In der Tat! In der Türkei findet ein Massaker statt. Das ist nicht zu leugnen. Dieses Massaker ist der gewaltsame Ausdruck krasser gesellschaftlicher Kollisionen, die ihre Ursachen in den gesellschaftlichen Kämpfen selbst haben. Daher ist sie historischer Natur. Die gesellschaftlichen Kämpfe sind wiederum durch ökonomische Interessen bedingt. Diese handfesten ökonomischen Interessen lösen sich bei genauer Betrachtung in bestimmte gesellschaftliche Klassen einer kapitalistisch produzierenden Gesellschaft auf, aus deren, um den Zirkel zu schließen, Widerstreit die Kämpfe innerhalb der Gesellschaft folgen.

In der letzten Schrift, die vor den Neuwahlen im November 2015 am 22. August verfasst wurde, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Türkei im Teufelskreis befindet und dieser circulus vitiosus nur dadurch unterbrochen und aufgehoben werden kann, wenn der sultanische Erdogan mit seiner islamisch-konservativen AKP abdankt bzw. zum Abdanken politisch gezwungen wird oder die HDP, samt kurdischer und anderer unterdrückter Bevölkerungsteile politisch annulliert, d.h. vernichtet oder gleichgeschaltet werden, jedenfalls „so oder so“ ein Bürgerkrieg heraufziehen würde. Denn, konstatierten wir, Parteien sind organisierte Repräsentationen unorganisierter Bevölkerungsklassen. Ihre politischen Konflikte, die auf der Oberfläche stattfinden, sind Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte, die im Hintergrund gefochten werden. Unsere Prognose, insbesondere im Hinblick auf bürgerkriegsähnliche Zustände, hat Recht behalten!
Mit der letzten Schrift haben wir die Kämpfe auf der Ebene der organisierten Repräsentationen, also der Parteien, der politischen Ebene untersucht und dadurch die gesellschaftlichen Kämpfe impliziert. Wir bewegten uns auf dem offiziellen Boden. Nun wollen wir untersuchen, wie die Kämpfe auf dem Boden der Gesellschaft geführt werden, also die Struktur der Kämpfe zwischen den Bevölkerungsklassen untersuchen, aus deren Kämpfen der offizielle, politische Kampf, d.h. der Kampf um die Macht, um den Staatsapparat, folgt. Denn, zusammengefasst, der politische Kampf ist der offizielle Ausdruck inoffizieller gesellschaftlicher Kämpfe. Warum sonst gibt es Parteien? Sie sind nicht einfach a priori da, sozusagen von Gottes Gnaden in die Welt gestürzt. Die gesellschaftliche Bewegung selbst produziert ihrer klassenmäßigen Struktur nach entsprechende klassenmäßige Parteien. Darin ist die politisch herrschende Partei eine spezifische Fraktion der herrschenden Bevölkerungsklasse, die sich in unterschiedliche Absetzungen auflöst. Eine herrschende politische Partei, hier die AKP, ist in zweifacher Weise herrschend: sie herrscht erstens nach innen als spezifische Fraktion ihrer Bevölkerungsklasse, nämlich des Kapitals, über die anderen Fraktionen innerhalb ihrer Bevölkerungsklasse. Zweitens beherrscht sie den Staat nach außen, d.h. sie ist die politische Macht, durch die sie in offizieller Gestalt der allgemeinen Macht gegenüber anderen Bevölkerungsklassen auftritt und über diese herrscht. Das ist die Herrschaft nach außen. Nicht die Parteien produzieren die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft produziert ihre Parteien. Nun denn, diesmal geht es uns um die Vorgänge, hinter den Vorgängen, womit denn auch zu beantworten versucht wäre, auf welchen Bevölkerungsklassen sich die Macht des sultanischen Erdogans und seiner AKP begründet! Aufgrund des umfangreichen Stoffes werden wir lediglich einen Umriss, die langen Linien nachzeichnen können. Wie steht es mit der türkischen Gesellschaft?
Die gesellschaftliche Bewegung selbst produziert ihrer klassenmäßigen Struktur nach entsprechende klassenmäßige Parteien. Darin ist die politisch herrschende Partei eine spezifische Fraktion der herrschenden Bevölkerungsklasse, die sich in unterschiedliche Absetzungen auflöst.
