Kleine Romane schreiben, das hilft, in einem Land der Romanliteratur, wo nur welche Kurzgeschichten lesen, die auch selber welche schreiben. Und die sind wenig, und können und wollen nicht viel dafür bezahlen, jedenfalls nicht den vollen Preis für ein Gebundenes von Suhrkamp aus erster Hand. So kriegt man für im Kurzgeschichtenband „Hotel der Schlaflosen“ von Ralf Rothmann direkt rund ein Dutzend Romanchen.
Ralf Rothmanns Kurzgeschichten sind eigentlich kleine Romane. Wo Sätze drinstehen, die schon selber je eine Kurzgeschichte sein können. Lange, vor allem aber große Sätze, wie: „Es war dieses überraschende, in meiner Kindheit kein dutzend Mal erlebte, aus der grauen Aura seiner Melancholie hervorstrahlende Lächeln, in dem ich zu lesen meinte, dass es nicht nur Arbeit und Enge in unserem Leben gab, die sorgenvolle Alltäglichkeit, sondern auch ein tief verschüttetes Glücksvorkommen, etwas Geheimes, das sich im richtigen Moment in Wohlwollen für alle und jeden verwandelte“ (aus „Geronimo“, der dritten Geschichte im „Hotel“-Band). Kleine Romane schreiben, das hilft, in einem Land der Romanliteratur, wo nur welche Kurzgeschichten lesen, die auch selber welche schreiben. Und die sind wenig, und können und wollen nicht viel dafür bezahlen, jedenfalls nicht den vollen Preis für ein Gebundenes von Suhrkamp aus erster Hand.
So kriegt man für einen Kurzgeschichtenband von Rothmann direkt rund ein Dutzend Romanchen. Im Falle von „Hotel der Schlaflosen“ sind es elf. Zehneinviertel, die letzte ist eher so ein plätscherndes Outro, wie auf einem Krautrockalbum, das zwei Minuten zu spät aufhört. Rothmann holt beim Schreiben tief Luft, sammelt ein Figurenset zusammen und spielt dann aber doch nur fünfzehn, zwanzig, dreißig Seiten damit. Länger kann der Mann aber auch, der 1953 in Schleswig zur Welt kam, viel im Pott gelebt hat, und als Arbeiterkind lange nicht in Intelligenzler machte, sondern in Maurer oder Großküchenkoch. Neun seiner Bücher sind Romane, davon zwei nicht, einige ganz und zwei oder drei richtig gut.
Aura des Zeitlosen
Rothmann schafft so eine Aura, mit seinem Salat aus Kitschphrasen (er stellt in seinen Texten so Fragen wie: „Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz?“, und immer schreit im Hintergrund irgendwo irgendein Flugtier – das ist dann die Atmosphäre), Lebenswelten, wo mindestens einer viel vulgär flucht (das muss nicht unbedingt ein Bauarbeiter sein, manchmal auch ein Künstler, aber oft sind es sozialrealistische Milieustudien, und selten habe ich so eine gute gelesen, wie die Stelle in „Hitze“ von 2003, wo für das Essen auf Rädern Buletten gebraten werden sollen und ein Ehering beim Durchwalken im Hackberg verschwindet) und dem Diskutieren mittelgroßer Fragen (Liebe oder nach Westberlin ziehen?).
Was aber Rothmanns Literatur so richtig grau auratisch macht, ist, dass sie nicht nur Einspruch einlegt, wenn es heißt, man müsse mit der Zeit gehen. Sie verweigert grundsätzlich die Annahme, dass es eine Zeit gäbe, wo kein Kanzler regiert, der Helmut heißt. Wenn aura lateinisch ist und Luftzug meint, dann ist es bei Rothmann der aus einer dieser Eckkneipen, wo Fußball noch über Radio geguckt wird und die Theke mit dem gleichen Holz verkleidet ist, wie die ganze Wand zur Straßenseite, die mit den angenagelten Nippessachen und dem noch unvergilbten Meisterwimpel von Schalke 04.
Zu denken, alle anderen täten gut daran, wenn sie immer noch da wären, wo man mit einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahren nicht Wählen gehender SPD-Wähler in Jeansjacke war, ist so gängig, wie es unter dem #boomer in Misskredit gerät. Einfach so ganz wegcanceln lässt es sich aber nicht, das Trägheitsmoment im Kopf. Rothmanns Literatur zeigt, warum nicht und warum das auch nicht sinnig wäre.
