Das Weltbild patriotischer Europäer und das Menschenbild einer impotenten Intelligenz – Teil I

– Der deutsche Intellekt schafft sich ab –

Vorbemerkung: Man wird fragen, wieso so eingehend das Buch eines Autors auseinandersetzen, das doch drei Jahre alt ist, und wieso soll eben dieses Buch mit der Flüchtlingsfrage verbunden sein? Nun, eine berechtigte Frage, auf die eine ebenso berechtigte Antwort folgt: Nach dem Aufkommen des Nationalkonservatismus innerhalb der letzten drei Jahre und dessen mehr oder minder erfolgreicher Versuch sich eine publikumswirksame Öffentlichkeit zu schaffen und dabei salonfähig zu werden, habe ich schnell an jenes Buch denken müssen, das ebenso wie der Nationalkonservatismus es mit zwei Themen zu einer großen Aufmerksamkeit geschafft hat: Europa und der Flüchtling. Diese beiden Fragen – oder Herausforderungen –  und deren evidente Relevanz für die Zukunft des Miteinanders scheinen eine optimale Gelegenheit zu sein, um politische Kampagnen zu fördern, die den Rassismus unter den Völkern befördert. Nicht irgendwoher haben die Völker Europas, über Deutschland hinaus, dergleichen Exponenten gefunden, die zu beachtlichen politischen Mitspielern werden; man denke an die Front National, die Ukip, die FPÖ, die Fidesz und natürlich an die AfD, und schaue sich die letzten EU-Parlamentswahlen 2014 an. Dieses europaweit zu beobachtende Phänomen ist jedoch nicht die Laune des Zufalls, sondern die Folge politischen Versagens. Jenes Buch, das Gegenstand der folgenden Schrift ist, hat bereits die theoretischen und ideologischen Pfosten in den Boden gerammt, ehe der ängstliche Geist, dem die Zukunft verhasst und die Völker verekelt sind, zum politischen Akteur avancierte. Dieses Buch steckt nunmehr wie ein Pfahl im Fleisch. Die Nationalkonservativen schlürfen das aus dem Fleisch zerrinnende Blut – es ist ihr Elixier. Um die erste Teilfrage zu beantworten: Das Buch liest sich wie ein ausführliches Grundsatzprogramm des Nationalkonservatismus bzw. wie die ideologische Basis der AfD. Die Idee beginnt Materie zu werden. Das Buch beginnt sich in der politischen Praxis zu ‚realisieren‘. Um damit auf die zweite Teilfrage zu antworten: eben jener Nationalkonservatismus, dessen Themen Europa und der Flüchtling sind, greifen die Flüchtlingsfrage negativ, d.h. verneinend, auf. Das ist kein Kunststück. Davon lebt politische Opposition. Eine Negation des Bestehenden ist nicht zwingend falsch. Im Gegenteil: die Negation des Bestehenden ist unerlässliche Voraussetzung des Neuen, insofern die Negation progressiven Charakter hat. Der Nationalkonservatismus macht jedoch eben an dieser Stelle sein Verständnis von Zukunft, Fortschritt und Geschichte offenbar. Hier liegt sein Kunststück: die Negation durch den Nationalkonservatismus ist regressiv. Ihre Verneinung hat ausschließlich regressiven Charakter, aus dem sich protektionistische Forderungen artikulieren. Sie sagen „Nein!“ zu Europa, und ziehen irrationale Schranken hoch, um die „Nation“ zu schützen; sie sagen „Nein!“ zum Ausländer, und ziehen irrationale Schranken hoch, um die „Nation“ zu schützen; sie sagen „Nein!“ zu Flüchtlingen, und ziehen irrationale Schranken hoch, um die „Nation“ zu schützen. Ihr regressives „Nein!“ ist eine rückläufige Mystifikation und diese Mystifikation, die ihnen in der Kürze ihrer Existenz politischen Erfolg bescherte und die den freien Gedanken der Vernunft mit Rassismus zu ersetzen versucht, will die folgende Schrift in ihrem Keim, nämlich bei ihrem geistigen Vater, entlarven. Der geistige Vater des deutschen Nationalkonservatismus gegenwärtiger Abart ist Thilo Sarrazin.
Ich möchte schließlich darauf hinweisen, dass die Schrift in fünf Teilen publiziert wird, da wir und ich uns damit erhoffen, dass sie auch gelesen wird. Denn das geschriebene Wort will gelesen werden. Wer die umfassende Gesamtschrift sofort lesen möchte, die oder der kann uns unter nous@freenet.de kontaktieren.

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Es gibt solche Bücher, die den Geist der Zeit wiedergeben und wiederum solche Bücher, die der Zeit einen Geist aufzugeben versuchen.
Unser Autor hat es geschafft ein Buch zu verfassen, das eine Mischung aus beidem ist. Er hat also ein politisch motiviertes Buch verfasst.

