Der Zufall

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Aufstehen Süßer…es ist an der Zeit die Augen zu öffnen. Der Tag bricht an. Hab keine Angst, es gibt keinen Grund zu weinen. Ich bin bei dir und ich bleibe auch bei dir, denn du bist mein Ein und Alles.
Wach auf Liebling…
K.s Augen öffneten sich. Das Echo eines zarten Hauchs hing ihm im Ohr. Wach auf. Diese Worte hatte er genau gehört. Er konnte sie noch immer schmecken, obwohl sie schon fort waren. Es war ein roter, ein bittersüßer Geschmack, wie der Kuss einer Frau, dachte K.
„Wie ich sehe, haben Sie an ihrem neuen Wecker gefallen gefunden?“
Ein Mann, den K. noch nie zuvor gesehen hatte, stand nur wenige Meter von seinem Bett entfernt. Seinem Bett? Die Stimme des Fremden, ließ seine Haut zucken und für einen Moment musste K. an Käfer denken, wie sie seine Beine hoch laufen. „Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier…Ich meine wo zur Hölle bin ich hier eigentlich? Was haben Sie getan?“. Zu seinem Entsetzen befand K. sich nicht mehr in seiner Wohnung, nicht mehr in seinem Zimmer und lag auch nicht mehr in seinem Bett. Statt zu antworten, starrte ihn der Fremde nur aus der Dunkelheit an. „Sie sollten nicht hier sein“, fügte K. schließlich matt hinzu, „und ich auch nicht.“
„Oh mein lieber Herr K., natürlich soll ich hier sein. Warum sonst sollte ich denn hier sein? Ich meine, jeder hat doch seine Gründe dort zu sein, wo er ist, meinen Sie nicht? Immerhin sind wir doch keine Tiere, die nur ihrem Instinkt folgen, oder besser gesagt, von ihrem Instinkt fremdbestimmt werden. Nein Herr K., wir sind doch Menschen. Wir sind doch frei!“. Eine so gewählte und höflich formulierte Antwort hatte K. nicht erwartet. Sein Gegenüber sprach so bestimmt, so korrekt, dass K.s Nervosität und sein Unbehagen sich verflüssigten und seinen Rachen hinunterliefen. „Frei? Ich glaube, ganz so weit sind wir Menschen dann auch wieder nicht.“
„Die Menschen vielleicht nicht, aber  Sie, Herr K. sind es. Um genau zu sein, sind Sie es ab dem heutigen Tage. Sehen Sie sich doch einmal um. Ach, Sie haben Recht, ich mache sofort das Licht an“, und schon klatschte der Fremde in die Hände und das Licht im Raume hellte sich aufdrängend auf. K. rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und sah sich staunend um. Er befand sich in einem geräumigen Schlafzimmer, ausgestattet mit allerlei der neusten technischen Gebrauchsgegenständen, die Möbel hingegen waren alt, fast künstlerisch fügten sie sich kontrastreich in den Stil des Zimmers. Die Wand zu seiner Rechten schien komplett aus Glas zu bestehen, allerdings versperrten ein paar blutfarbende Vorhänge die Sicht nach außen. Einige Bilder und moderne Gemälde hingen an den Wänden.
