Überleben – Fluch und Segen des Denkens

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Dem guten Bürger einer dem Kapital zugewandten Welt, dessen Kopf, möchte ich behaupten, wesentlich leichter, nicht mit Sorgen und Schmerz Milliarden Leidender auf unserer Welt, dem Verlangen nach Menschlichkeit, belastet ist, mögen sich gewisse Probleme gar nicht erst stellen. Er, wenn es ihm vergönnt ist, geht zur Schule, lernt alles für unsere Welt, für das Kapital und den materiellen Wohlstand Erforderliche. Er erlernt eine Tätigkeit, leistet Tag ein, Tag aus seine Arbeit, er funktioniert, lernt einen Partner kennen, zeugt Nachwuchs, kauft sich ein Haus, ein Auto, 2 Katzen und einen Kanarienvogel. Er stellt keine Fragen. Er, seine Katzen scheinbar überlebend, begleitet seinen Nachwuchs auf dem selbigen Weg. Seine Hoffnung erstreckt sich nicht weiter als auf seinen direkten Umkreis, der durchaus beeinflussbar ist. Diese Hoffnung ist greifbar, da sie verkümmert vor sich hinvegetierend, gut überschaubar ist. Für einen Menschen, der nicht nur theoretisch wissen will, dass er am Leben ist, nein, der es mit Leib und Seele fühlen will, ist dies ein trauriges Schauspiel, dessen Drehbuchschreiber gar nicht im Sinn haben, dass man es je versteht. Ausgestattet mit Scheuklappen, die das wahre Gesicht unserer Gesellschaft verbergen, wandeln sie stumpfsinnig, geleitet von unsichtbaren Fußfesseln, über die Bühne, bis sie zusammenbrechen und ersetzt werden.
Befreit man sich von diesen Scheuklappen wird es interessant. Man begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen dem Verlangen nach sozialer Sicherheit und dem Drang danach aus eben jenen, oben genannten Strukturen auszubrechen. Es ist die Sehnsucht nach einem Platz in einer Welt, nicht in dieser Welt. Kein bewusst lebendiger, klar denkender Mensch, kann in einer Welt leben, die darauf basiert, und nur darauf, dass andere Menschen bitterlich leiden, wie Sklaven ausgebeutet werden, hungern und nicht Eines der in unserem Teil der Welt so hochgeschätzten und umkämpften Privilegien genießen können. Die Hoffnung auf ein solches, in wohliges Unwissen gebettetes, den Schein von Zufriedenheit erweckendes Leben, ist diesem Menschen genommen. Hat man einmal vor seinen Scheuklappen hervorgelugt, verstört und zaghaft, der Gier nach Wahrheit folgend, gibt es kein Zurück.
Dieser Weg, beginnend mit ersten, schüchternen Vermutungen das mit unserer Gesellschaft etwas nicht stimmt, ist eine, oft steinige, Einbahnstraße, führend durch die höchsten sich vorzustellenden Gebirgslandschaften. Bei Donnerwetter. Der Beginn dieser abenteuerlichen Reise mag für den Einen ein Aufbruch voller Stolz über die neu entdeckte Fähigkeit des Denkens sein. Vorangetrieben von an Übermut grenzendem Tatendrang, stellt er sich selbstbewusst schmunzelnd dem kommenden Sturm. Die Gewissheit, dass nun das Schlimmste überstanden ist, dass alles Kommende nur befriedigender sein kann als das hinter ihm Liegende, bestimmt seinen Weg. Für den Anderen ist es ein verzweifelter Kampf um die eigene Identität. Die Erkenntnis über das sinnlose Unrecht in der Welt, über die systematische Verdummung und Verblendung des Volkes durch jede einzelne, das Leben beeinflussende Instanz. Der aufkommende Ekel, der einem schon beim Zuhören seiner Artgenossen die Kehle zu verschließen droht. Die Wut, die einen beim Blick in die neueste Tageszeitung oder beim Einschalten des Fernsehers übermannt und sich nach und nach in traurige Resignation zu wandeln droht. Die Gewissheit, von alledem kein unterstützender Teil sein zu können, ist übermächtig. Dass Gefühl, dass man als einziger auf der Welt bewusst seinen Text nicht gelernt hat und nur schüchtern, mit rotem Kopf, den Tränen nahe, in panischer Suche nach (Ant-)Worten stumm diesem unverständlichen Spiel beiwohnt. Die Sinnlosigkeit, der man zwangsläufig auf dieser Suche nach Antworten begegnet.
