch bleibt die Entwicklung eines kollektiven Bewusstseins, bzw. eines Gefühls der Verantwortung für die Gesellschaft zumeist unterentwickelt. Zwar soll ein junger Mensch, der beginnt aus der Behutsamkeit der sanften Sicherheit und Führung der Familie sowie robusten Ordnung und Leitung der Schule zu treten, seine eigenen Schritte durch eigene Entscheidungen wählen; kurz, er soll auf eigene Suche gehen. Doch was ist, wenn ein ebensolcher junger Mensch, der suchen soll und sucht, ein ewig Suchender bleibt, ohne Halt und ohne Ziel? Es bei der isolierten Individualität bleibt, ohne ein politisches Ich zu entwickeln? Der Umgang eines jungen Mannes mit der Widersprüchlichkeit aus transzendierendem Ich und immanenten Wir, aus subjektiver Individualität und ideenbelebter Kollektivität ist Hauptthema Haruki Murakamis Werk „Naokos Lächeln“.

Sein wohl bekanntester Roman, erschienen im Jahr 1987, handelt von den ersten Semestern des musik- und literaturbegeisterten Studenten der Theaterwissenschaften Watanabe Toru zu Zeiten der weltweit aufrührerischen Studentenbewegungen der 60er Jahre. Es ist die Geschichte eines Suchenden zu Beginn seiner Reise und gleichzeitig zum Zeitpunkt gesellschaftlicher Unruhen, welche spürbar pulsieren und dabei geschichtlichen Charakter annehmen. Der japanische Titel „Noruwei no mori“, also norwegischer Wald, angelehnt an den Song der Beatles „Norwegian Wood“, könnte angesichts des Romans anstatt einer unerfüllten Liebe, auch die Zurückgezogenheit in norwegische Wälder bedeuten, da man sich den Anforderungen und Wandel der Gegenwart nicht gewachsen fühlt. Im Stile Murakamis später erschienenen Werkes „Kafka am Strand“ könnte man es eigentlich auch „Hesse im Wald“ nennen.

Als Leser begleitet man den 19-Jährigen Watanabe auf seiner Reise durch erste sexuelle Erfahrungen, selbstbestimmteres Lernen und Leben oder erste Gelegenheitsjobs, welche er durch zunehmende Zurückgezogenheit versucht zu verarbeiten. Gleichzeitig gibt Murakami, wesentlich aus Sicht Watanabes, Einblicke in die Protestaktionen Watanabes Kommilitonen und übt Kritik an beiden, dem Establishment und den Kritikern. Das Gesamtwerk spricht nicht nur junge Leser in ähnlichen Situationen an, sondern auch der lebenserfahrene Leser findet sich in einen Strom von Reflexionen wieder, die anregen können, ihn einige Erkenntnisse über Watanabe, wie auch über sich selbst gewinnen zu lassen.

bild-naokos-lacheln-lukas-und-nadjaDenn eines lehnt Murakami in seinem Werk durchweg ab: die Handlungen der Charaktere näher zu deuten. Watanabes Unfähigkeit ist auch die seinige. Watanabe bleibt seine eigene Situation, sowie seine Beziehung zu ihm nahestehenden Menschen, trotz intensiver Reflexion im Unklaren. Murakami überlässt Deutungen lieber dem Leser und fordert diesen ständig heraus, dies selbst zu tun. Einmal begonnen, fragt sich dieser wohlmöglich: „Warum versteht dieser junge, belesene Watanabe seine Situation nicht und warum wage ich es zu behaupten?“ Um zu schlussfolgern: „Es liegt an meiner eigenen Erfahrung, Erkenntnis und Geschichte.“ Und so beginnt parallel zur Geschichte Watanabes, sich die Erfahrung des Lesers zu beleben, im Inneren zu rumoren und als ständige Bezugsmenge zur Deutung und Wertung bereitzustehen. Dieser permanente Dialog mit der eigenen Vergangenheit vor dem Hintergrund Watanabes Geschichte, verschafft dem Leser die Klarheit, die Watanabe fehlt.

So beispielsweise, dass Watanabe die, durch zwei Schicksalsschläge schwer verstörte Naoko, lediglich als Objekt begehrt; er weiß eigentlich nichts über sie, ihre Gedanken und ihren Charakter, da seine tiefgründigsten Beschreibungen, solche der Tiefe ihrer Augen oder Rundungen ihres Körpers im Mondschein sind. Ganz im Gegenteil zu Midori, dessen Wesen sich wohlig in Watanabes Gegenwart entfalten kann und wie ein Zahnrad das Zahnrad Watanabes ankurbelt, ohne dass er sich selbst – einer Spieluhr gleich – extra aufziehen muss. Doch auch das begreift er nicht, ahnt es zumindest und lässt den Leser doch kurzzeitig verdutzt zurück, wenn sich zum Ende alles scheinbar offenbart, sich die glückliche Wendung klar andeutet und Watanabe trotz alledem in eine Art Wahnsinn verfällt und zusammenbricht. Ihm bedarf es der Zeit zur weiteren Reflexion seiner persönlichen, ergreifenden Geschichte; der erfahrenere Leser hingegen ist Watanabe einen Schritt voraus.

Einzig Inhalte aus Watanabes Studium ermöglichen ihm in seiner Situation ein wenig Durchblick. Ein durch Kommilitonen begonnener Streik wird nach kurzem Widerstand von der Universität zerschlagen, denn „ein gewaltiges Kapital war in sie investiert worden, und sie löst sich nicht einfach auf, nur, weil ein paar Studenten Krach schlugen.“ Watanabe entlarvt für sich die Querulanten als rückhaltlose Opportunisten ohne Eintracht, gespalten in ihren individuellen Interessen, Wünschen und Ängsten. Angesichts seiner Enttäuschung fühlt er sich an Euripides erinnert und die ihm gewidmete Theaterschreibweise Deus ex machina:

„Seine Stücke zeichnen sich dadurch aus, dass alles immer verworrener wird, bis die Charaktere weder ein noch aus wissen. […] alle sind auf der Jagd nach ihrer jeweiligen Vorstellung von Gerechtigkeit und Glück. Deshalb bringt im Endeffekt keiner etwas zustande.“, um dann zu schlussfolgern: „Zum Schluss erscheint ein Gott und regelt den Verkehr. […] Gott ist so etwas wie ein Reparateur, und am Ende läuft alles wie am Schnürchen. Das bezeichnet man als Deus ex machina.“

Es klingt nach einer Kritik an übermäßig individualisiertem Streben nach Glück und Gerechtigkeit und äußert gleichzeitig die Ahnung, dass hieraus der Wunsch nach externen Ereignissen entstehen kann, ausgelöst von Personen oder außenstehenden Mächten, die eine Lösung eines Konflikts bewirken. Diese Tendenz als Fatalismus erahnend, entscheidet Watanabe sich, in stiller Zurückgezogenheit zu leben, ohne seinen kritischen Reflexionen progressive Taten folgen zu lassen. Nichtsahnend der Fatalität dieser – vielleicht temporären – Entscheidung.

Den Ausspruch Hesses in Person Siddarthas „Wissen kann man lernen, Weisheit muss man finden.“ würde Murakami wahrscheinlich insofern kommentieren: ‚Doch bleibt der wissende Weise für sich, so wird er außerhalb seines persönlichen, eingebildeten Seelenfriedens nichts bewirken können; er bliebe ohne politisches Ich und somit – solange nicht in abgeschiedenen Wäldern lebend –  in der Gesellschaft primär fremddeterminiert.‘

Von Andreas Bill, 21.Sep’16 / Titelbild Illustriert von Edmada

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