Weiches Russisch fließt Susanna über die schorfigen Lippen, als sie singt. Damals, vor 24 Wintern, rückte ihr Vater noch ihre Finger auf den Knöpfen zurecht und ermahnte sie die Schultern gerade und den Kopf aufrecht zu halten. Damals lag das Akkordeon auf ihren leicht gespreizten Schenkeln und ihr Körper wankte ab der Taille hinauf zu der Musik, dessen Töne sich wie Seiten eines Romanes übereinander legen. Da war Susannas Körper noch jung und fest, ihre Finger beweglicher, sie hatte alle Zähne und volles dunkles Haar. Nun trägt sie eine lange breite Narbe vertikal über dem Bauch. Alle sehen es, weil sie ein pinkes Croptop mit Glitzerschrift trägt. Die Menschen hören ihre fröhliche treibende Musik, kramen Euros aus den Taschen und wenn sie an ihren Sitzplätzen vorbei geht und sie sich zu ihr wenden, um ihr das Geld in den Beutel zu werfen, erschrecken sie bei ihrem Anblick. Susanna schimpft, als die Durchsage durch die Wagons hallt: »Das Musizieren und Betteln ist in den Zügen der Hochbahn verboten.«
von Alina Essberger, 20.10.22
Illustration von Katharina Schaaf