„Warum lebe ich überhaupt? Warum sitze ich in warmer Stube, bei warmem Essen und allem was meinen Körper weiterleben lässt. Warum bin ich es nicht, die schon mit 3 Jahren in Namibia verhungerte? Warum lebe ich, warum existiere ich, womit habe ich dieses Privileg verdient? Richtig. Mit rein gar nichts.“ Diese Fragen sollte sich jeder einzelne Mensch, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde seines Lebens stellen. Dass er es nicht tut, ist eine der tiefsten Ursachen, warum es so schwer ist, mit ihnen zu koexistieren. Sie spiegeln einem sein eigenes Nichtstun in Perfektion. Man sieht sie und denkt: „Nein, so hat das Leben keinen Sinn“. Gleichzeitig tut man quasi das Gleiche wie sie. Nichts. Nur fügt man seiner eigenen Rechnung das Denken hinzu und will, muss ausbrechen aus diesen Strukturen, um nicht vollends dem Wahnsinn zu verfallen.
Und doch vermag der Schritt zur tatsächlichen Tat, ein einzelner Schritt, sich heraus aus diesem Theater wagend, körperlich, aber vor allem geistig, einer der schwierigsten des Lebens zu sein. Der Verstand trennt sich, nach über 2 Dekaden Drill, nur unter stetigem Protest von einem Leben, dass für die ihn direkt umgebenen Artgenossen doch scheinbar so viel Glück übrighat. Das Verlangen nach etwas Greifbarem, nach Sicherheit, ist diese Sicherheit auch noch so stumpf und unbefriedigend, kämpft gegen das Ungewisse. Gegen die Wahrheit. Der Verstand beginnt sich zu regen. Zögernd beginnt man, als letzte Möglichkeit die Reise ins Ungewisse.
Nach der ersten Etappe erschöpft, von Selbstzweifeln geplagt, innehaltend, spaltet sich die eigene Identität plötzlich in drei Persönlichkeiten. Eine blickt aus toten Augen, das verlassene Leben mit aller Kraft und doch kraftlos verteidigend, sich in lebloser Sicherheit wiegend, aus der vergangenen Zukunft. Es will mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Umkehr drängen. Es ist, von Einsamkeit übermannt, nicht bereit, sich von dem Schein des Lebens zu trennen, es will scheinbar weiterleben, scheinbar weitergehen, zurück. Zurück zu denen ihr doch so traurig erscheinenden Wesen, die ihr nur ihrer äußerlichen Erscheinung nach die Befriedigung von Gesellschaft bieten können. Der zweite Kämpfer, gesichtslos lebend, ein scheinbares Leben mit Leidenschaft ablehnend, das letzte Maß an Hoffnungslosigkeit auslebend, will mit Hingabe stehen bleiben. Noch einmal alle Möglichkeiten abwiegend, will er seine Mitstreiter zur Kapitulation anheizen. Er ist sich bewusst, in die verlassene Welt nicht zurückkehren zu können. Er zieht den gelebten Tod dem toten Leben vor. Er ist der festen Überzeugung, dass es in diesem Leben, in dieser Welt, für ihn keine Alternative gibt. Blickt er zurück, sieht er eine sich selbst zerfleischende, in Gewalt, Ignoranz, Dummheit und Egoismus versinkende Gesellschaft, die ihn in eine das Leben bestimmende Depression ziehen wird. Blickt er nach vorn, sieht er Nichts. Sein Körper hat das ihn wegtreibende Leid in sich aufgesogen und sich durch dieses ersetzt. Er hat den Kampf um die eigene Existenz, um das eigene Leben, fast verloren und hat sich verwandelt, in ein denkendes Nichts. Es fleht nach Gnade. Nach dem gnädigen letzten Stoß, der es vom Denken, dem letzten Überbleibsel seiner einstigen Existenz befreit. Verzweifelt, schreiend und um sich schlagend, fleht es unter unsichtbaren Tränen nach der Erlaubnis, aufgeben zu dürfen.