Ein ungläubiges Stöhnen löste sich aus seinem Mundraum und ließ sein Maul weit offen stehen, bis sein Blick endlich bei dem Fremden stehenblieb. K. konnte ihn jetzt genau sehen. Er war schon älter und so wie er gekleidet war, hätte man meinen können, er wäre schon viel älter. Der Alte erinnerte ihn an einen treuen englischen Butler, der begierig jeden Befehl seines Herren aufsaugte und lieber starb als bei dessen Ausführung zu scheitern. „Wo bin ich hier? Und wie meinen Sie das, ich bin ab heute frei?“
„Nun, das ist ihr neues Zuhause Herr K.. Sie wurden nämlich ausgewählt, ausgewählt für ein Leben in Luxus und Reichtum, ausgewählt für ein Leben frei von Anstrengung und Arbeit. Sprechen Sie nur ihren Wunsch aus und er soll geschehen. Sie brauchen sich nur zurückzulehnen, während wir Ihre Bedürfnisse befriedigen. Völlig egal, welcher Natur diese auch sein mögen“, erklärte der Alte zwinkernd und rieb sich dabei, die in weißen Handschuhen gehüllten Hände. Doch K. sah den Alten nicht, sondern nur seinen übergroßen Schatten, wie er ihn mimte. „Ich wurde ausgewählt?“, staunte K. unsicher, „mein Zuhause soll das sein? Ich verstehe nicht ganz, wieso denn gerade ich? Ja, sag mir warum gerade ich ausgewählt wurde?“
„Zufall“, versprach der Alte grinsend mit herunterhängenden Lippen. „Zufall? Das kann doch kein Zufall sein. Die ganzen Sachen hier, das Zimmer, das Haus, das kann doch nicht alles aus dem Boden gewachsen sein. Das muss doch Gründe haben!  Irgendwelche Leute haben sicherlich hart dafür gearbeitet. Ich meine, von nichts kommt nichts, oder? Und ich, ich habe doch nichts geleistet. Ich bin doch gerade erst hier eingetroffen, habe alles so vorgefunden, habe alles hier zum ersten Mal gesehen und Sie behaupten, alles sei meins? Nein, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen.“
„Mein lieber Herr K.“, begann der Alte in einem belehrend mitfühlenden Ton, der einer kaputten Oboe glich, die zwar ein warmes Brummen von sich gab, aber unfähig was die richtigen Töne zu treffen. „Sie sehen die Dinge auf dem Kopf stehend. Nicht auf der Arbeit, die in diesen Dingen und Leistungen steckt, sollte ihr Augenmerk liegen, sondern auf dem Geld, dass sie finanziert hat. Ihr Geld! Meinen Sie die ganzen Handwerker und Bauarbeiter haben dieses Gebäude erreichtet, um Ihnen einen Gefallen zu tun? Nein, ganz bestimmt nicht. Die haben gearbeitet, um bezahlt zu werden, die haben gearbeitet, um leben zu können. Diese Leute wurden bereits entlohnt. Sicher, diese primitiven Menschen hatten nicht das Glück im Leben, welches Sie erwartet, aber wir alle haben unsere Rolle zu spielen. Also hören Sie auf sich solche unnötigen Gedanken zu machen und genießen Sie lieber IHR Leben, welches nicht durch derartig lästige Strapazen beschränkt wird.“
