Literaturkritik: „Von dieser Welt“ oder Harlem Blues

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„Von dieser Welt“ spielt in den USA, im Harlem der dreißiger Jahre. Es ist die Zeit der Großen Depression. Im Zentrum der Geschichte steht John Grimes, Sohn einer Schwarzen Arbeiterfamilie. Seit John denken kann, wird von ihm erwartet, dass er in die Fußstapfen seines Stiefvaters Gabriel tritt und Prediger wird. Ohne es je hinterfragt zu haben, hat John dieses Schicksal hingenommen – so wie man den Lauf der Sonne hinnimmt oder das Atmen. An seinem vierzehnten Geburtstag verschiebt sich das Kräfteverhältnis. Der unterdrückte Körper, der mit der Pubertät aus dem Schlaf erwacht, bahnt sich seinen Weg ins Bewusstsein und dringt zur Sprache vor. Es ist die Geburtsstunde des Zweifels, der sich gegen die Moral des entfleischten Geistes christlich orthodoxer Lehren auflehnt.

Johns Widerstand findet aber noch keinen richtigen Ausdruck. Seine Kämpfe sind weitestgehend seelischer Natur. Sie manifestieren sich in Scham, in Gefühlen von Selbsthass und Sündhaftigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite in Wut und Verachtung gegen den Vater, der seine Kinder mit alttestamentarischer Strenge erzieht. Die widersprüchliche Beziehung von Vater und Sohn, überhaupt das zerrüttete Familienverhältnis der Grimes ist das Herzstück des Romans – aber nicht sein eigentliches Thema. Schicht für Schicht legt Baldwin den darunterliegenden, gesellschaftlichen Konflikt frei und mit ihm die Lage der Schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten.

Ein bedeutendes Merkmal klassenbewusster Literatur ist ihr ausgeprägter Sinn für Geschichte, ein anderes, ebenso wichtiges die korrekte Darstellung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, dessen kleinste Einheit nicht eins, sondern zwei ist. Beides findet sich in Baldwins Roman wieder, in den Beschreibungen von Harlem, den engen und heruntergekommen Wohnungen, der unverhüllten Gewalt und Armut auf den Straßen, der Prostitution und in den angespannten Familienverhältnissen. Hinzu kommen diverse Rückblenden. Sie machen den zweiten Teil der Handlung aus. Hierfür löst Baldwin den Erzähler aus dem Rücken seiner Hauptfigur. Das bremst zwar ein wenig den Erzählfluss, aber es lässt sich auch als ein Kompliment für Baldwin formulieren, dem es bis zu diesem Punkt außerordentlich gut gelungen ist, eine intime Beziehung zwischen seiner Hauptfigur und dem Leser herzustellen.

Über die Rückblenden werden wir zu einer Neueinschätzung der Figuren gezwungen. Indem Baldwin uns ihre Geschichten vorführt, führt er uns auch die Geschichte des strukturellen Rassismus in den USA vor. Wir erfahren, dass Gabriels erste Frau von weißen Männern vergewaltigt wurde. Johns leiblicher Vater, Richard, wurde für ein Verbrechen inhaftiert, das er nicht begangen hat. Als man ihn aus dem Gefängnis entlässt, nimmt er sich das Leben. Plötzlich verstehen wir, woher die Härte rührt, mit denen Gabriel seinen Kindern begegnet oder warum seine Frau so viel Nachsicht mit seinem Verhalten hat. Während John noch keinen wirklichen Begriff seiner gesellschaftlichen Situation hat, wissen seine Eltern sehr wohl darum. Sie haben das Ausmaß der Brutalität rassistischer Gewalt am eigenen Leib erfahren. Sie wissen, dass „Schwarzsein“ in den USA eine Frage von Leben und Tod ist.

Baldwin betonte das zu Lebzeiten oft. Er würde es heute immer noch tun. Er wusste, dass der Grund für strukturellen Rassismus in der Gesellschaftsformation zu suchen ist, in ihrer Ökonomie, ihrem Konkurrenzverhältnis und ihrem Hunger nach billiger Arbeitskraft. Darauf fußt auch die Aktualität seines Debütromans. Die Welt, über die er schreibt, ist im Kern gleichgeblieben. Das ist aber nur der eine Fuß, der andere steht auf dem Boden der Literatur, auf seiner Herangehensweise als Schriftsteller, die für heutige klassenbewusste Literatur bezeichnend ist. Baldwin gehörte zu jenen, die ihren Stoff aus den eigenen Erfahrungen hernehmen und sich rigoros an ihnen abarbeiten. Trotzdem ist „Von dieser Welt“ keine Autobiografie. Baldwin unterwarf sich seinen Erfahrungen nicht. Die Wirklichkeit war für ihn Material für die Darstellung der sozialen Realität, oder wie es Baldwin einmal in einer Notiz schrieb: „Aus der Unordnung, die das Leben ist, jene Ordnung schaffen, die Kunst heißt – das ist die Aufgabe jedes Schriftstellers.“   Von diesem Ansatz lässt sich noch einiges lernen.

Von Kamil Tybel, 04. April 2023

James Baldwin “Von dieser Welt”
dtv Verlagsgesellschaft, München
320 Seiten, 11,90 €
Neuübersetzung von Miriam Mandelkow (2018)

 

 

 

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