Im folgenden Essay untersucht Jakob Hayner das Verhältnis von Romantik und marxistischer Ästhetik. In seinem Vortag auf der Peter-Hacks-Tagung 2020 stellte er am 31.10.2020 ein paar erste Überlegungen vor. Wir danken für das Einverständis des Referenten, das Redemanuskript in von ihm überarbeiteter Version veröffentlichen zu dürfen.
„Die Romantik“, schreibt Georg Lukács in »Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur«, „ist das umstrittenste Gebiet der deutschen Literatur. Von Anfang an kämpfen hymnisches Lob und erbittertes Verwerfen miteinander (…) Diese scharfen Meinungsverschiedenheiten zeigen, daß die Romantik ein Hauptproblem der deutschen Ideologie und Literatur im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert bildet.“[1] Ich möchte behaupten, dass das selbst noch für unser Jahrhundert gilt, in dem wir uns noch immer mit deutscher Ideologie und Literatur herumzuärgern haben. Hacks ärgerte sich mutmaßlich auch gewaltig, als er seine Streitschrift »Zur Romantik« an der Schwelle zum 21. Jahrhundert vorlegte und auf ein reichlich befremdetes Publikum traf, zuvorderst in den Kulturredaktionen der hiesigen Zeitungshäuser. Freilich trug er den Ärger schon eine Weile mit sich herum. Als das alles anfing, hatte soeben ein tragischer Narr sich des wichtigsten Staatsamts im sozialistischen Staat bemächtigt. Der hielt sozialistische Steuerungswissenschaft für Aberglauben, aber Schuldenmacherei im kapitalistischen Ausland für erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Er war offensichtlich nicht der richtige Mann für das Amt. Und Hacks beobachtete präzise, dass seine lieben Kollegen aus Literatur und Kunst den schwachen König auf dem Thron zum Anlass nahmen, sich vom Sozialismus überhaupt abzuwenden. Oder sich gegen ihn in Stellung zu bringen. Haben sie ihn dann auch abgeschafft? Das wäre selbst in Hacks‘ Augen zu viel der Ehre. Doch taten sie im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten das ihre dazu. Sprechen wir über Romantik – und zwar in dem Sinne wie es auch Heine, Goethe, Hegel, Lukács und Hacks taten –, dann sprechen wir immer über politische Dummheiten und Bösartigkeiten, die aber oft genug im Gewand ästhetischer Vorlieben auftreten. Es geht weniger um romantische Werke – wie beispielsweise jene, in denen die Meisterschaft unbestreitbar ist, nämlich die unheimlich-schaurigen Märchen und Gothic Novels –, auch in dem Sinne, dass diese einer literarischen Epoche zuzuordnen wären, als vielmehr um die Kritik der romantischen Haltung. Es gilt also, folgende Fragen einmal zu behandeln: Was haben Ästhetik und Ideologie miteinander zu tun? Warum erweist sich Romantik als ein feststehender Topos dieser Verbindung? Welches Problem hat der Marxismus mit der Romantik? Und zuletzt: Gibt es einen Ausweg aus der Misere?
Es gibt diese berühmte Formulierung von den Künstlern als den „Ingenieuren der menschlichen Seele“, von der manche behaupten, sie wäre nicht nur berühmt, sondern gar berüchtigt. Das ist sie insbesondere deswegen, weil diese Aussage wie kaum eine andere im Brustton der Überzeugung zurückgewiesen wird. Weiß der Bürger vergangener und auch dieser Zeiten doch, dass die Seele und die Kunst frei sein sollen, also frei darin, sich stumm zu unterwerfen. Es gibt diese naive Vorstellung des Unberührten. Das ist etwas zutiefst Romantisches. Und diese Vorstellung ist nicht nur ein harmloses Missverständnis oder eine belanglose Gedankenlosigkeit, sondern vielmehr ein abgründiges Ideologem. Es ist eine eigenartige Vorstellung, dass man Freiheit nur dort finden könne, wo man sich wie der Einsiedler im Walde zurückzieht, wo von Mitmenschen und menschlicher Gesellschaft nichts mehr zu sehen oder zu spüren sei und man allein mit seinen Gedanken und Gebrechen sei. Es ist zudem noch falsch. Es ist eine dieser „Robinsonaden“ der bürgerlichen Gesellschaft, die das Eigentliche zu entdecken meinen, indem man einfach alles andere weglässt. Doch Robinson Crusoe, der bekannte Schiffbrüchige auf seiner Insel, ist keineswegs vom Himmel gefallen, wie schon Marx polemisierte, sondern nimmt all seine praktischen Ideen, aber auch seine geistige Erbauung aus dem, was die bisherige menschliche Geschichte ihm bereitgestellt hat. Er denkt nichts neu, er macht nichts anders, im Gegenteil bleibt er völlig im Rahmen des Vorgegebenen. Er ist halt nur allein, bis er dann doch noch jemanden zum Kolonisieren bekommt. Und die Täuschung liegt darin, dass diese Vereinzelung als Freiheit aufgefasst wird, wobei es mit der Freiheit nicht so weit her ist, wenn man sich die ganze liebe Zeit um die sturmgeplagte Hütte, das mühselig angebaute Getreide und dann noch die kleine Herde von domestizierten Viechern kümmern muss. Kurz gesagt: In den Robinsonaden verschwindet der gesellschaftliche Charakter des Seins. Oder besser gesagt: er wird unsichtbar. Denn zugleich ist er unbestreitbar vorhanden und zwar in allem, was der vereinzelte Einzelne so denkt und tut. Marx waren solcherlei Vorstellungen suspekt und so auch dem Marxismus.