„Aber ich habe doch gar kein Geld! Woher denn auch?“, insistierte K. aufgekratzt. Und obwohl ihm kalt war, ran ihm etwas Schweiß auf den von Geburt an vorgezeichneten Konturen seines Gesichts herab. Ihm war unwohl und er meinte zu spüren, wie seine Knochen im Inneren seines Körpers zu zittern und brechen begannen, wie getrocknetes Laub, das schon bei der kleinsten Berührung zu Staub zu zerbröseln droht. „Wieso wehren Sie sich nur? Gefällt Ihnen die Einrichtung nicht? Wir waren bemüht alles so zu gestalten, wie es ihren Vorlieben entspricht. Es war nicht günstig ein psychologisches Profil von Ihnen zu erstellen, also sagen Sie mir nicht, dass es Ihnen missfällt! Wir haben auf alles geachtet. Oh! Oh, oh, oh, oh und natürlich, sie haben das Beste noch gar nicht gesehen. Schauen Sie her.“ Aus seiner fein gebügelten Sakkotasche, fischte der Alte stolz lächelnd eine kleine Fernbedienung mit seinen spinnenartigen, dürren Fingern hervor und drückte freudig auf den flackernden Touchscreen, nach dem digital projizierten Knopf zielend. Im selbigen Moment rollte sich der Vorhang vor der Glasfront, wie eine Flüssigkeit in die daneben stehenden Wände ein und enthüllte ein Panorama ohnegleichen. Sie mussten sich ganz hoch oben befinden, denn die Aussicht war grandios. „Woow“, staunte K. unschuldig, „Wo sind wir hier? Was sind das für Berge? Und die Seen erst. Wirklich wunderbar. Das habt ihr wirklich gut gemacht. Ich liebe so schöne und unberührte Natur!“ K. stellte sich ganz dicht an die Glasfront und betastete sie mit den Händen, so als ob er nach den Bergen greifen würde. „Vielen Dank. Wir haben gehofft, dass es Ihnen gefällt. Nun, wollen Sie sich vielleicht noch den Rest ihres bescheidenen Apartments ansehen.“
„Nein, noch nicht.“, K. wollte weitergehen, er wollte mehr sehen und wissen, was noch Ungeahntes in seinen ahnungslosen Händen lag. „Ich…“,seine Sprache setzte aus. Die Wörter, die er aber auszusprechen wagen musste, nahmen in seinem Hals Form an und hielten sich mit aller Kraft an Zähnen und Zunge fest, sodass er sich beinahe dazu genötigt sah, jeden Buchstaben einzelnd aus seinem Mund zu pressen, „Ich…ich kann das nicht akzeptieren! Und mich beschleicht das Gefühl, dass, wenn ich den Rest sehe, ich mich nie wieder umdrehen werde; Ich mich nie wieder fragen werde! Das kann einfach kein Zufall sein, es muss einen Grund geben und…und das kann doch nicht gerecht sein. Sehen Sie doch, so einer wie ich…wieso nur?“, brachte K. letztlich aus den Schlachtfeldern seines Mundraums hervor. Sein Gegenüber, der Alte, dem diese Melodie keineswegs unbekannt schien, schüttelte verschwommen den Kopf. „Wie Sie wollen mein lieber Herr K. Sie glauben also der Zufall, der sich in ihrem Fall, als Glück geäußert hat, sei ungerecht. Der Zufall? Nein, mein Lieber, die Wahrheit ist, nur der Mensch ist dazu fähig ungerecht zu sein, nichts und niemand anderes. Der Zufall hingegen, kennt diese Kategorie gar nicht. Er entscheidet völlig willkürlich und wenn Sie mich fragen Herr K., also so ganz unter uns, ich finde, dass in der Willkür, ja in der Willkür bereits eine ganz klare Gerechtigkeit liegt. Denn sofern alle die gleichen Chancen haben, ist es doch überhaupt nicht schlimm, wenn man als Verlierer dasteht. Man hatte doch die gleichen Chancen! Meinen Sie nicht?“, fast väterlich krochen die Silben des Alten, einem Tausendfüssler gleich, in K.s Ohren und dann weiter in seinen Verstand.
Unangekündigt sprang der Wecker an:
Hör auf dich zu wehren Liebling. Hör auf zu kämpfen und lass mich dich umarmen. Ja, hab keine Angst, denn ich bin doch bei dir.
Verführerisch und weich, bebten auch diese Worte in K. nach.  Diese Stimme?