Die islamisch-konservative AKP hat sich als politische Macht erstmalig im selben Jahr ihrer Gründung, nämlich 2002, etabliert. Sie gewann auf Anhieb die absolute Mehrheit im Zuge der Parlamentswahlen 2002. Allerdings ist dieser Erfolg der verheerenden Wirtschaftskrise zuzuschreiben, die 2000/2001 ausbrach und eine gesellschaftliche Stimmung erzeugte, die die damalige türkische Elite, die sich hauptsächlich im Banken- und Finanzsektor bereicherte, abstrafen musste. Zudem hat sich die Fraktion der Bevölkerungsklasse, die die AKP repräsentiert in dem vorangegangenen Jahrzehnt produziert und politisch formiert. Nun, zunächst die Wirtschaftskrise 2000/2001, anschließend kurz die 1990er.
Die türkische Wirtschaftskrise 2000/2001 ist, zusammengefasst, die Folge eines groß angelegten Korruptions- und Bereicherungssystems im Banken- und Finanzsektor. Dieses System hat sich im Zuge der Liberalisierung und Verwestlichung der türkischen Wirtschaft durch den damaligen Minister- und Staatspräsidenten Turgut Özal der bürgerlich-konservativen ANAP-Partei gebildet und ab 1993 Jahr für Jahr verbreitet und vertieft. Die heute von der AKP verbrämten Istanbuler Eliten, die ersten wirklich mächtigen türkischen Kapitalisten einer industriellen Türkei, haben sich damals unter der Özal-Regentschaft und seiner Liberalisierungskur gebildet. Der Militärputsch 1980 der türkischen Generalität, die sich als Schützer des kemalistischen Erbes verstand und im Kern immer noch versteht, stellte sich der ab 1950 immer aggressiveren und ausschweifenden Entwicklung eines türkischen Bürgertums, das automatisch zu gewaltsamen und blutigen Klassenkämpfen führte, entgegen. (Nebenbei: auch hier, zu 1980, schlitterte der junge, türkische Kapitalismus einer Wirtschaftskrise entgegen.) Die marktwirtschaftlichen Reformen im Anschluss an den Militärputsch ab 1983 durch Özal führten nach dreijähriger Militäradministration durch die Putschisten schließlich zu enormen Konjunktur- und Wohlstandsschüben und nicht zuletzt zur Modernisierung und Industrialisierung der Republik, kurz, ein kleines türkisches Wirtschaftswunder, indem man die Schlösser der Bosporustüren für ausländisches Kapital aufbrach. Bis dato stand die türkische Wirtschaft nämlich unter dem kemalistischen Staatsdirigismus. Nun durchlief die türkische Wirtschaft, in ihrem Gefolge die Gesellschaft, einen Transformationsprozess. Die wirkliche Exportwirtschaft war geboren. Jene türkische Elite, die hauptsächlich in und um Istanbul ihre Geschäfte betrieb, hatte die Privatbanken in der Hand und besetzte einige große staatliche Banken. Von ihr hing mehr und mehr der geschichtliche Lauf der türkischen Republik ab.
