Naiv, wer glaubt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings der Grund für einen Orkan ist. Er löst ihn allenfalls aus.
Ich war da, in Hamburg, kämpfend unter den Genossen, im Jahr 1923. Ihr denkt, ich scherze?
Im April des Jahres hatte eine US-Dollar einen Wert von 30 Tausend Mark, im Juni war derselbe Dollar 110 Tausend Mark wert, im September 98 Millionen Mark und im Oktober, als die Hälfte der Arbeiterklasse arbeitslos oder in Kurzarbeit war, einen Wert von 25 Milliarden Mark. Wir tauschten Arbeit direkt gegen Brot, unseren Hausrat gegen Brot, unsere Kleidung gegen Brot, bis auch das zu wenig für die Geschäftsgrundlage der Bürgerlichen war: unser Hunger. Den Konzernen wurden Kredite gewährt, während die Geldentwertung durch die Vermehrung des Papiergeldes mit den Pressdruckmaschinen der Reichsbank beschleunigt wurde. Das ist Klassenpolitik.
Hat je eine Revolution stattgefunden, ohne das wutverzerrte Gesicht der Geschlagenen? Ohne die Frauen und die Mütter an der Spitze des Kampfs? Ohne das Elend, das bis in die Gehirne vordringt und schreit Du hast nichts und deshalb steht dir alles zu!
Eine Woche vor dem Aufstand nahmen die Arbeiterinnen von Hamburg die Märkte in Besitz. Sie zwangen die Händler, ihre Waren zu verkaufen. Daraufhin bildeten sie eine Kette vor den Werften und veranlassten die Männer, die Arbeit niederzulegen. Ein Zusammenstoß endete mit dem Bad eines Polizei-Leutnants und seiner Abteilung im Elbwasser. Er schimpfte und wir – wir lachten.
Später demonstrierten fünfzehntausend Arbeitslose und Frauen auf dem Heiligengeistfeld, und dann fand im Gewerkschaftshaus eine Versammlung statt, von wo die Menge zum Rathaus zog. Die Sozialdemokraten wurden bleich, die Gewerkschaftsbonzen zitterten angesichts ihrer Beschwichtigungen vor den Massen, dass der Reichspräsident, Friedrich Ebert, uns mit Reformen im Parlament und dem guten Willen der Herrn Kapitalisten zum Sozialismus führen werde. Wir bräuchten nur eines tun: zu warten.
Wem gesagt wird Du kannst nichts tun, also verlass dich auf uns!, der wird nicht nur um den Sozialismus betrogen. Der soll warten bis zum Tod.
Das zu Ebert, der zu jedem Anlass, wenn Arbeiter sich geltend machten, die Reichswehr in Marsch setzte, und Ende September über das gesamte Reich den Ausnahmezustand verhängte.
Morgendämmerung. Die Wohnung war klamm. Wir waren noch halb im Schlaf, spürten die Kälte auf der Haut. Der Hunger nagt an dir, du möchtest weiterschlafen. Alles war in Grau getaucht. Alles Gesagte klang nüchtern und alltäglich. Ein Werktag im Herbst wie jeder andere. Du musst aufbrechen zur Arbeit.
Doch da, auf der menschenleeren Straße, schreitet ein Mann mit einer Schiebermütze den Wohnblock ab. In der Dunkelheit erkennst du nicht die Gegenstände unter seinem Arm. Er klopft an deine Tür. Du wirst hellwach. Du ahnst, was das bedeutet. Dein Puls schlägt dir in den Hals. Du öffnest ihm und hilfst Sachen zusammenzubringen. Die Lampe zuckt im Tabakqualm, der aus seinem Mund strömt. Du weißt, wer er ist: Einer von der Partei, ein Kommunist.
Er leuchtet mit einer Öllampe über den Küchentisch, auf dem der Stadtplan ausgebreitet liegt. Hinter ihm erscheint ein weiterer Genosse, mit einem rußgeschwärzten Gesicht, barfuß, und Gewehre unter dem Arm; seine Taschen sind voll mit Munition. Dein Pulsschlag – inzwischen ist er von deinen Gedanken gezähmt. Dein Körper ist bereit zum Schlag. Du stehst auf, ziehst dich an, ohne zu fragen wozu und wohin, ohne einen Augenblick zu zögern. Ein ruhiger Händedruck und die glimmende Zigarette entfernt sich langsam in der Dunkelheit. Jemand flüstert von hinten Endlich, der Befehl.
Als der Nebel verschwand und die Sonne in unserem Rücken schien, waren 17 von 26 Polizeiwachen besetzt. Die militärisch dringlichste Aufgabe war gelöst. Wir hatten uns auf Kosten unserer Gegner bewaffnet. Das war eine unserer Lehren aus der Ermordung von Karl und Rosa. Ohne Disziplin und Vorbereitung geht es nicht.
