Über Gerechtigkeit, soziale Freiheit, über die Liebe zum Schreiben und die Not zum Widerstand
Deutschland, Anfang der achtziger Jahre: Das Land steckt in einer Wirtschaftskrise. Der Ölpreis ist explodiert. Die Absatzmärkte brechen ein. Die Produktion wird heruntergefahren. Tausende verlieren ihre Anstellung und auch der Wohnungsmarkt ist hoffnungslos überlaufen. Die Konkurrenz unter der arbeitenden Bevölkerung nimmt zu. Die einen klammern sich fester, während die anderen versuchen, sich an den Körpern und Gliedmaßen ihrer Mitmenschen aus dem Sumpf der Armut zu ziehen. Wo die Wirtschaft fällt, da feiert der Rassismus Konjunktur. Von den vielen Frauen und Männern, die den wachsenden Anfeindungen, Beleidigungen, Drohungen und Erniedrigungen dieser Jahre ausgesetzt sind, gibt es eine, für die die Zustände unerträglich geworden sind. Ihr Name ist Semra Ertan.
Im Mai 1982 betritt sie nach einem Hungerstreik die Simon-von-Utrecht-Straße in Hamburg. Aus Protest gegen die zunehmende Ausländerfeindlichkeit übergießt sie ihren Körper mit Benzin und zündet sich bei lebendigem Leib an. Zwei Tage später – an ihrem 25. Geburtstag – stirbt sie an den Folgen der Verbrennungen.
Semra war vierzehn, als sie im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in dieses Land kam. Sie wollte auf ein Gymnasium gehen, ohne Zweifel hätte sie das Zeug dazu gehabt, aber wie vielen anderen war auch ihr dieser Weg versperrt geblieben. Sie absolvierte die Realschule, machte eine Ausbildung als Bauzeichnerin und übersetzte unentgeltlich für Nichtdeutschsprachige bei Behördengängen. Semra war eine Arbeiterin, eine politische Aktivistin, aber vor allem war sie eins: Sie war Schriftstellerin. Ihr Nachlass umfasst 350 Gedichte und einige politische Satiren. Letztes Jahr erschien ihr erster eigenständiger Gedichtband mit einer Auswahl ihrer Lyrik. Er trägt den Titel: „Mein Name ist Ausländer.“
Die Gedichte, die darin enthalten sind, erzählen die Geschichte einer sensiblen, jungen Frau. Sie erzählen von ihrer Wut, ihrer Einsamkeit, von ihrem Glauben an eine bessere Zukunft, von ihren Zweifeln, von verwehrter Liebe und ihrer kompromisslosen Forderung nach einer solidarischen, menschengerechten Gesellschaft. Literatur war für Semra mehr als nur Buchstaben und Sätze. Sie schrieb auf Leben und Tod. Auf dem Papier rang sie mit sich und der Welt, um beide davon zu überzeugen, dass es sich lohnt weiterzumachen. „Ich halte die Leere, / Nicht ihre Hände. / Jetzt sehe ich die Dunkelheit, / Nicht die Augen. / Aber / Ich glaube daran, / Dass jeder beginnende Tag anders wird / Und die Zukunft heilere Zeiten mit sich bringt…“. Diesen Glauben hat sie sich bis zum Ende bewahrt. Auch ihr Selbstmord sollte unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, denn Semra stürzte sich nicht kopflos in den Tod, wie ein Auszug aus ihren letzten Worten, die sie vor ihrer Tat an den NDR telefonisch gerichtet hatte, zeigen: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.“
Obgleich Semra viel über die Schicksale der Gastarbeiter schrieb, über Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung, so wäre es dennoch falsch, sie auf eine bloß migrantische Dichterin zu verkürzen. Die Qualität ihrer Gedichte, der authentische, ungeschliffene Stil, als auch die Breite und Tiefe ihrer Themen erheben das Recht darauf, Semra als eine vollwertige Schriftstellerin dieses Landes anzuerkennen. Eine Veröffentlichung und Würdigung ihrer Arbeiten war lange überfällig.
Von Kamil Tybel, 27. Feb’21
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