1996 trat die Zollunion auf Drängen der hauptsächlich unter Özal sich gebildeten Istanbuler Elitenklasse mit der Europäischen Union in Kraft, die zu weiteren Konjunkturschüben führte und die Profite zum Anschwellen brachte. Damit wurde aus europäischer Sicht ein wichtiger Schritt zur Eingliederung der türkischen Republik in die EU-Gemeinschaft getan. Dieser Schritt, und die damit einhergehende Verwestlichung, Säkularisierung etc., ist aus türkischer Sicht jener elitären Klasse zuzuschreiben, die sich unter Özal ausbilden konnte. (Aber gut, zur EU-Integration der Türkei ein anderes Mal!) Allerdings mussten die Banken- und Finanzgeschäfte jener Klassenfraktion, die heute immer noch die europäische Stimme des türkischen Kapitals repräsentiert, ein Ende finden. Im Zuge von Wirtschaftsprüfungen der türkischen Banken sind massive Steuerhinterziehung, Veruntreuung und Manipulation festgestellt worden, die früher oder später, in diesem Fall 2001, zu einem Börsencrash führen mussten. Eine verheerende Rezession durchzog die Republik, eine Staatskrise aufgrund von Korruptionsvorwürfen – die Istanbuler Elite besetzte ja teilweise staatliche Banken – brach aus. Die türkische Lira verlor an Wert, die Staatsschulden stiegen, Zinsen wurden erhöht und die Realeinkommen der Beschäftigten sanken. Viele kleine und mittlere Unternehmen gingen zugrunde. Über eine Million Arbeitnehmer verloren ihren Arbeitsplatz. Proteste, Demonstrationen, kurz, massive gesellschaftliche Kämpfe waren die Folge. Die damalige Regierung unter Bülent Ecevit (demokratisch-sozialistische DSP), der nach dem Republiksgründer ein einzig wahrer, demokratischer Führer aus dem Volk war, hatte unter solchen Bedingungen keine andere Lösung gesehen, als den Internationalen Währungsfond (IWF) einzuschalten, ohne die die türkische Republik Bankerott gegangen wäre. (Nach der ironischen Manier der Geschichte musste auch hier eine fortschrittliche, sozialistische Partei die vorangegangenen Exzesse des Kapitals ausbaden. Seither gab es bis zur HDP keine wirkliche türkische, fortschrittliche Linkspartei.) Zudem hat man einen ehemaligen Vizechef der Weltbank, den parteilosen Kemal Dervis, zum Wirtschaftsminister berufen, der durch Reformen die Auswirkungen der Krise und die Korruption im staatlichen Bankensektor anging. Der stumme Zwang des Kapitalismus hatte konsequente Maßnahmen gefordert und Handlanger gefunden, besser produziert, die die Maßnahmen vollstreckten. Wie dem auch sei, diese gesellschaftliche Stimmung, die aus der Wirtschaftskrise folgte, fegte 2002 nach etlichen Kämpfen auf der Straße die herrschenden Parteien aus dem Parlament und setzte die neu gegründete AKP mit absoluter Mehrheit auf den Herrscherthron, welche die Ängste und Hoffnungen der breiten türkischen Bevölkerung verband. Sie zeigte sich traditionsbewusst und wirtschaftsliberal, religiös und modern, konservativ und fortschrittlich, kurz, sie fing den anatolischen Groll gegen die Istanbuler Elite mit bäuerlich-religiösen-nationalen Ressentiments auf und warb mit bürgerlich-wirtschaftsliberalem Profil um die Wahlstimmen, die sie haufenweise erhielt. Neben ihr fand lediglich die republikanische CHP Zugang ins Parlament, die sich heute sozialdemokratisch kleidet. Ein gewaltiger Coup: alle bis dato etablierten Parteien waren auf einen Streich weg, die es nicht über die auf den Militärputsch zurückgehende 10%-Hürde geschafft haben, und die neugegründete AKP hatte es mit 34,3%, neben der CHP mit 19,4%, zur absoluten Mehrheit geschafft. Ein überragender Sieg für die islamisch-konservative AKP! Damit wurde eine spezifische Dekade der türkischen Geschichte abgeschlossen, die Istanbuler Banken- und Finanzelite, das große Kapital, verpönt, der breiten armen und von Vorurteilen, da häufig ungebildet, beherrschten Bevölkerung gedichtet, sie seien die Türkei, das türkische Volk, und eine neue Dekade, die des islamisch-konservativen Kapitals, das das türkische Volk nahtlos unterdrückte, begründet.
Die AKP war an der politischen Macht. Ihre Ausgangssituation war eine Wirtschaftskrise, die massive Inflation, Arbeitsplatzverluste, Kapitalflucht etc. zur Folge hatte, wobei der IWF ein Puffer herstellte, auf dessen Basis der Liberalisierungsprozess fortgesetzt und intensiviert werden konnte.
Der stumme Zwang des Kapitalismus hatte konsequente Maßnahmen gefordert und Handlanger gefunden, besser produziert, die die Maßnahmen vollstreckten.