In der kurzen Atempause vor dem Angriff der Polizei schlossen sich uns weitere Teile der Bevölkerung an, von den Ärmsten bis zu einigen Kleinbesitzern. Manche unter uns riefen bereits Wir haben gesiegt. Sie stellten sich den Aufstand als etwas Einfaches vor, etwas Geradliniges, wie den Aufschwung eines Hebekrans, der seine Beute bereits erfasst hat. Wenn es nur so leicht wäre. Die meisten allerdings, allen voran die Erfahrenen, geschult durch das imperialistische Gemetzel, den Aufstand des Spartakus, den Generalstreik gegen den Kapp-Putsch, die rote Ruhrarmee, die Märzkämpfe in Mitteldeutschland, den Sturz der Regierung Cuno; vor allem diese Erfahrenen wussten: Der Kampf – Teil eines Zusammenhangs revolutionärer Kämpfe und gestützt auf die Zukunft – beginnt erst; und wenn die Kämpfe in den Vorstädten zueinander finden und ganz Hamburg erfassen, wenn die Kämpfe an der Elbe mit den Kämpfen an der Oder, der Donau, dem Rhein, dem Neckar, der Spree, der Weser und dem Main zusammenfließen im ganzen Land, wenn die gesamte arbeitende Klasse um ihre und die Befreiung aller Unterdrückten kämpft; erst dann wird die Möglichkeit eines Siegs in Sicht sein.
In dieser Stunde wusste jedoch keiner um die Vorgänge im gesamten Land, auch die Revolutionäre nicht. Aber auch darauf hatten wir uns durch das genaue Studium der Geschichte aller bisherigen Klassenkämpfe vorbereitet: Hast du einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handele mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Der Augenblick war da. Die Feuerprobe stand bevor.
Die Viertel verwandelten sich in Kampfplätze. Barrikaden wuchsen aus der Erde. Mit bloßen Händen rissen die Bewohner die Straßen auf und schleppten Steine heran. Sie sägten die die öffentlichen Gärten nieder. Auch die Bäume wurden unsere Verbündeten. Eine alte Frau berührte einen Arbeiter am Ärmel und veranlasste ihn, ein breites Brett von ihrem Waschtisch zu nehmen. Damit war der Tisch dahin. Das Brett fand jedoch seine Verwendung. Quer über die Straßen getürmt, machten die Barrikaden es unmöglich zu erkennen, was dahinter geschah. Wir wurden unsichtbar, die Barrikade unsere Tarnkappe. Sie waren ein Hindernis für den Vormarsch des Klassenfeinds mit seinen gepanzerten Fahrzeugen. Vor allem lenkten sie die Aufmerksamkeit des Gegners auf sich als die einzige sichtbare Zielscheibe.
So stürmte eine Abteilung der Polizei in einer Gasse in Schiffbek zwei Stunden lang einen leeren Schützengraben. Der Leutnant zückte seinen Revolver und führte seine Leute in die Attacke wie Attila die Hunnen. Blind in die Luft schießend und mit kriegerischem Geheul fielen sie in die Barrikade ein und fanden – nichts. Wir beobachteten die Komödie von den Dächern und Fenstern. Eine junge Arbeiterin konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie rief den Polizisten zu: Und, habt ihr sie erwischt? Wütend gab der Leutnant Schüsse von seinem Revolver in ihre Richtung ab. Verfehlt! Rechtzeitig zog sie ihren Kopf zurück und nun erwiderten unsere Schützen von den Dächern. Verschreckt vom Kugelregen brach die Polizeieinheit auseinander, während der Leutnant aus sicherer Deckung brüllte: Ihr werdet euch doch nicht wegen einem Häufchen wildgewordener Arbeiter in die Hosen pissen! Doch den Polizisten war ihr Leben wichtiger. Sie nahmen die Beine in die Hände und rannten davon wie die Hasen auf offenem Feld.
Wir nahmen den Kampf bei uns zuhause auf, mit geheimen Durchgängen und Schlupfwinkeln, Kellern, Böden und Wohnungen. Jedes Fenster eine Schießscharte, jeder Dachboden eine Batterie und ein Beobachtungsposten. Die neue Militärtechnik machte die Arbeiterstadt in ihrer Gesamtheit zu unserer neuen Barrikade. Danach wollten wir gegen die dicht an das Ufer gedrängten Villen und das im Zentrum liegende Hamburger Rathaus an der Alster anrücken. Das war der Plan, mit den Krallen vom Bauch zum Nacken zum Hirn.
