„Arbeit tut Öl auf die Lampe des Lebens, Denken aber entzündet sie.“
(John Bellers)
Ich gucke auf die Uhr. Dass ich die Zahlen im Grunde hätte erwarten müssen, ändert wenig an dem Schrecken in meiner Reaktion. Gerade einmal 10 mickrige Minuten sind vergangen?
Auf die erste Ernüchterungsphase folgt das Rechnen, wie viel ich schon geschafft habe und was das für meine restliche Zeit bedeutet. Sind es 1/5 der ersten Hälfte oder gar 1/3 der Zeit bis zur ersten Pause? Immerhin vergehen während dieser jämmerlichen Rechenübungen wieder ein paar Sekunden – und jede Sekunde zählt!
Vor jeder Schicht sage ich mir, dass 7 1/2 Stunden doch nicht viel sind, dass anderswo auf der Erde die Menschen froh wären über einen solchen Arbeitstag, dass ich über sinnvolle Dinge nachdenken kann während der Arbeit, kurz alles Mögliche, von dem der denkende Part meines Gehirns ganz genau weiß, dass es nicht stimmt.
Eine halbe Stunde später stehe ich wieder zwischen Waren und Maschine.
Die Zeit vergeht nicht, was andere Menschen auf der Welt machen, könnte mir gleichgültiger nicht sein und so sehr ich mich auch anstrenge, ist es mir nicht möglich, einen sinnvollen Gedanken zu fassen.
Und das obwohl meine Aufgabe nicht im Geringsten den Gebrauch meines Verstandes erfordert. Ich tue nur das, was die Maschine vor mir befiehlt und sie befiehlt mir nur soviel, dass mein Verstand nie bemüht werden muss. Selbst wenn ich aufgrund kompletter geistiger Abwesenheit einen Fehler begehen sollte, weist die Maschine mich mit einer knallroten Anzeige darauf hin. Man könnte diese Anzeigen vergleichen mit dem Hinweis des Aufsehers, gefälligst besser zu arbeiten. Hilft dies nicht und der Arbeiter macht weiterhin Fehler, greift auch die Maschine, genau wie ihr menschliches Pendant, zu drastischeren Methoden und gibt einen schrillen, Gehirnzellen vernichtenden Ton von sich – sie schreit einen an. Logischerweise schreit sie nicht nur einen bestimmten, sondern alle ihre Untergebenen an, doch das nimmt sie in Kauf. Vielleicht will sie das sogar, da dadurch alle anderen darauf aufmerksam gemacht werden, was passiert, wenn sie nicht ordentlich arbeiten, nicht tun, was die Maschine befiehlt.
Aber zurück zu meinem Verstand. Warum kann ich ihn nicht benutzen, wo die Arbeit ihn doch nicht erfordert? Ich denke es liegt zum einen an der schieren Zeitmasse, die ihm zur Verfügung steht. Denn selbst wenn es einem Arbeiter gelingt, einen interessanten Gedanken zu entwickeln, so kann er diesen nicht aufschreiben und müsste ihn für viele weitere Stunden behalten. Aber wie soll er diese überstehen, was soll er währenddessen denken?
Außerdem bleibt immer der Gedanke vorherrschend, wie lange es noch bis zum ersehnten Ende oder wenigstens zur nächsten Pause ist. Daher auch die an Häufigkeit genauso wie Nutzlosigkeit kaum zu übertreffende Kontrolle eines Zeitmessgerätes. Als ob die Zeit sich totschlagen lässt, indem man ununterbrochen an sie denkt. Genau das scheint sie ja gerade zu mögen – dass an sie gedacht wird. Und weil sie das tut, will sie natürlich nicht, dass diese Momente im Rampenlicht des hoffnungserfüllten Menschenauges allzu schnell vorbeigehen und kostet sie lieber aus – langsam und genüsslich.
Aber ich schweife wieder ab. Nebenbei bemerkt das Beste, um die Zeit zum gefühlt schnelleren Ablauf zu bewegen. Doch es stand noch die Frage aus, warum sinnvolle Gedanken nicht möglich sind. Neben den bisher genannten Gründen wird wohl vor allem die gesamte Atmosphäre das Ihrige dafür tun. Ständige Überwachung durch Mitmenschen, denen es im Grunde genauso dreckig geht, wie einem selber, die aber nach etwas Zahlendreherei auf ihrem Gehaltszettel und dem Empfang einer gelben Weste mit der Aufschrift „Koordinator“ diesen Umstand vollständig vergessen zu haben scheinen und fortan den Maschinen umso eifriger dienen. Dazu ein Geräuschpegel, an den man sich nur gewöhnen kann, indem der produktive Teil des Gehirns ausgeschaltet wird und eine Luft, die einen ununterbrochen daran erinnert, auf die Uhr zu gucken um zu überprüfen, wie lange dieses Gasgemisch noch ertragen werden muss.
Auch wenn praktisch alles Menschliche in einem abgestellt wird und man seine eigene Verwandlung in ein maschinenähnliches Etwas hautnah miterleben kann, so war mir trotzdem möglich, ein Gefühl zu empfinden. Dieses Gefühl war nicht etwa Verständnis oder Aufopferungswille, nein es war Hass. Ich hasste die Maschinen.
Mir, einem menschlichen, denkenden Wesen, sagen diese toten Metallkonstruktionen, was ich zu tun habe, wie schnell ich es tun soll, was ich dabei falsch mache – einfach alles, wofür ich diese 7,5 Stunden Lebenszeit aufzuwenden habe. Sie stehen arrogant und immer gleich aussehend da, während ich kontinuierlich älter werde und das wahrscheinlich sogar noch in vielfachem Tempo, wenn Lärmpegel und schlechte Luft noch mitberechnet werden.