Die AKP schloss sich dem IWF-Programm an. Die anschließende AKP-Herrschaft unter Erdogans Führung ist durch zwei Perioden gekennzeichnet: die (neo)liberal-kooperative EU-Ausrichtung bis 2010, die autoritär-imperiale, neoosmanische Neuausrichtung ab 2011, wobei der mit der IWF intensivierte Liberalisierungsprozess beide Teile durchzog und heute in der repressiven Gestalt des Neoliberalismus auftritt. Wir wollen an dieser Stelle nicht untersuchen, wieso es zu der Neuausrichtung 2010/2011 der AKP-Herrschaft kam. Dies behalten wir uns für eine andere Schrift vor. Es seien nur zwei wichtige Ereignisse angemerkt, nämlich, dass in dieser Zwischenzeit zeitweise die EU-Beitrittsverhandlungen, die 2005 aufgenommen wurden, ausgesetzt wurden und zum anderen der arabische Frühling die feudalen und autokratischen Fesseln Nordafrikas, des Nahen und mittleren Ostens hoffnungsfroh aufbrach, worin die Muslimbrüderschaft aus staatspolitischem Standpunkt des islamisch-konservativen Kapitals eine signifikante Rolle spielte. Zurück zur kriselnden ökonomischen Basis der Republik im Jahre 2002, die sich in den 1990er Jahren durch die Formation einer spezifischen Fraktion des türkischen Kapitals bildete, der wir uns nun zuwenden!
Mit der AKP riss sich, vor dem Hintergrund ihres Grolls gegen die Istanbuler Elite, die durch den Börsencrash empfindlich geschwächt war, das sogenannte „Grüne Kapital“ bzw. die sogenannte „anatolischen Tiger“ den politischen Apparat, den Staat an sich. Sie begann nun, ab 2002, als selbständige Fraktion ihrer Klasse aufzutreten. Diese Fraktion des türkischen Kapitals, die unter der Istanbuler Elite, welche bis dato den offiziellen Charakter des türkischen Kapitals repräsentierte, eine aufsteigende, aber unterdrückte Mittelschicht in Zentralanatolien und Westtürkei war, schwang sich nun auf zum Vertreter aller Fraktionen des Kapitals und begann den offiziellen Charakter des türkischen Kapitals zu repräsentieren. Die „anatolischen Tiger“, nicht mehr Mittelstand, sondern mit allen Wassern gewaschene, skrupellose Kapitalisten, lösten die Istanbuler Elite in der Herrschaft über die anderen Bevölkerungsklassen, namentlich Kleinbauern, Landproletarier, Arbeiterinnen und Arbeiter, ab. Die „anatolischen Tiger“, für die die Wirtschaftskrise 2001 die heilige Quelle war, konsolidierte und expandierte ihre wirtschaftliche Macht, d.h. das Kommando ihres Kapitals über die übrige Gesellschaft, über dem Ruin der Istanbuler Elite, für die die Wirtschaftskrise 2001 das Jüngste Gericht war; darin Erdogan, der Henker und Richter zugleich. Ein Indiz dafür ist die Staatsverschuldung: War sie 2000/2001 noch sehr hoch, über 50 % des BIP, wozu nicht zuletzt die Korruption, Veruntreuung etc. der Istanbuler Finanzelite geführt hatte, nahm sie in den folgenden Jahren nach und nach ab und liegt nun bei knapp über 30 % des BIP. Dieses Indiz zeigt, das nicht mehr, zumindest nicht mehr vorbehaltlos, die Fraktion des Finanzkapitals den Staat beherrschte. Nun hat sich das Finanzkapital dem Industriekapital untergeordnet. (Nimmt man das jährliche Haushaltsdefizit hinzu, das aktuell zwischen 1-2% des BIP liegt, also extrem gering ist, liegt die staatliche Verschuldung gar unter der Maastrichter-Schwelle, die fast alle EU-Mitgliedsstaaten überschreiten. Nichtsdestotrotz, ein Griechenland oder Italien mag neidvoll auf die Türkei blicken, allerdings verbirgt sich hinter dieser vermeintlichen Musterhaftigkeit der türkischen AKP-Regierung eine verheerende Zeitbombe. Dies zum Schluss!)
