BÄUME AUS TOKIO

(ein traum)

ich habe das haus verlassen. ich höre stimmen meinen namen rufen. das dunkel schützt mich vor ihren blicken. die vielen äste drängen mich in den wald. sicherheit.

dort, wo man nichts ist: im wald.

natur, die mit einem den atem wechselt. ständiger kuss. abhängigkeit. doch sie nennt dich nicht, will nichts von dir. genießt dich einfach. und wenn du auf ihrem kalten erdboden sterben würdest – du bist kein mann. dir fehlt nichts. du stirbst einfach und feste arme aus wurzelwerk umschließen dich. du gehst auf im nichts.

sie werden ihre erfindung von dir vermissen. sie werden deinen namen auf einem stein eingravieren, sich erinnern und gegenseitig trösten, wenn sie an pläne und zukunft denken. das haben sie immer schon getan. niemand schweigt bei einer beerdigung. nur bäume.

ich onaniere in eine weggabelung. ich denke an nichts. die kalte luft an der haut ists, die mich wach hält. ich lasse mich zu boden sinken. es dämmert zunehmend. die hose bleibt unten. ich bleib in meinem wald, den ich einfach nicht deutschland nenne. die behauptung reicht mir, um glücklich zu sein.

hier bin ich kein mann. hier bin ich ein mann. hier bin ich nicht männlich. hier bin ich männlich. hier bin ich sexuell. hier bin ich. hier ist ich. und ich mag meinen körper wieder.

sogar das frieren macht mehr spaß als die leute. diese unzähligen namen, die ich trage. diese figuren und gebühren. diese kleidung, die mich versteckt und gleichsam erkenntlich werden lässt. jetzt bin ich ein angestellter. jetzt bin ich ein bürger. jetzt bin ich ein bruder. jetzt bin ich ein sohn. jetzt bin ich ein schüler, ein lehrer, ein vater, ein junge. ein freund, ein fremder. in meinem wald bin ich alles gleichzeitig und doch, weil keiner zusieht und wegen der hose unten und der feuchten hand, bin ich nicht. nichts. nicht mehr ich. ich bin freiwillig. ich kann wieder denken. ich habe wieder fantasie. ich kann endlich wieder keiner sein. ich bin frei und willig. hörst du?

ihr bäume aus tokio. ihr habt einen verrückten aus mir gemacht. ich bin wahnhaft geworden unter euch. wo soll ich hin? bleiben, flüstert ihr. aber hier werd ich nicht überleben. ich brauch häute und netze. der staat muss mich füttern, sonst zappel ich mich schmerz erleidend in eure erd.
bäume aus tokio, ich habe meinen namen vergessen. ihr habt einen verrückten aus mir gemacht. wie ist mein name? wenn ich zurückgehe – was bleibt mir? was ist übrig? wer bin ich? jetzt, da alles fortgespritzt von mir. und nur an luft gedacht. ich würd lieber mit euch schlafen, da ihr nichts wollt von mir.

bäume aus tokio. meine geliebten. würden die leut doch wissen, dass ichs nicht bin und nie war. es waren nur gedanken, nur geschichten. immer wieder. aber wirklich ist es nicht. nur worte. unsichtbare, feine. kleine worte. kaum sieht man sie an, zerbrechen sie dir und fließen durch deine hände. was sind das für hände?

ich beschließe lieber zu sterben und mich mit den zehn fingern zu unterhalten. wer seid ihr? was wollt ihr von mir? führe ich? also wer? wem schau ich da zu? erst denke ich, dass sie mir antworten, doch dann bemerke ich: das ist ein tanz. ich tanze. mit meinem gürtel bereite ich einen sprung vor. da tritt ein hirsch an mich heran. er schaut mir zu. ich, bereits auf einem breiten ast stehend, blicke hinunter.

bist du auch ein mann? frage ich den hirsch.

wieso stehst du mit hose unten auf einem baum? fragt mich der hirsch.

wieso kannst du sprechen?

wieso kannst DU sprechen? wiederholt er.

guter punkt. jemand hats mir beigebracht, aber wissen wollt ichs nicht. dann rennt er mit vollem karacho gegen meinen stamm. der wald bricht, der hirsch schreit und ich stürze ab.

kommst du? das essen wird kalt.

doch ich bleibe lieber noch ein wenig auf der toilette eingeschlossen. hundert farben strömen mir durchs gehirn. mein gürtel hält die hose. alles normal hier. alles in ordnung. alles richtig gemacht. du hast auch nicht geschrien, glaub ich. niemand da draußen weiß, dass du gerade die letzte tasse in deinem schrank zerbrochen hast. die hand ist nicht feucht, aber ich spüre, dass ich wieder jemand bin. einfach weil eine stimme zu mir spricht, die sagt: kommst du? das essen wird kalt.