Reihenweise Arschlöcher
Wenn er, wie in seiner Story „Das Sternbild der Idioten“ den Systemkonflikt in den 1980ern an der deutsch-deutschen Grenze mit einem Filmteam spielen lässt. Die drehen dort ein teures B-Movie, die Statisten, Wessis in NVA-Uniform, verdienen dabei ganz ok, nur der Obdachlose, der einen Obdachlosen spielen soll, bekommt nichts – warum auch, er hat ja nicht schauspielern müssen für sein Geld. Kurzerhand bekommt er von den Kollegen mehr als ausreichend von ihrem Gehalt abgeknappt. „[…] ich hab den Streifen später gesehen, bei der Premiere im ‚Delphi‘. Obwohl ich zu erkennen bin in dem Jeep, bei genauerem Hinsehen kann man mich erkennen, wäre es eine echte Kulturtat gewesen, wenn wir den verhindert hätten. Kein Mensch braucht so einen Mist, in dem die Schauspieler nur ausgedachte Sachen quatschen und jede Szene im Voraus zu erraten ist.“ Das sagt der Erzähler der Story und man mag meinen, er hätte das auf einem Trip in den Osten aufgeschnappt und nur nacherzählt, weil er auch Mal etwas Wahres sagen wolle.
Aber nicht nur in dieser, auch in der Titel-Geschichte, „Hotel der Schlaflosen“, bringt Rothmann halbwillentlich Argumente pro Canceln. Dass er Antikommunist ist, und wirklich damit zurande kommt, dass man ja einem Obdachlosen im Westen was schenken kann vom eigenen Geld und deshalb so unschöne Sachen wie die Mauer gar nicht braucht, weil man vom Nobelsein lebt, hat er vormals schon bewiesen. Hier packt er aber nochmal aus und geht in Stalins Folterkeller der 1930er. Da erzählt er über einen der Henker und macht es sehr langweilig, weil der Erzähler sichtlich ein richtiges Arschloch ist und das lohnt ja nun Mal nicht, aus so einer Sicht zu schreiben. Weil richtige Arschlöcher überall das Gleiche sind – wie Steine – und wer will schon aus Sicht von Steinen schreiben? Wahrscheinlich dachte sich Rothmann aber, dass Steine aufeinanderstapeln mindestens eine Mauer ergibt und im Sozialismus gibts nach ihm reihenweise Arschlöcher.
So sehr er das vielleicht glaubt, so wenig taugt sein Glaube. Deshalb muss das Arschloch, dass da einen gefolterten Literaten vor dessen Hinrichtung noch etwas lobt und dann auch kritisiert, weil er ihn natürlich gelesen hat, auch etwas fundamental Wahres sagen, was gar nicht zur Erzählung passt: „Dass du die Realität mit Realismus verwechselt hast und deine Pipi-Erfahrungen mit der Geschichte, dass du zu schwach warst, so einen wie den Budjonny mitsamt seiner korrupten Armee zu erfinden, das ist dein Versagen als Schriftsteller.“ Zack, eine Hinrichtung danach braucht es gar nicht mehr und so ist, was in „Hotel der Schlaflosen“ passiert, nur ein unpassendes Setting für eine passende Literaturkritik. Rothmann zeigt mit der Geschichte ein überzogenes Credo gegen Naturalismus, gegen Abbildung, gegen Eins-zu-eins-Abmalerei – und ist sich da mit dem Sozialismus im Groben einig und nicht wenig neidisch auf ihn, weil der Osten etwas grundsätzlich angegangen ist, wogegen er nur munter für sich anschreibt. Da muss aus der sowjetischen Kulturpolitik eben ein Schlachtgasthaus für Menschen werden.