Doch wer sind eigentlich die sogenannten „anatolischen Tiger“? Wie erwähnt haben sie sich unter der Schwäche der Istanbuler Elite, des großen Kapitals oder der Großbourgeoise, zur politisch herrschenden Fraktion aufgeschwungen. Tatsächlich sind sie traditionsbewusste, religiös-konservative Geschäftsleute, die bereits in den 1990er Jahren, also zum Schluss der Özal-Periode, auftraten. Ursprünglich über die 1990er Jahre hinweg im Windschatten des Istanbuler Großkapitals, kehrten sie sich mehr und mehr von diesem ab, je mehr das Istanbuler Großkapital sich Europa zuwandte. Die „anatolischen Tiger“ setzten vielmehr auf eine Türkei mit nationaler, islamischer Identität. Eine Europäisierung, mithin Verwestlichung, Säkularisierung, Liberalisierung der Türkei war ihnen, neben den satten Profiten durch das Europageschäft, was man professionell betrieb, ein Dorn im Auge. Man kann sagen, sie sind die Träger des osmanischen Vermächtnis, das selbstverständlich nicht 1923 durch Atatürks republikanischen Ideen vollends ausgemerzt wurde, im Gegenteil: die Vergangenheit, wie in jeder Geschichte eines Volkes, ist immer nostalgisches Relikt, das die Nachwelt verblendet; übrigens, dies ein Grund, warum Atatürk, der Gründer der Republik, weniger Hochachtung als üblich bei den „anatolischen Tigern“ und der AKP findet. Sie umgeben sich vorzugsweise mit osmanischen Ritten und Mythen. Sie waren zwar auch an Geschäften mit Europa interessiert, allerdings ohne Aufgabe von Nation, Tradition und Religion, wozu denn die universale Tendenz des globalisierten Kapitals führt. Ihr Geschäftstreiben sollte in Form eines islamisch-religiösen Neokonservatismus, worin Tradition und Kapitalismus Hand in Hand gehen, statt sich wechselseitig im Weg zu stehen, stattfinden. Hier könnte auch die sektenmäßige Fethullah-Gülen-Organisation, eines aktuell in der USA im Exil Lebenden Predigers und Milliardärs, erwähnt werden, mit der die AKP die Staatsmacht ergriff und anschließend nach 2013 brach, aber das ginge an dieser Stelle zu weit. Die „anatolischen Tiger“ sind, zusammengefasst, als aufstrebende Mittelschicht in den 1990er Jahren geboren und trieben die Kapitalakkumulation unter Rückgriff auf osmanische und islamische Werte und Ethik voran. Sie waren und sind die islamischen Kalvinisten des türkischen Kapitalismus.
Die „anatolischen Tiger“, für die die Wirtschaftskrise 2001 die heilige Quelle war, konsolidierte und expandierte ihre wirtschaftliche Macht, d.h. das Kommando ihres Kapitals über die übrige Gesellschaft, über dem Ruin der Istanbuler Elite, für die die Wirtschaftskrise 2001 das Jüngste Gericht war.
Die islamische Sozialethik ist selbstverständlich vorgeschoben, um Arbeiterinnen und Arbeiter länger, härter und roher arbeiten zu lassen, aus denen sie Unmengen von Kapitalprofiten auspressten und auspressen. Diese Lohnsklaverei kennt der europäische Kapitalismus zu Genüge. Kam es zu Arbeiterstreiks hat man die Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihre religiösen Pflichten verwiesen und so die arbeitende Bevölkerung ideologisch beherrscht. Denn man muss wissen, dass die mehrheitliche türkische Bevölkerung kraft ihrer Geschichte und mangelnden mentalen Emanzipation sehr gottesfürchtig ist, entsprechend widerspruchslos sich religiösen Dogmen unterwirft, sobald sie gepredigt werden. Der islamische Glaube ist ein unleugbares, ideologisches Herrschaftsfaktum über die fast 80 Mio. Menschen zählende Bevölkerung. Kein Wunder, wenn man Jahrhunderte unter der herzlosen Sklavenpeitsche des osmanischen Sultans stand, die tiefe Wunden in die Seele schlug, die Generationen brauchen, um zu vernarben! Nicht zuletzt sind dies einige Gründe, warum fast alle Arbeitsverhältnisse in Stadt, Land, Industrie extrem prekär und teilweise mangels Sicherheitsmaßnahmen lebensgefährlich sind. Fast 41 % der türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter arbeiten über 50 Stunden in der Woche, aber Allah verspricht den Himmel. Der überwiegende Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter verdiente bspw. voriges Jahr 1.201,50 Türkische Lira brutto(!) (rund 450 €), aber Allah verspricht den Himmel. Kündigungsschutz oder Arbeitsschutzgesetze sind kaum vorhanden oder werden kaum eingehalten, aber Allah verspricht den Himmel. Die Schwarzarbeit boomt, aber Allah verspricht den Himmel. Kinder unter 18 Jahren arbeiten haufenweise auf dem Land oder in der Textilindustrie, wer kennt bspw. nicht die Istanbuler Keller, in denen Kinder Textilien für H&M etc. produzieren oder die Felder, auf denen Schwarztee und Haselnüsse für Nutella von Kinderhand geerntet werden, aber Allah verspricht den Himmel.