Die ersten Straßenkämpfe waren gewonnen. Die Polizisten zogen sich zurück. Unheimliche Stille kehrte in die Straßen und Viertel ein; eins, zwei, drei, vier Stunden. Vor allem beunruhigte uns aber, dass niemand von der Situation des anderen Stadtteils erfuhr.
Nun wurden erste Straßensperrungen an den Rändern der Arbeiterviertel gesichtet. Die Motoren der gepanzerten Fahrzeuge knatterten durch die Gassen. Neben den Polizisten sahen wir erstmals auch Soldaten mit Karabinern und Pferden, ob Reichswehr oder Söldner wussten wir nicht. Auf dem kleinen Flüsschen, der Bille, rückte eine Kriegsflotte mit fünf Kuttern an. Aus einigen Fabriken tönten unaufhörlich Sirenen. Mutige aus dem Jugendverband schlichen sich zu den Sperrungen und pinkelten auf die Geschütze. Wer weiß, vielleicht half das, dass die entscheidende Patrone, die einen Genossen, einen jungen Arbeiter, einen Kriegsinvaliden, eine Mutter oder einen Hungrigen in seinen Lumpen niederschießen sollte, dass genau diese einzelne Patrone deshalb im Abzug des Geschützes stecken blieb. Die Toten wissen es.
Jede Minute war entscheidend. Aber noch immer
Wo bleiben die Boten,
trotz der unterirdischen Wege, trotz der Kanäle! Wir waren allein in unseren Stadtteilen, in Barmbek, in Hamm, in Eimsbüttel, in Schiffbek, abgeschnitten voneinander. Nicht nur das, beim Schwerpunkt auf die Wohnorganisation hatten wir es versäumt, kommunistische Betriebszellen in den Fabriken und Reedereien aufzubauen, obwohl Verbindungen und Sympathien da waren. Die Folge: Eine aufklaffende Lücke zwischen Front und Rückgrat. Was tun?
Die feindlichen Truppen nutzten das aus. Sie zogen einen Belagerungsring um uns und rückten vor. Mit Granaten, Gewehren und MGs durchkämmten sie unsere Straßen. Die Schüsse erfassten mehr und mehr ihre Ziele. Sie wurden tödlich. Sogar ein Flugzeug flog tief über Schiffbek und überschüttete die Häuser mit Kugeln. Seit der Commune von 1871 haben die Bürgerlichen jede Skrupel abgelegt, auf ihre Arbeiterinnen und Arbeiter zu schießen, wenn sie mucken.
Wir wehrten uns, erwiderten mit unseren besten Schützen, vereinzelt schlugen wir sogar die bewaffnete Macht zurück, für Minuten, für Stunden, für einen Tag, während einige Bewohner die Aufständischen mit Nahrung oder Kaffee versorgten und ihre Betten den Verwundeten als Krankenlager hergaben. Wir setzten unser Leben ein. Daran hat es nicht gemangelt.
Ein junger Arbeiter mit rostbraunem Haar, Maschinist von Beruf, scheute keine Gefahr. Er sprang von Schützengraben zu Schützengraben, trieb an, fluchte, kommandierte. Mit bloßem Willen ist noch nie ein Panzerwagen zum vollständigen Stillstand gekommen. An einer Kreuzung bog er ab. Ich rief Hejda! Werf dich auf den Boden! Die Hand auf die Schiebermütze drückend schaute er frech in meine Richtung und rannte weiter. Da klatschte eine Patrone aus der Salve des Panzerwagens auf seine Schläfe und sein Körper brach zusammen. Die Augen waren halb geöffnet, von unerwartetem Schrecken entstellt, und das Blut aus seiner Wunde zerfloss zu einer roten Nelke auf seiner Stirn. Das war kein Trost. Er war tot. Später warfen die Grünen ihn auf ein Lastauto, wo er von den bleichen Körpern und blutverschmierten Mänteln anderer Erschossener zerdrückt wurde. Auch du wirst nicht vergessen.
Anderswo bereitete uns ein alter Schullehrer Schwierigkeiten. Am Tag des Aufstands nahm der Alte, der bei jeder Gelegenheit Freiheit und Gerechtigkeit für die Armen predigte, eine Pistole. Als die Schüler gegen die Schultür klopften, um ihre Schule in Besitz zu nehmen, duckte er sich weg. Dann fuhr die Tür aus ihren Angeln und der Alte, besorgt um die Früchte der Aufklärung, gab einen Schuss ab – er schoss vorbei. Der Schullehrer rannte die Treppen in der Schule hinauf, ein Schüler lief ihm hinterher und rief Trägst der Wissenschaft die Nachttöpfe nach‚ aber schießt auf uns, die mithilfe der Wissenschaft dem Elend ein Ende setzen wollen, ein für allemal!