und ich habe plötzlich freunde. und eine vergangenheit. und ich bin ein mann. aber besonders, weil – tasse. hände waschen. händedruck: hallo, ich bin jetzt da und irgendwer.
ich nehm nichts mehr für selbstverständlich. ich sag jetzt: das sind freiwillige entscheidungen, dich zu verkleiden. so zu sprechen. solche reaktionen, dieser glaube. das kam von irgendwo, aber jetzt kommt es von dir, kleiner mensch der heutezeit.

ich blicke in den spiegel und verstehe das nicht. ich finde, dass ich stattfinde, doch wer erfindet das? ihr bäume aus tokio. ihr habt euch gezeigt und nun? ihr habt einen verrückten aus mir gemacht. bäume aus tokio. wer schreibt, wer liest? einer fragt mich: wie heißt du? und: wie viel kostet der staubsauger? ich verstehe das nicht. ich krieche aus der toilette. ich bin wieder wer. dreimal dürft ihr raten. was ist passiert? was kommt als nächstes? da – auf uns – zu. ein tassengewitter strömt wie ein wasserfall auf uns nieder.

wie viel geld hast du dafür gezahlt? oder ist der geliehen? fragt es mich und schmunzelt. woher soll ich das wissen? welcher tag ist heute überhaupt? oder nacht? welche nacht ist heute dran? geht jetzt nach hause, ich will allein sein. der mond ist sehr laut, findet ihr nicht? nichtig. ich. richtig. bin ich? nein, ich wasch das schon selber ab. ja, es war schön. jetzt ists vorbei. wie traurig. ich kann durch deine augen sehen und das macht mir angst. weil ich dein wimmern hinter den augen versteh. es sagt hilfe, doch du sagst danke. du grinst, doch dahinter herrscht geschrei. weg!weg!hilfe!hilfe! brüllt es, aber aus deinem mund kommt nur: bis bald. ich versuch stöhnend den kopf zu schütteln, aber nicke nur und schmunzle. alle schmunzeln sich an. schmunzel hier, schmunzel da, alles wunderbar. haut jetzt endlich ab. ich platze gleich. ich ertrag euch nicht. und nennt mich lieber oliver.

bäume aus tokio. ich sehe mit zwei augen alles einfach. ihr habt einen verrückten aus mir gemacht. hirschkrach, hirschsalat, hirschrecht. der hirsch weiß nicht so recht. er rennt gegen die wand, wo mal ein baum stand. ich nehm den gürtel und peitsch meine gäste aus dem raum. nicht so langsam, ihr spinner! wir sind labernder dreck. ich laber und laber und es nimmt kein ende, aber die körperuhr tickt und fragt nach mehr sinn. tick nicht so laut, kleine körperuhr.

bäume, fernes tokio, ich kann euch riechen hören. das geweih stöhnt krachend unter den ästen der vernunft. zurück zum spiegel! hiergeblieben! gesicht! da bist du ja wieder! siehst aus wie schon zuvor und ich kann es nicht fassen, mein gesicht zwar kneten unter den muskelmassen, aber verstehen kann ich meine grimassen nicht.

die menschheit tickt. bombenschreie. körperuhren zerschellen an der wetterfront. die brandung wirft uns tanzende körper zu, die nicht mehr sprechen. da fliegen sie. ein teilchen nach dem anderen.

ein kind fliegt mir in die arme, nennt mich mama und ich denke:

hey, so nicht, freundchen. ich hab kein geld für son scheiss.

bist du nicht verantwortlich? fragt es.

ich? nein. ich nicht.

soll ich dich lieber papa nennen?

untersteh dich.

dann kannst du mir das genick brechen?

brichs dir selber. ich habe keine zeit für solchen firlefanz. tanz!

gnade der gegenwart, bäume aus tokio, ich bete euch an. ihr habt einen verrückten aus mir gemacht. ihr habt einen. jetzt habt ihr einen. und hier – ein kind als opfergabe. nichts bleibt mehr. nichtig. richtig? ich fühle mich so wichtig. ich. ichch. ichchch. chchchch. sch! schschschsch! sch ch sch sch ch ch sch


Von Daniel Noël Fleischmann, 09.Mai’21
Foto von Kaptan Bayraktar

Foto: Kaptan Bayraktar

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