Wie dem auch sei, die „anatolischen Tiger“ sind eine Synthese aus klassischem liberalen Kapitalismus und islamischer, traditioneller Sozialethik; eine Synthese aus Kapital und Ideologie, aus Materie und Gespenst. Mit der AKP haben sie ihre politische Repräsentation produziert und herrschen seither als die zur Kapitalseite und Bevölkerungsseite, als nach innen und außen herrschende Klasse des Kapitals.
Die oben erwähnte Neuausrichtung dieser Klasse ab 2010/2011, in deren Zuge die AKP offen autoritär, imperial und neoliberal auftrat, führte im Mai 2013 erstmalig zum demonstrativen Protest von unten, nämlich zu jenen bekannten Gezi-Protesten, die übrigens die Keime der 2015 gegründeten HDP bereits in sich trugen. Die Proteste der Studenten, Intellektuellen, Arbeitslosen und vereinzelten Arbeiterinnen und Arbeitern wurden extrem gewaltsam durch die Polizei zerschlagen, was über Istanbul hinweg zur Gesamtentrüstung der Bevölkerung führte. Doch der letztlich ausschlaggebende Punkt war die im Dezember bekannt gewordene Korruptionsaffäre um Erdogan und der AKP, worin sich Politiker, Beamte und selbstverständlich die Klassenfraktion der „Anatolischen Tiger“ bereichert haben. Die Bevölkerung sah spätestens ab jenen Moment den wahren Charakter der AKP und der herrschenden Kapitalklasse. Dann brachen die nach der Wirtschaftskrise 2000/2001 durch die AKP aufgehobenen Proteste wieder auf. Die gesellschaftlichen Kollisionen wurden so derbe, dass der politische Staat sie nicht mehr nur, wie Gezi, zu unterdrücken vermochte, d.h. gewaltsam einschritt, sondern auch in die staatlichen Strukturen selbst eingriff und politische Gegner auch innerhalb ihrer Bevölkerungsklasse ausschaltete. An dieser Stelle steht der Bruch mit der Gülen-Organisation, und damit einen Teil des großen Kapitals. Flankiert wurde die teilweise paranoide Repression durch regelrechte Attacken gegen Journalisten, Anwälte, Richter, Aktivisten, Arbeiterinnen und Arbeiter, Intellektuelle usw., also gegen alle Fortschrittlichen. Dazu war Erdogan und der AKP jedes Mittel Recht. Der Damm war gebrochen, der verdeckte, unsichtbare soziale Kampf unter den Bevölkerungsklassen wurde zu einem offenen, sichtbaren. Da diese Ereignisse in der letzten Schrift eingehend thematisiert sind, verweise ich an dieser Stelle darauf, und fasse lediglich zusammen. Allmählich rückten die Parlamentswahlen im Juni 2015 an, mit denen der Umbau des Staates zum Präsidialsystem mit umfassenden Staatsvollmachten zu Gunsten des Staatspräsidenten, der Politik für die Fraktion seiner Klasse (s.o.) machen musste, eingeleitet werden sollte. Der Einzug der HDP auf der einen Seite führte auf der anderen Seite zum Verlust der absoluten Mehrheit der AKP, die sie für Verfassungsänderungen brauchte. Dies ließ Erdogan, die AKP, samt die „Anatolischen Tiger“ natürlich nicht auf sich sitzen. Koalitionsverhandlungen, geführt durch den Ministerpräsidenten Davutoglu (AKP), glichen dem alten römischen Cäsaren-Sprichwort „Brot und Spiele“. Zwischenzeitlich kappte man einseitig den Friedensprozess mit den militanten Kurden, der PKK, was offensichtlich das Motiv verfolgte, die Gesellschaft zu polarisieren und Spannungen zu erzeugen. Man spürte, dass die „anatolischen Tiger“ gesellschaftlichen