Bürgertugenden

Ich, tugendloser Mann,
Suche bürgerliche Tugenden
Unter Atmenden
Überall, wo ich nur kann.
Umgeben von sattem Reichtum
Bin ich Gefangener meiner Zeit im armseligen Bürgertum.
Darum halben – und mit Unruhn –
Suche ich, Tugendloser.
Tugenden suche ich,
Suche und suche als Trostloser
Menschliche Tugenden bei Bürgern nur für mich.

Die Alten – Griechen und Römer – sagen
In der Tugend läge das glückselige Leben.
Sie fügen aber hinzu: wenn die Tugend der Tugend wegen
Gesucht werde, ohne Betrug und ohne Klagen.

Doch heute unter Bürgern scheint’s nicht leicht
Glückselige Leben zu finden.
Zueinander sind alle so dumpf und seicht,
So beginnt das aufrichtige Herz jäh zu erblinden.
Gleichwohl! Ich will die Tugend nicht neu erfinden,
Unmöglich! Sondern mit dem Aug‘ genau schaun,
Wie alle einander tugendhaft das Menschliche beraubn:

Gemäß den Gesetzen des Geldes sachlich,
Um Profit fürs Portfolio zu entdecken.
Beim Handschlag mit ihr‘m Nächsten arrangiert moralisch,
Um ihr‘n skrupellosen Egoismus zu verdecken.

Was ist der Bürger dem Bürger?
Politische Kuriosität
Oder soziale Kalamität
Oder gar Menschenerwürger?
Sei’s drum, das Credo: mentale Brutalität!

Im Winkel freundlichen Lächelns heuchlerisch,
Um gegenseitige Geringschätzung zu verdecken.
Vor den staatlichen Gesetzen immerzu gutgläubig,
Um eigene Verbrechen Armen zuzustecken.

Was ist der Bürger dem Bürger?
Politische Kuriosität
Oder soziale Kalamität
Oder gar Menschenerwürger?
Sei’s drum, das Credo: rechtliche Brutalität!

In Sprache und Wörtern erfinderisch,
Um die Wahrheit der Unterdrückten zu unterdrücken.
Allzeit und allseits geschwind hinterlistig,
Um fürs Geschäft Brotabhängige zu zerdrücken.

Was ist der Bürger dem Bürger?
Politische Kuriosität
Oder soziale Kalamität
Oder gar Menschenerwürger?
Sei’s drum, das Credo: humanitäre Brutalität!

Fürwahr, ist das denn ein Geheimnis?
Alle wissen: Die größte bürgerliche Tugend ist,
es zu verstehen, Geld zu verdienen,
aus der doch alle andere bürgerliche Tugend ersprießt.
Und dabei gebären sich alle so lächerlich, so scheinverschieden,
während einer den andern frisst.

Nun,
Wieder, was ist das Bürgertum?
Und wieder, das ist des Bürgers Ruhm!
Also entscheide nach Erfahrung und täglichem Tun,
Ist der Bürger dem Bürger jetzt intelligentes Raubtier oder dummes Huhn?
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Wie einst die Alten die Tugend priesen
heißt heute „tugendlich“, Lügen zu beschließen.
Tugendhaftigkeit ist heute unmöglich,
die Alten konnten wahrhaft tugendlich sein,
denn ihre Sklaven machten es ihnen möglich.
Heute aber sagt man nicht offen: dieser Bursche ist mein!
Das gehört sich nämlich nich‘.
Man macht es hingegen diskret und ganz fein:
Nämlich schön arrangiert kontraktlich.

Denn Geld hat man
Oder man hat es nicht;
Aber darüber – so lehrt’s der heutige Ehrenmann –
Spricht man nicht.

 

Von Mesut Bayraktar, 20.Juli’16


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