Wir wollen mit der folgenden Schrift nicht die Gewissenhaftigkeit des Autors in Frage stellen, mit der er seine Zahlen ermittelt hat. Dies überlassen wir jenen, die aus demselben hochmütigen Fach wie unser Autor stammen und mit Zahlen zu jonglieren, aber heutzutage durch Zahlen nicht mehr zu denken wissen. Diese Schrift fragt nach der Gewissenhaftigkeit intellektueller Arbeit und des intellektuellen Standes hierzulande. Schließlich handelt es sich um ein Buch, dass nach Media Control zu den meistverkauften Sachbüchern in gebundener Form (Hardcover) seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gehört (Stand Januar 2012: 1,5 Millionen verkaufte Exemplare innerhalb von 2 Jahren). Unser Autor hat ein erfolgreiches Buch geschrieben!
Dies ist nicht nur bemerkenswert hinsichtlich dessen, dass unser Autor bei einem Stückpreis von 22,99 Euro (jetziger Preis) ein Vermögen gemacht haben dürfte, das ihm im Alter ein bequemes und wohlständiges Leben beschert, es ist vor allem hinsichtlich dessen bemerkenswert, dass das Buch ein Ausschnitt des intellektuelle Niveaus beachtlicher, wohlsituierter Kreise und des Selbstverständnisses bürgerlicher Eliten aufzeigt, der niederträchtiger und ärmlicher nicht sein dürfte.
Es ist ungeheuerlich, dass in knapp 60 Jahren der bundesrepublikanischen Geschichte Deutschlands, kaum ein erfolgreicheres Sachbuch vertrieben wurde. Dass das Buch dahingehend nicht nur in den von eingestellten,ausländischen Putzfrauen gereinigten Glasvitrinen von bürgerlichen Kreisen einen besonderen Platz erhalten hat, sondern, dass das Buch eine Kontinuität seit dessen Erscheinen im Jahre 2010 bis heute aufweist, macht es zu einem relevanten Buch, dessen wir uns anzunehmen genötigt sehen.
Im politischen Kampf hat das Buch bereits Exponenten gefunden. 2012 wurde die Alternative für Deutschland (AfD) unter Führung des von der CDU entarteten Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke aus der Alternativlosigkeit à la Merkel gegründet. Seit einigen Monaten skandieren bundesweit in deutschen Städten nostalgische, patriotische Europäer, die dem Grunde nach ein deutsches Abbild dessen sind, dass in Europa der Nationalkonservatismus wieder in Mode gekommen zu sein scheint. Die Wirtschaftskrise 2008 hat auch seine ängstlichen Kinder geboren! Über sie wird im politischen Mainstream oft bemerkt, man müsse sie verstehen, die „Ängste der Bürger ernst nehmen“. Nun, wir wollen sie verstehen, indem wir ihren geistigen Führer und theoretischen Apologeten verstehen, der sie rechtfertigt und legitimiert, in dem was sie glauben und fordern.
Um ein Missverständnis beiseite zu räumen: Nein, unser Autor ist aber kein Nazi! Unser Autor ist allenfalls ein ängstlicher Kleingeist, der sich traumatisch in die Arme des deutschen Nationalkonservatismus wirft, um seine Angst vor der Zukunft zu verbergen. Insofern ist unser Autor Chefideologe des gegenwärtigen, rechtspopulistischen Nationalkonservatismus in Deutschland!
Wir wollen das Welt- und Menschenbild eines polarisierenden Pseudointellektuellen durchleuchten, der in bildungspriviligierter Gesellschaft als Intellektueller zelebriert wird, weil er ein ca. 400 seitiges Buch verfasst hat, in dem er empirische Forschung, zahlreiche Statistiken, wirtschaftliche Indikatoren, Intelligenzforschung, Eugenik und Dysgenik, Geschichtsphilosophie, die darwinsche Evolutionstheorie, Bevölkerungspolitik, persönliche Ängste, Entrüstungen wie Hoffnungen und endlich eine Zahlenkaskade vor dem Hintergrund ökonomischer Kategorien zusammensetzt, der oberflächlicher und widersprüchlicher nicht sein kann – die Folgen einer neurotischen Hybris!
Unser Autor war nämlich

lange genug Fachökonom, Spitzenbeamter und Politiker (S. 12)

um uns Deutschland zu erklären.
Vor allem ist aber der Hintergrund zu beachten, vor dem unser Autor seine Arbeit betrieben hat: die Wirtschaft. Konkret heißt das: das Prinzip von Rendite und Konkurrenz. Der Mensch wird rücksichtslos zur ökonomischen Kategorie degradiert und anhand seines Nutzwertes bemessen. Unser Autor spricht von der

