Literaturkritik: „Radikale Zärtlichkeit“ oder Radikalität in Kinderschuhen

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Radikale Zärtlichkeit, dafür plädiert die Journalistin Şeyda Kurt in ihrem jüngst erschienenen ersten Werk mit entsprechendem Titel in der Verlagsgruppe Harper Collins. In Ihrem Buch versucht sie sich ebenso theoretisch wie in ihrem persönlichen Leben praktisch einem Leben von liebenden Beziehungen zu nähern.

Auf 212 Seiten versucht Kurt dafür die politische Funktion und Herleitungen normativer und dadurch diskriminierender Aspekte von Liebesbeziehungen freizulegen. Sie beschäftigt sich etwa mit der Monogamie oder der Heterosexualität, aber auch den teilweise gewaltvollen Konsequenzen einiger kultureller Mythen, zum Beispiel der Liebe auf den ersten Blick. An der ein oder anderen Stelle wird sie ihrem eigenen Anspruch, die Dinge an der Wurzel zu packen, allerdings nicht gerecht. Für Kurt existieren zum Beispiel gewisse Erzählungen von romantischer Liebe, weil „weiße bürgerliche cis-Männer in den letzten Jahrhunderten […] Zeit und Muße hatten […] die romantische Liebe in dieser Form zu imaginieren“. Die geschichtlichen und materiellen Bedingungen, auf denen sich diese Imaginationen überhaupt erst entwickelt haben, deckt Kurt jedoch nicht auf. Dazu kein Wort. Hingegen zieht sie ein sehr persönliches Beispiel aus ihrem Leben heran: die Scheidung ihrer Eltern. Sie hätte sich laut Kurt als ein „Zerbrechen an der Wahrheit der Monogamie“ vollzogen. Das ist kulturell überhöht. Denn Kurt lässt bei ihrer Analyse die Tatsache außer Acht, dass dieses Ereignis zu einem Zeitpunkt eintritt, in dem der Druck ökonomischer Notwendigkeit und materiellen Zwangs auf die Beziehung der Eltern nachlässt, die eine heteromonogame Beziehung in kapitalistischen Gesellschaften so funktional machen, da Kinderbetreuung und andere Reproduktionsarbeit sowie zweifacher Häuserbau der Eltern zu diesem Zeitpunkt bereits geleistet worden sind.

Kurt schreibt zwar, dass es nicht darum gehen sollte zu benennen, wie richtige Liebe geht, sondern um „die Rahmenbedingungen, in denen alle die Möglichkeit haben nach den Antworten zu suchen“. Doch kommt gerade sie selbst von diesem Weg ab. Den Grund für ihre Inkonsequenz benennt Kurt selber, weil „die Weltrevolution ein wenig auf sich warten lässt“. Daher plädiert sie für die Parallelität, für die Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit im Politischen (Radikalität) und Fairness (Zärtlichkeit) im Privaten. Ersterem sind in dem Buch nur wenige wertvolle Augenblicke gewidmet. Dafür gibt es sogar ein ganzes Alphabet an Leitideen für private Zärtlichkeit, ebenso ein ganzes Kapitel zu einer neuen Sprache sowie einer neuen Ethik des Liebens und anderen Utopien von Zärtlichkeit. Klingt fast wie sozialer Neoliberalismus und nach der Prämisse jeder ist seines Glückes eigener Schmied.

Und so unterminiert Kurt ein weiteres Mal ihre Radikalität, in dem sie ihren Entlarvungen den historischen, gesellschaftlichen, politischen Hintergründen unserer Beziehungen, Ideen von liebenden Beziehungen im Privaten (für einige) als Entkommen entgegensetzt.

Das Nachdenken und gegenseitige Aushandeln darüber kann Nähe und Akzeptanz unter persönlichen Lebensgefährten produzieren, solange dieses Ausverhandeln nicht zum politischen Streben selbst erklärt wird. Dieses müsste schließlich die politischen Bedingungen betreffen. Bei Kurt verwischt die klare Abgrenzung leider. Deshalb geht das wichtigste Moment des Werkes beinahe unter, das es tatsächlich schafft, eine politische Zärtlichkeit der Gegenwart zu erkennen: „die Verbundenheit auf dem Weg in eine revolutionäre Zukunft“ von Weggefährt*innen.

Für alle, deren Vorstellungen von Liebe und Verbundenheit mit den aktuell gelebten Beziehungen in Widerspruch geraten, weil sie keine andere Schlussfolgerung zulassen als der Vorstellung von falschen Partnern, gescheiterten Freundschaften oder Liebesbeziehungen und dem Gefühl von Einsamkeit, Ungeliebtsein und Ungesehensein; diesen Menschen kann dieses Buch eine Offenbarung sein. Die Autorin untermauert, wenn auch teilweise verkürzt, ausführlich ihre These des Buchuntertitels ‚Warum Liebe politisch ist‘. Wer jedoch gereifte Momente von Widerstand sucht, die radikal im Sinne des Radizierens sind, wird enttäuscht, wenn nicht gar fehlgeleitet. Denn die Anteile des Plädoyers vom Haupttitel im Buch zeugen von politischer Ohnmacht und stecken in den Kinderschuhen radikaler Zärtlichkeit.


Von Maya Niederschlag, 01.Juni’21

Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist; Verlagsgruppe HarperCollins, Hamburg 2021, 224 Seiten, 18 €

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