Der dritte Kämpfer. Ein kleines, ihre Leidensgenossen aus traurig-fröhlichen, glitzernden Augen anblickendes Mädchen. Mit leiser Stimme zieht es die Aufmerksamkeit ihrer Mitstreiter auf sich, die ihre Anwesenheit bis zu diesem Punkt gar nicht bemerkten. Zurückhaltend, mit leidenschaftlicher Kreativität, ja kindlicher Neugier, möchte es wissen, was der weitere Weg birgt. Der Weg nach vorn. Es möchte nichts davon hören, ihrem noch in den Kinderschuhen steckenden Leben, in stumpfsinniger Anpassung, beim Verfall auf dem Weg zurück zuzuschauen. Gleichzeitig wehrt es sich kraftvoll gegen die Kapitulation. Es will kämpfen. Nicht gegen sich selber, ja nicht einmal für sich selber. Es möchte gegen das scheinbar Unbesiegbare kämpfen, dass ihre Genossen zu zerstören droht.
Mit sanften Schritten geht es, dem Schluchzen folgend, auf den Leidenden zu. Einfühlsam versucht es zu erklären, dass sie ihn, seiner Fähigkeit des Leidens wegen liebt, dass sie ohne diese nicht weiterleben könnte, dass sie sie braucht. Wäre sie angesichts des Leides, dass ihr gegenübersteht, der Fähigkeit des Mitleidens beraubt, woher wüsste sie dann, dass sie überhaupt fähig ist zu fühlen, was unterschiede sie von all denjenigen, die sie verabscheut? Sie braucht das Leid, um nicht in Einsamkeit zu versinken.
Dort, wo sie zuvor seine Hand berührte, beginnt sich plötzlich, zaghaft, nach und nach, eine Kontur zu bilden. Eine gefühlte Ewigkeit später sieht sie sich einer abgemagerten, aus hoffnungslosen Augen, in Dankbarkeit zaghaft lächelnden Gestalt gegenüber. Dem Leidenden wurde das schreckliche Gefühl der Einsamkeit genommen, das Gefühl, nutzlos zu Leiden. Im Moment der höchsten Trauer merkte er, dass er seine Identität nicht allein tragen muss, dass er Gesellschaft hat. Gesellschaft, die es verdient, dass er lebt. Dass ihn eben dieses Leiden lebendig macht. Hätte sich nicht das kleine Mädchen in letzter Sekunde zu Wort gemeldet, gesagt, dass es ihn zu schätzen weiß, dann hätte er keinen Sinn im Leben. Er braucht das Mädchen in gleichem Maße, wie das Mädchen ihn braucht.
Leise wendet sie sich den nun verstummten, nicht mehr ganz so leblos wirkenden Augen ihres zweiten Gefährten zu. Sie beginnt erneut zu reden. Auch ihm erklärend, dass sie ohne die ständige Vergegenwärtigung dessen, wovon sie sich entfernt, nicht weitergehen kann. Sie braucht Gewissheit darüber, was mit ihr geschehen würde, ginge sie zurück in die sie rufende Sicherheit. Die Kraft ihm zu widerstehen ist ihr Lebenselixier. Hätte sie nicht ständig eine Version ihrer selbst, in diesem einfacher scheinenden Leben vor sich, sie würde sofort umkehren, so enden wie der sie bereits ständig begleitende Gefährte und alles würde von vorn beginnen. Die Kunst ist auch nicht, dem einen das Leiden zu nehmen und dem anderen die Hoffnung zurückzugeben. Die Kunst ist, Beide auf stabilem Grat ihrer Gefühle zu halten, sie nicht abzustumpfen, ihnen aber auch nicht nachzugeben. In verwirrter Bewunderung für das Mädchen entschließt sich auch der Zweite, sie zu begleiten.
Gemeinsam, in dankbar melancholischer Einigkeit, gleichwohl wie in ständigem Kampf gegeneinander, machen sie sich auf den Weg ins Ungewisse. Sie laufen in Liebe zur Leidenschaft des Anderen ins Dunkel. Allmählich erkennen sie am Wegesrand Konturen und ihnen wird klar, dass ihr Weg nicht aus der Gesellschaft herausführt, sie gehen vielmehr als stille Beobachter einer anderen Welt immer tiefer in sie hinein. Noch stumm darüber nachdenkend, ob man diesen Wesen wohl dabei helfen kann, die in ihnen ruhende Fähigkeit des Mitleidens zu erkennen, welche zwangsläufig den Drang danach weckt, das eigene Leiden zu lindern, was bedeutet, diese Welt, in der das Leid in Fließbandarbeit ständig reproduziert wird, zu verändern, ihr Liebe und Mitgefühl einzuhauchen, jedem einzelnen Menschen auf der Welt, in gleichem Maße wie man es für sich selber tut.

Aus der 6. Ausgabe / Von Anja Polzin, 5.Juli’16 / Foto von Priska Engelhardt


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