Rückhalt verloren, ihre gepredigte Sozialethik nicht mehr vorbehaltslos zog, und schloss aus diesem Umstand, Bevölkerungsklassen an sich, also an die „anatolischen Tiger“ zu binden. Man rief eine alte, niederträchtige Deklamation, die ab den 1980ern zur Nationaldichtung gehörte, wieder aus, der breite Bevölkerungsteile hypnotisch wie hysterisch verfallen, da der türkische Patriotismus, welcher in dem republikanischem Mythos der Vaterlandskriege im 1. Weltkrieg gründet, von hitziger, übersteigerter, kopfloser Beschaffenheit ist: Die Kurden wollen den Staat unterwandern! Wer nicht für den Staat ist, ist ein Vaterlandsverräter! Gezi, das waren die Kurden, das war die PKK! HDP, das ist die PKK unter dem Deckmantel der Demokratie! Alle, die nicht für uns sind, sind gegen uns, das heißt PKK-Terroristen! Eine leidliche Mär, wie die Leser wissen: Die Kurden-Karte wurde gezogen. Sie sollten wieder ausgespielt werden und ihren Kopf hinhalten.
Die „anatolischen Tiger“ waren und sind die islamischen Kalvinisten des türkischen Kapitalismus.

Dann: Juli 2015 war Suruc, Oktober 2015 Ankara und nun hatte man genug Gründe für eine militärische Operation gegen kurdische Bevölkerungskreise, die man skrupellos und mit nationalistischem Charakter vollzog. Die nationalistische und islamische Propaganda lief in Hochtouren. Die Friedensverhandlungen mit den militanten Kurden der PKK wurden von Staats wegen abgebrochen und für null und nichtig erklärt. Der Terror von Staats wegen wurde gewaltsamer und blutig. Im November 2015 hat man im Zuge der Neuwahlen die gewünschte absolute Mehrheit hergestellt. Die große Volksmasse schrie im Juni: „So nicht mehr, Herrscher!“ Die wenigen Herrschenden brüllten zurück: „So nicht Volk, also Neuwahlen!“ und der November hat gezeigt, dass die wenigen Herrschenden gegen das Aufbäumen des Volkes obsiegt haben. Allerdings hatten die Konsequenzen der in dieser Zwischenzeit losgetretenen Taten sich verselbstständigt und weitere unvermeidliche Taten nach sich gezogen, nämlich die totale Zerschlagung der kurdischen Bevölkerungskreise und die nun offen erklärte Syrien-Intervention, die hauptsächlich auch gegen die Kurden, nämlich der PKK und der syrischen wie irakischen Kurden gilt. Der Krieg nach innen und außen wurde erklärt, der permanente Kriegszustand, der faschistoide Elemente in sich trägt, wurde Alltag. Dies gehört zu einer anderen Schrift. Wir bleiben bei den Machtverhältnissen. Die AKP-Herrschaft wurde das erste Mal in Frage gestellt. Die Macht zerbröckelte empfindlich. Denn wenn Herrscher beginnen mit physischer Staatsgewalt gegen die eigene Bevölkerung einzuschlagen, dann erklären sie: dass sie die Kommunikation mit der Bevölkerung verloren haben, dass ihre Macht faktisch wie politisch abnimmt und dass die Bevölkerung ein Bewusstsein von ihrer Beherrschtheit wie ihrer Souveränität zu entwickeln beginnt.
Doch wie steht es um die anderen Bevölkerungsklassen und ihr Verhältnis zu den „anatolischen Tigern“ bzw. zur AKP, wie steht es mit jenen, die nicht oder nicht unmittelbar vom Kapitalprofit leben?
Von Mesut Bayraktar, 14. Feb. 2016
Teil II wird am 15.02.2016 veröffentlicht. Wer Teil II nicht abwarten möchte, kann unter folgendem Link die gesamte Schrift abrufen: Klick!