Es würde ja ganz und gar reichen, wenn die Studierenden ihre Nachrichten nur mit ihrer Matrikelnummer unterzeichnen würden. Die Nummer ist nämlich alles, was ich benötige. An ihre Namen und Gesichter kann ich mich ohnehin nicht erinnern; an die meisten zumindest nicht. Ich brauche nur die Nummer und ich muss sie nicht einmal abtippen: Kopieren, Einfügen und Enter. Das wars und schon spuckt das Gerät mir alles aus, was ich wissen muss. Ich muss übrigens gar nicht viel wissen. Das einzig Wichtige sind die Prüfungen. Die erbrachten Leistungen (oder eben nicht erbrachten Leistungen!) sind das Wesen eines Studenten. Sie wissen ja, wie es heißt: Zahlen lügen nicht.
Der hier hat eigentlich ganz gute Noten. Das ändert aber nichts. Wer zweimal durch die Prüfung fällt, der wird exmatrikuliert. Da kann er von mir aus noch so gute Noten und noch so viele Entschuldigungen parat haben. Die Prüfungsordnung kennt kein Pardon. Sie ist rechtskräftig. Ganz genau – rechts-kräf-tig. Selbst ein Todesfall darf nicht als Ausrede herhalten. Das mag jetzt unter Umständen hartherzig klingen, aber halten Sie mich nicht für einen Unmenschen. Immerhin unterliege ich der Prüfungsordnung ebenso wie der Student. Freilich habe ich im Gegensatz zu ihm einen gewissen Einfluss, zugegeben, und einen Titel, aber was heißt das schon? Vor der Prüfungsordnung sind wir beide, ich und der Student, gänzlich nackt und namenlos. Nach all den Jahren gewöhnt man sich daran. Das ist ganz natürlich. Es macht in gewisser Weise die Arbeit sogar leichter.
Ja, das soll es geben. Aber von solchen Kollegen halte ich nichts. Die benehmen sich, als seien sie der heilige Sankt Martin. Aber die werden es auch schon lernen – und die meisten lernen es auch! -, dass wenn sie ihren Mantel zu oft in zwei Teile schneiden, bald nichts mehr für sie übrigbleibt, um sich vor der allgemeinen Kälte zu schützen. Verstehen Sie? Allgemeine Kälte. Ich meine das metaphorisch. Schreiben Sie das ruhig auf. Nun, ist ja auch egal, jedenfalls ist der Schritt von der Philanthropie zur Misanthropie ein verschwindend kleiner. Man könnte meinen, dass der Versuch den Menschen zu helfen, keinen anderen Ausgang kennt, als eine Abscheu gegen eben jene zu entwickeln. Deshalb ist es besser sich Sympathie und Zuneigung für die Richtigen aufzusparen. Von Beidem hat man nämlich nicht viel im Leben.
Ach, fragen Sie besser nicht weiter nach. Diese Leute gehen mit der Prüfungsordnung um, als sei sie ein Gummiball, den man nach Belieben in den Händen quetschen kann. Aber man kann die Prüfungsordnung nicht quetschen – nicht einen daumenbreit. Man muss sie sich vorstellen wie die Steintafel, die der alte Moses auf dem Berg Sinai von Gott erhalten hat. Moses hat beim Abstieg auch nicht angefangen auf der Tafel herumzumeißeln und die Regeln zu ändern, wie es ihm gefällt. So etwas hat nämlich schlimme Konsequenzen. Die Steintafel ist heilig. Das wusste er und ich weiß das auch. Weder ein Prophet noch ein Professor kann tun und lassen, was er will. Wir sind beide an eine höhere Macht gebunden, die wir hier auf Erden vertreten. Rechts-kräf-tig, Sie erinnern sich?
Übrigens tut man dem Studenten keinen Gefallen damit, wenn man ihn der Prüfungsordnung ungeachtet durchkommen lässt. Die Welt da draußen ist ja um einiges grausamer als das in Watte gepackte Studentenleben. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche! Ich meine, wo sonst kriegt man überhaupt eine zweite Chance? In dieser Hinsicht sind wir sogar großzügig. Die jungen Leute lernen bei uns nicht nur ihre Fächer, sie lernen auch durch Stacheldraht zu kriechen. Das ist notwendig. Das ist Vernunft.