Der Alte fiel auf die Knie und brach in Tränen aus. Der Schüler verzieh ihm.
Ein Tischler hatte weniger Glück. Die Zeit des Sozialistengesetzes machte ihn zum Kämpfer. Nachdem er geheiratet hatte, legte er etwas vom Lohn aus den Überstunden zur Seite, bis sie sich ein eigenes Haus in den Außenbezirken leisten konnten. Das erste Kind kam zur Welt, ein zweites. Die klassenlose Gesellschaft wurde zur theoretischen Weltanschauung, zum bloßen Gedanken, eingeschlossen im luftleeren Raum. Trotz des gemütlichen Lebens schloss der Tischler sich dem Aufstand an, als er das Schießen in der Stadt hörte. Am Tag danach brachte man der Frau den toten Ehemann. Das Haus wurde von der Regierung konfisziert und der eigene Sohn, Mitglied bei der SPD, verlangte von der Mutter eine Unterschrift für den Verkauf des ganzen Hab und Guts. Sie dachte nur – wieso sich der Alte nach all den Jahren der Passivität dem Kampf anschloss.
Nicht besser erging es einer Bettlerin. Während der Kämpfe zu Leben erwacht, versorgte sie die Aufständischen mit Patronen. Sie wurde festgenommen und in eine Polizeiwache geführt. Alle Viertelstunde fiel eine neue Reichswehrbande über sie her, schlug mit Gummiknüppeln auf sie ein und schrie Kommunistische Hure! Käufliche Kreatur! Du bist keine deutsche Frau, du bist eine Hündin!
Doch in der Nacht, da sie nach einigen Stunden zu Besinnung kam, rief sie Worte, teils aus proletarischer Angst, teils aus unverwüstlichem Zorn, so laut, dass die ganze Hamburger Polizei sie hörte
Eure Ordnung ist auf Sand gebaut
– die Worte Rosa Luxemburgs.
In einem solcher Augenblicke formierte sich in Schiffbek der provisorische Vollzugsausschuss der Aufständischen und dann verbreitete sich ein Aufruf für grundlegend andere Zustände, unter deren ausbleibenden Realität die arbeitende Klasse noch immer leidet.
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger
Alles zu werden, …
Diese Welt muss unser sein;
Unser Blut sei nicht mehr …
der mächt’gen Geier Fraß!
Erst wenn wir sie vertrieben …
Die Signale verklangen. Im Deutschland des Jahres 1923 blieb das Echo aus. Zu unseren Wunden traten weitere hinzu, mit jedem Gefallenen, jedem ausgelöschten Leben rückte die Ohnmacht näher. Wir trauerten, auch wegen unserer Fehler. Solidarität, das ist auch, sich in seinen Schwächen zu vereinigen. Dann ist jede Niederlage eine Probe für die Zukunft. Ein Schritt vorwärts. Kämpfen ist ohne Fehler nicht zu haben. Dafür müssen wir uns nicht schämen.
Danach wurde der Belagerungsring zu einer Schlinge. Der Kampf verwandelte sich in eine Verfolgung. In dieser Situation ordnete die militärische Leitung der Partei den Rückzug an. Ohne die Autorität Teddys wäre das nicht so exakt verlaufen. Zähneknirschend entfernten sich die Hamburger Kämpfer von der Kampfzone. Vereinzelte Gefechte hielten bis zum 25. Oktober an. Die Abgeschiedenen suchten Zuflucht in den letzten Winkeln der Gassen und Hinterhöfe. Wieder dröhnten die Räder auf dem Pflaster. Diesmal nur ein Wagen, beladen mit Zeitungen.
Die Gefahr vergessend, in den Zeitungsbündeln wühlend, suchten sie jene Worte, auf die alle Klassenkämpfer warteten. Eine Genossin warf fluchend die Zeitung beiseite und ergriff eine neue. Eine andere las, sie wurde weiß im Gesicht. Einer weigerte sich, dem Gedruckten zu glauben und verband seinen verwundeten Unterarm mit dem Papier. Er schüttelte den Kopf
Die Zeitung lügt. Es ist ja gar nicht anders möglich!
Wir wurden besiegt und die Sieger gaben den Startschuss für den Marsch der Nazis nach Berlin. Im Hass auf die Revolution werden Eigentümer von Produktionsmitteln zu Völkermördern.
Die Stunde naht. Ich muss weiterziehen. Ihr wart weder mein erstes Publikum, noch werdet ihr mein letztes sein. Denn Ausgebeutete haben in den Grenzen eines bürgerlichen Staates keine Geschichte. Wenn Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Geschichte nicht erzählen, dann erzählt sie niemand.
Von Mesut Bayraktar, 3.Nov’23
Illustration von Rita Mirosch