Rothmanns Antikommunismus reicht immer standardmäßig so weit, wie er in der BRD immer reicht. Bei ihm speziell sind Kommunisten verknöcherte, in ihre (also die) Wahrheit verliebte Solipsisten, denen Blut gut schmeckt, und nebenbei sind sie schlimme Antisemiten und Homophobe. Und trotzdem lässt Rothmann sie die Wahrheit sagen, während sie ihren Arschlochkram tun. Kalter Krieg aus Sicht eines Sozialdemokraten, der natürlich eingestehen muss, dass der Bolschewismus Recht hat, aber beim Rechthaben nach seinem Geschmack allzu fies vorgeht und eben schmeckt, wie er schmeckt, als unfertiger, saurer Apfel. Der faule Apfel Westen ist dagegen angegoren und unangenehm süß, aber wenigstens das. Man kann davon einen Bissen ja einem Obdachlosen rüberspucken, wenn man dazu lustig ist.
Das Denken der Leugner
Das ist der Vorzug, den Rothmann ausstellt. Dabei ist es kein Wunder, dass der Erzähler in „Das Sternbild der Idioten“ von den Mieten in Westberlin und den Preisen für Tetrapakwein schwärmt. Es ist die grundsätzliche Geisteshaltung jener, die im Westen sind und nicht mitbekommen haben, dass die Mauer weg ist (nicht aber die tatsächlichen, die Arschlöcher aus Fleisch und Blut und Firmenwagen von Mercedes), und damit Kriegseinsätze, Agenda 2010 und Polizeigesetze da sind. Rothmann zeigt, wie es sich denken lässt, wenn man als Westler leugnet, dass jetzt jetzt ist. Er zeigt, wie Hereingefallene auf den alten Trick des Kapitalismus denken, denen erfolgreich vorgemacht wird, alles bliebe immer beim Alten.
Deshalb sind auch seine beiden letzten Romane, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs spielen, so besonders schlecht: sie greifen mit ihrer Haltung tatsächlich vor – aber eben nicht weit, nur in die postfaschistische BRD mit ihrem bisschen 68er-Aufbruch, vielem Biedermeier und den Nazirichter, die keinmal umziehen mussten. Wenn ich mir aussuchen müsste, etwas von Rothmann wegzucanceln, und dabei Kulturtaten zu tun, dann dementsprechend „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018). Mit dem Buch „Hotel der Schlaflosen“ lässt sich aber was anfangen.
Es gibt diese Fake-Bushaltestelle an Altersheimen, wo Alzheimerkranke hingehen, wenn sie ausbüxen wollen. Ralf Rothmann sitzt an dieser Haltestelle und es mag seltsam sein, wenn man nachvollziehen will, wo er denkt, dass er ist. Und natürlich nimmt die Leistung ab und Vieles wird nach und nach gar zu wild und es wird immer wieder das Gleiche gekaut und wenn es um Krieg geht, dann sucht man schon den Ausknopf am Alten. Aber wenn man sich darauf einlässt, ist es toll, zu erleben, wo er einen hin mitnimmt und wie oft dabei auch was Selbstentlarvendes rauskommt.
In „Der Wodka des Bestatters“, der letzten Story vor besagtem Schnarch-Outro-Text („Ein leises Ziehen in der Herzgegend“), wird ein siebzigjähriger, glückloser Bestatter zu einer Grube gerufen, weil dort vor Jahrzehnten verschüttete Kumpel wieder ausgebuddelt wurden. Darunter der halb einbernsternierte, halb zu Staub vergangene dreiundzwanzigjährige Vater des Bestatters. Sprich: die klapprige Bundesrepublik von jetzt, steht vor der toten von damals. Die erste stinkt nach Dauerfrustsuff, die andere nach Moder. Eine feine Pirouette, die tief blicken lässt, in die Gesellschaft, in der sie sich dreht. Dazu passt, dass sich Rothmanns Sprache stets liest, als wär sie frisch tot. Und frisch Totes verzehren wir schließlich, statt es wegzuwerfen.
Jesus meinte schon vor zweitausend Jahren das linksliberale Spätbürgertum, als er sagte: „Lasst die Toten ihre Toten beerdigen.“
Rezension von Ken Merten, 15.April’21

Weitere Rezensionen auf Nous:
Aras Ören „Berliner Trilogie“ oder Flaschenpost aus der Vergangenheit
Helon Habila „Reisen“ oder Die Klassengewalt sitzt mit im Bus
Mesut Bayraktars „Briefe aus Istanbul“ oder Hoffnungslos hoffnungsvoll