Die hier ist ja amüsant! Hören Sie sich das an: „…nicht mit meinen Problemen belästigen. Aber die derzeitige Lage bedeutet eine ganze neue Herausforderung. Weder ist es mir möglich, in der BIB zu lernen, die leer, verlassen und unter Verschluss steht, noch habe ich irgendeinen Kontakt zu meinen Kommilitonen. Ich fühle mich langsam wie ein Gespenst. Überall die Leute mit den Masken, als wären ihnen ihre Gesichter vom Kopf gerutscht. Ich ertrage das nicht; diese Augenpaare…Und obwohl man schon mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, ansonsten allein und in totaler Isolation die Berge an Stoff bewältigen muss, werden die Berge nicht kleiner. Sie werden größer! Weil anscheinend der Irrtum bei den Lehrkörpern vorherrscht, man hätte jetzt genug Zeit und die deshalb das wöchentliche Pensum noch weiter erhöht haben. Vielleicht ist Ihnen das nicht bewusst (ich kann es mir zumindest nicht anders erklären), aber viele von uns erhalten keine finanzielle Unterstützung von ihren Eltern, weil die sich das schlicht nicht leisten können. Bei mir ist das nicht anders. Erst vor kurzem hat man mir gekündigt. Und auch ein Student hat Ausgaben: Studiengebühren, Wohnung, Essen und Freizeit, wenn denn noch was davon übrigbleibt. Ich weiß nicht, ob Sie auch mal in so einer Lage waren, aber die Sorgen nehmen schon viel Zeit in Anspruch – und sie Kosten Kraft. Sehr viel Kraft…Bitte entschuldigen Sie, wenn ich das auch noch hinzufüge, aber ich bin doch sehr verwundert darüber, dass die Prüfungsordnung trotz allem gleichgeblieben ist. Dabei könnte man doch erwarten, dass Sie die erschwerten Anforderungen in Rechnung stellen und die Prüfungsordnung dementsprechend anpassen…“.
Mit dem Rest will ich Sie nicht weiter langweilen. Es kommt ja doch nichts weiter dabei rum, nur das Übliche: Familie, Finanzen, Tod, Elend und was sich die Studenten eben noch alles aus der Nase ziehen. Die Liste an Ausreden ist lang und einem faulen Student kommt so eine Pandemie ja gerade nur gelegen. Die Prüfungsordnung anpassen! Dass ich nicht lache. Diese hier hat es nicht verstanden. Wenn sie sich das Studium nicht leisten kann – es gibt ja gute Gründe dafür, dass ein Studium eine kostspiele Angelegenheit ist; es muss es sogar sein -, dann hätte sie gar nicht erst damit anfangen sollen und besser eine Ausbildung gemacht. Die kostet ja in der Regel nichts und man bekommt sogar einen Lohn.
Was Sie nicht sagen? So wenig? Wie soll man denn mit den paar Groschen über die Runden kommen? Naja, das ist ja nicht mein Problem, und wie heißt es so schön, wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Ich habe es ja auch irgendwie geschafft.
Ach, Sie haben davon gehört? Nun, was soll ich schon weiter dazu sagen. Der Junge war krank. Für solche Fälle haben wir eigentlich eine psychologische und ich will betonen: kostenlose Beratung. Schon, da haben Sie natürlich recht – abseits der Studiengebühren. Aber die sind ja bei uns nicht so hoch. Der Junge hätte die Beratung ohne weiteres in Anspruch nehmen können. Hat er aber nicht. Was weiß ich, ob er davon wusste. Man wird ihm mit Sicherheit ein Informationsblatt gegeben haben, darauf können Sie sich verlassen. Nein, nein, natürlich ist die Geschichte tragisch. Wer hätte schon damit gerechnet, dass er sich gleich vom Dach stürzen würde. Ich versichere Ihnen, dass so etwas nicht die Regel ist bei uns. Unsere Hochschule hat einen exzellenten Ruf, wie Sie sicher wissen. Ich nehme übrigens an, dass die Universität überhaupt wenig damit zu tun hatte. Vermutlich hatte ihn seine Freundin verlassen. Ein gebrochenes Herz blutet ja selten leise.
Kaum der Rede wert. Er hatte mir eine Nachricht geschrieben – vielleicht waren es auch zwei – wie immer mit lauter Entschuldigungen. Ich lese ja so viele dieser Ausreden, dass ich glatt mein Haus damit tapezieren könnte. Ob ich mich an den Namen erinnere? Warten Sie, kleinen Augenblick. Ach ja, da haben wir ihn ja: Nr. 29344638.
Sie stellen Fragen! Die traurige Wahrheit ist, dass ich leider nur wenig Zeit habe für die schöne Literatur. Aber manchmal denke ich an eine ganz bestimmte Stelle aus „Die Leiden des jungen Werther“. Ist von Goethe. Verzeihen Sie mir, natürlich wussten Sie das. Man sieht es Ihnen – und verzeihen Sie mir auch diesen Kommentar – ja nicht gleich an. Nein, nein, ganz im Gegenteil, ich meine das anerkennend. Jedenfalls, die Lektüre ist schon zugegeben eine ganze Weile her. Aber in dem besagten Auszug beschreibt dieser feinfühlige Mensch Goethe, dieser leuchtende Stern und Virtuose der deutschen Literatur, wie ein einziger Schritt eines Menschen tausend armen Würmchen das Leben kostet und wie die mühselig errichteten Gebäude der Ameisen unter seinem Fußabdruck bitterlich einstürzen. Ich denke häufig an diese Passage und ich muss Ihnen gestehen, dass sie mich ungewöhnlich rührselig stimmt.
Aber ach! denke ich dann wiederum, es sind ja nur Insekten! Von denen gibt es ja ohnehin viel zu viele. Ein paar mehr oder weniger – was macht das schon aus.
Text und Foto von Kamil Tybel, 23. April’21
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