Ich werde nicht nur benutzt, nein ich werde verbraucht. Von einer Maschine!
Die Menschen haben sich vor langer Zeit die Naturkraft zu Eigen gemacht, die schier unbegrenzten Möglichkeiten der Physik erkannt. Eine geniale Erfindung jagte die nächste. Endgültig hat sich die menschliche Spezies von allen anderen abgehoben und dies jedes Jahrzehnt aufs Neue bewiesen.
Die Maschinen sollten das Leben der Menschen erleichtern, indem sie uns von Arbeit befreien. Nun stand ich heute einer eben solchen Maschine als Untergebener gegenüber. Inwiefern hat sie mich befreit? Hat sie nicht vielmehr nur denjenigen von Arbeit befreit, der die Maschine, an der ich arbeite, besitzt?
Letztlich wurde der Lebensinhalt einiger Weniger von Arbeit befreit und für den absoluten Großteil lediglich die Arbeit von ihrem Inhalt.
Was habe ich denn den Tag über geleistet, davon abgesehen einer Maschine gedient zu haben? Die Waren, welche ununterbrochen durch meine Hände gingen, habe ich zum ersten und letzten Mal gesehen. Ich weiß weder, wie oder wo sie produziert wurden, noch an wen oder für wie viel sie weiterverkauft werden. Nichts verbindet mich mit diesen Produkten, außer dass mir die Maschine sagt, was ich mit ihnen zu tun habe.
Für wen arbeite ich dann?
Mein Lohn wird mir gezahlt von einer Firma, die Arbeitskräfte verleiht an einen Logistikkonzern, der wiederum von einer GmbH dafür bezahlt wird ihre Produkte zu verteilen und diese GmbH gehört ihrerseits zu 100% einer Aktiengesellschaft. Den an dieser Gesellschaft beteiligten Leuten gehört folglich die Maschine, die mich 7 1/2 Stunden am Tag verbraucht. Und nach mir das gleiche mit einem anderen tut. Diesem folgt dann ein Dritter für dieselbe Zeit und dann bin ich wieder dran.
Ein ewiger Kreislauf.
Bis auf die 1 1/2 Stunden von den Arbeitern erkämpfte Pausenzeit läuft die Maschine ununterbrochen und benutzt zu jeder Tageszeit Menschen, die ihre Befehle ausführen sollen.
Da es sich um primitivste Tätigkeiten handelt, ist es auch völlig egal welchen Alters, Geschlechts oder Bildungsniveaus die benutzten Menschen sind. Die Maschine ruft pausenlos nach lebendigem Menschenmaterial, jedoch ohne die Haupteigenschaft von diesen, die Fähigkeit des eigenständigen Denkens, zu benötigen.
Ein toter Mechanismus beherrscht und verbraucht die Arbeitskraft lebendiger Wesen. Dies tut er im Auftrag von Menschen, die weder den Mechanismus noch die lebendigen Wesen kennen, sondern nur die Vermehrung eines weiteren toten Gegenstandes zum Ziel haben – des Geldes.
Um die Versorgung mit Menschenmaterial kümmern sich in der Regel gleich mehrere Firmen. Denn die Hauptsache ist, der Kreislauf wird nicht unterbrochen. Außer natürlich die Eigentümer jener Maschine wollen das. Jederzeit kann irgendwo in einer fernen Stadt, vielleicht sogar einem fernen Land, in einem Büro von Menschen, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen wollen, beschlossen werden, den Kreislauf zu stoppen. Dann werde ich logischerweise nicht mehr gebraucht und gezwungen mir einen neuen Maschineneigentümer zu suchen. Ändern wird sich für mich selbstverständlich nichts. Es sei denn, ich würde eine andere Tätigkeit erlernen, bzw. überhaupt eine. Jedoch hat dies wahrscheinlich Jahre der Unsicherheit und finanziellen Bedrängnis zur Folge und am Ende kann mir keiner garantieren, dass ich nicht wieder in demselben Kreislauf lande. Vor allem, da ich mich beim auf die Ausbildung folgenden erbitterten Kampf um einen Arbeitsplatz gegen andere durchsetzen müsste, die jünger sind und eine Frische besitzen, an die ich nach Jahren der Primitivität nie herankommen werde.
Wenn man das berücksichtigt, ist meine Wahl am Ende eigentlich auch nur theoretischer Natur und früher oder später muss ich mein Schicksal sowieso wieder in die Hände eines investitionsfreudigen Aktionärs, bzw. seines Geldes, legen.
Mein Gehalt bleibt voraussichtlich gleich oder sinkt ein wenig aufgrund des intensiveren Konkurrenzkampfes zwischen den Maschinenbesitzern. Ich werde weiterhin tun, was mir die Maschine sagt und genau wie vorher an oder mit mir völlig fremden Produkten arbeiten. Alle paar Sekunden werde ich auf die Uhr schauen und hoffen, dass ich doch wieder abschweifen möge, damit derselbe Vorgang beim nächsten Mal ein weniger enttäuschendes Ergebnis hat. Die von Machtgelüsten betäubten, ihre Menschlichkeit vergessenden „Koordinatoren“ werden genauso wie das Schreien der Maschinen dafür sorgen, dass ich meine Arbeit schnell und sauber ausführe. Meine geistige Verstumpfung wird nach einer bestimmten Zahl an aufeinanderfolgenden Arbeitstagen langsam aber sicher zu einem Dauerzustand werden.
Ich werde nicht widersprechen, nicht denken, nicht leben. Ich werde dieser Maschine dienen und allen weiteren, die mir von denkenden Menschen in stilvoll eingerichteten Büros bei einem Cappuccino zugeteilt werden.
Ein Leben lang – befreit vom Denken.
Von Daniel Polzin, 19.Juli’16
Illustration von Priska Engelhardt
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