Qualität des Humankapitals (S. 69)

Doch diese Eigentümlichkeit – dem Menschen seine Qualität als Mensch abzusprechen, um dem Menschen eine Qualität als Menschen-Kapital zuzusprechen und ihn damit zum bloßen Ding seiner Schöpfung zu diskreditieren – ist nicht zwingend dem Stumpfsinn unseres Autors zuzurechnen. Es ist vielmehr die Eigentümlichkeit der verstumpften modernen Technologie- und Industriegesellschaft, die nach der Gesetzlosigkeit des Geldes als nach der Gesetzmäßigkeit des Menschen organisiert und bestimmt wird. (Denn was erforscht die heutige Wirtschaftswissenschaft sonst, wenn nicht die Nutzenmaximierung des Marktes, also die Profitmaximierung des Geldes!) Insofern ist unser Autor ein Stück weit entlastet, wenn er auch als Agent einer irrationalen Wirtschaftslehre zu fungieren versucht, die den Menschen zu einer Ware entwürdigt.
Doch der Hochmut der bestehenden Wirtschaftslehre ist nichts Neues! Sie tut interdisziplinär und universalwissenschaftlich, worin sich unser Autor übrigens sehr eifrig bemüht, und bestimmt das Denken der heutigen Intelligenz, den Alltag der Menschen und das Treiben der Völker. Nachdem der jenseitige Gott als die Illusion einer geistlosen Phantasie entlarvt wurde, hat sich die moderne Technologie- und Industriegesellschaft einen diesseitigen Gott im Geld geschaffen, dessen Paradigma „Wachstum“ um der Armut des entleerten Menschen Willen lautet. Das Leben ist der Grenznutzen, die Humanität die Grenzkosten. Der Ökonomismus ist die neue Eschatologie! Die Finanzspezialisten sind die neue Priesterschaft!
Unser Autor analysiert demnach die Leistungsfähigkeit des deutschen Humankapitals, um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands im weltweiten Krieg im Frieden zu prognostizieren:

Gelingt es uns, in Deutschland dauerhaft genügend Intelligenz, Fleiß und Einsatzfreude (auf Neudeutsch Human Ressource (vom Autor)) zu mobilisieren, um das erreichte Niveau zu halten, im weltweiten Wettbewerb zu verteidigen und fortzuentwickeln? (S. 23)

Da haben wir die Perversion unserer ganzen Ökonomie; der Mensch als Human Ressource. Das auszusprechen ist die bequeme Wahrheit einer menschenverachtenden Ideologie, aber sie ist zugleich eine unbequeme Wahrheit für den menschenliebenden Kampf. Für unseren Autor sind jene Wahrheitssätze Psalmen, mit denen er sich erbaut. Für den, der das Leben liebt, sind es Lügensätze, die einer Kritik unterworfen gehören, um sie zu vernichten.
Doch kommen wir langsam zum Werk unseres Autors. Unser Autor hatte uns viel zu sagen gehabt. Wir als seine frommen Schutzbefohlenen sind jedem Wort und jedem Zeichen eifrig nachgegangen, um entwirren zu können, womit uns die wirren Gedanken unseres Patrons zu verwirren versuchten. Schwer war es nicht, nur müßig! Doch niemand hat behauptet – auch unser aufrechter, volksnaher Autor nicht, dessen deutsches Blut durch seine deutschen Adern in sein deutsches Herz im 21. Jahrhundert zusammenströmt –, dass es ein Interessantes wird. Schließlich, so auch das Versprechen unseres Autors, haben wir die Realität erhascht. Wir wurden erleuchtet. Wir haben das Funktionieren der Welt im Allgemeinen und das Treiben in Deutschland im Konkreten gelernt. Doch damit nicht genug, wir haben auch die Dysfunktionen und die aus ihnen entstehenden nachteiligen Konsequenzen für die Gegenwart und für die nächsten 100 Jahre des Produktionsstandorts Deutschland kennengelernt, die das deutsche Schicksal, namentlich die bürgerliche Elite, endgültig besiegeln soll. Doch auch damit nicht genug – unser begrenzter Autor schafft es nämlich seine Begrenztheit bis zur Partikularität zu begrenzen – wir haben die Verantwortlichen der bestehenden und wachsenden Dysfunktionen kennengelernt und wissen, was zu tun ist. Unser Autor ist ein stolzer Ritter der Anomalie und posaunt stolz heraus: Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst.

Von Mesut Bayraktar


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Teil III, 3. Mai 2015 (Sonntag)
Teil IV, 6. Mai 2015 (Mittwoch)
Teil V, 10. Mai 2015 (Sonntag)

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