„Können wir also weiter Herr K?“, der Alte grinste und hielt K. seine Hand entgegen, die nun vollends einer in weiß gehüllten, schwarzen Witwe glich. „Nein!“, schrie K. wutentbrannt und schlug dabei mit der Faust auf die Glaswand neben ihm. Ein kleiner Riss breitete sich wie ein Spinnennetz über die Oberfläche aus, wodurch das Panorama verzerrte. „Ich glaube weder dir noch ihr! Gleiche Chancen? Zufall? Das sind doch nur Ausreden! Ihr wollt mich nur klein halten! Ihr wollt mich nur dumm halten! Du sagtest es doch selbst alter Mann, wir sind doch keine Tiere, wir sind doch Menschen! Ja, ich will ein Mensch sein. Ein richtiger Mensch, aus Fleisch, Blut, Geist und Verstand. Und ja, ich will frei sein, aber nicht so! Das ist keine Freiheit, die du mir da anbietest, das ist ein Kerker im Kerker! Merkt euch das, Beide! Denn ich bin kein Kind mehr. Der Zufall kann nicht ewig der Vorhang vor eurem Gewissen sein, denn eines Tages wird er reißen und dann werdet ihr sehen, dass ihr euren vermeintlichen Zufall zu einem falschen Schicksal erhoben habt. Einem Gefängnis! Einem Loch, tief unter der Erde aus dem es kein Entkommen mehr gibt! Und dann werdet ihr klagen, so wie die kleinen Kinder, die ihr noch seid. Ihr werdet jammern und beschwören, keine Ahnung von all dem gehabt zu haben! Lügen werdet ihr, ihr Feiglinge!“ K.s Ansprache floss aus ihm heraus wie ein strömend kochender Wasserfall, „Hörst du mich alter Mann! Hiermit erkläre ich den Zufall für tot! Für tot habe ich gesagt! Ich will dein Zuhause, dein Geld und vor allem deine Freiheit nicht. Also scher dich zum Teufel!“ Den schwankenden Bergen in seinem Rücken gleich, stand K. vor dem Alten, der schockiert seinen Herren ansah, seine Hand fallen ließ und sagte: „Ich verstehe Sie nicht Herr K. Wieso nehmen Sie unser großzügiges Angebot nicht an? Sowas habe ich noch nie erlebt! Ich meine, gerade Ihnen, ja Ihnen wollen wir doch ausschließlich Gutes. Mag sein, dass der eine oder andere vielleicht für ihr Glück leidet, aber seien wir ehrlich, wen schert das schon? Was soll diese Moral, dieses scheinheillge Mitgefühl?“
„Haben Sie denn gar nicht zugehört? Mich schert das, weil ich ein Mensch sein will, verdammt! und kein Tier. Weil ich weder von meinen Instinkten, noch von einer blinden Masse fremdbestimmt werden will.
Weil ich nicht so sein will, wie Du oder Sie, voll von falschen und trügerischen Gedanken und Worten. Weil ich noch ein wenig Selbstachtung bewahren möchte, weil das Leben ohne Sinn noch immer angenehmer ist, als mit eurem Wahnsinn! Und jetzt lass mich alleine, sonst schmeiße ich dich eigenhändig aus diesem Fenster dort!“
„Nun, dann leben Sie wohl Herr K., Sie haben ein Leben in Dummheit und Armut gewählt. Aber seien Sie unbesorgt, ganz so leicht machen wir es Ihnen dann doch nicht, denn aus dieser Welt gibt es kein Entkommen. Sie hören von uns.“ Und als er dann ging, sah K. wie der Schatten des Alten seinen Projektor fraß und durch den offenen Spalt der Tür entwich.
Das kannst du nicht! Tu mir das nicht an. Schick mich nicht auch fort, bitte!
Entschlossen griff K. nun nach dem Wecker. Dem Wecker mit der Stimme einer Frau, die er schon oft hat sprechen hören. Er griff nach ihm und warf ihn mit voller Wucht durch die Glasfront, wodurch das Panorama in tausend kleine Teile zersprang. Tausende kleine Teile, tausend kleine Scherben, tausend dreiste Lügen. Denn was sich hinter der digitalen Glasfront verbarg, bestätigte ihm jedes seiner Worte und er wusste nun, dass es nur dieses eine richtige Leben im Falschen gab, dass es nur diese eine Freiheit gab in ihrer Welt des Zufalls.

Aus der 6. Ausgabe / Von Kamil Tybel, 5.Juli’16 / Illustration von Priska Engelhardt


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