Was hat das nun mit dem Seelenproblem und mit der Kunst zu tun? Zunächst das: Kunst hat sich zu allen Zeiten auf die seelischen Zustände im Menschen bezogen. Worauf sollte sie sonst wirken? Und wie, wenn nicht mittels der Wahrnehmung ihrer Formen? Indem die Kunst nie einfach bloß das Tatsächliche verhandelt hat, das konnte man getrost der Wissenschaft überlassen, sondern nach der Bedeutung des Tatsächlichen fragte, war sie an dem interessiert, was die Menschen begehren und wonach sie streben. Das alles fällt in den Bereich des Imaginären, also grob gesagt der Bilder, die wir uns von der Welt machen. Sei es als Ideal wie in der Antike oder als Vorschein des göttlichen Paradieses wie in der christlichen Epoche, irgendwie tauchte immer etwas auf, an das man sich im Sinne eines Utopischen binden könnte. Oder das einen bindet. Und natürlich ist jede Kunst auch manipulativ, wenn man so will. Sie lockt, sie verführt, sie täuscht, sie spiegelt Dinge vor, die nur in der Phantasie existieren, sie bereitet dadurch Genuss und Befriedigung. Und man kann sogar sagen, dass sie in vieler Hinsicht enttäuschend ist, weil sie nichts einlöst von dem, was sie verspricht. So ist das mit der ohnmächtigen Schönheit, die doch wirkungsvoller ist als all die als Interventionen und Aktionen etikettierten künstlerischen Ermächtigungsphantasien. Der Künstler als Ingenieur – oder heute wohl eher Programmierer – der menschlichen Seele ist kein Unhold aus den Untiefen des Sozialismus, sondern zunächst eine allgemeine Beschreibung dessen, womit Kunst arbeitet. Und Kunst ist Arbeit und sie hat auch Regeln. Akzeptieren wir zunächst, dass auch die künstlerischen Produkte, die sich robinsonadenmäßig als gänzlich weltenfern begreifen, auf das Subjekt und dessen innere Vorstellungswelt wirken, also in diesem Sinne nicht unschuldig sind, wobei man bei 1,5 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva jährlich allein hierzulande wohl den Einfluss der Kunst auf die Verfassung der Einzelnen gleichzeitig nicht überbewerten sollte. Wenn man sich also einmal der hinderlichen Idee entledigt hat, dass es einerseits die nette Kunst gibt, die mit nichts und niemandem etwas anstellt, und es andererseits die böse Kunst gibt , die gewissermaßen unbefugt in das Innerste des Menschen eingreift, kommt man zu den interessanteren Fragen. Wenn also alle Kunst aufs Subjekt wirkt und möglicherweise sogar nachhaltig beeinflusst, was diesem als begehrens- oder erstrebenswert erscheint, dann geht es darum, was genau dabei passiert. Ist das eine marxistische Frage? Ich denke schon. Denn Marxisten interessieren sich nicht dafür, ob die Menschen nun freiwillig oder gezwungenermaßen tun, was sie halt tun, sondern welchen Inhalt das hat und wie es besser sein könnte. Und in der Kunst wird der Inhalt zur Form, also interessieren sich Marxisten auch dafür insbesondere.
„Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Zu was fühlen wir uns hingezogen?“[2] Das bezeichnete der marxistische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem „Ästhetik“-Buch als die drei großen Fragen der Philosophie. Das Kognitive, das Ethisch-Politische und das Libidinös-Ästhetische nannte er die Bereiche, die er den Fragen zuordnete. In der Moderne, so Eagleton, erfährt das Ästhetische eine Aufwertung, paradoxerweise obwohl die Kunst als politische Kraft faktisch abstirbt. Das kennt man so ähnlich auch von Hegel. Im Ästhetischen aber ist das Versprechen eines anderen Zustands aufbewahrt. Nun ist Eagleton nicht so naiv, dass er deswegen die Kunst per se als ein Mittel der Emanzipation auffassen würde. Die politischen Kämpfe zeigen sich auch in ihrem Feld. Die Ästhetisierung könne eine Wendung nach links oder nach rechts nehmen. Lassen wir die linke zunächst einmal beiseite, so fordert nach Eagleton „die Wendung nach rechts dazu auf, theoretische Analysen zu unterlassen, sich ans sinnliche Einzelne zu halten und die Gesellschaft als einen sich selbst begründenden Organismus zu betrachten, dessen Teile sich insgesamt konfliktlos und wunderbar durchdringen, also keiner rationalen Rechtfertigung bedürfen. Wir sollen stattdessen mit unserem Körper und seinem Blut denken sowie uns vor Augen halten, daß die Tradition stets weiser und reicher ist als unser armes, bemitleidenswertes Ich. Diese Entwicklung führt in einer ihrer Seitenströmungen zum Dritten Reich. Sie beginnt beim Kunstwerk und endet mit einer Vogelscheuche auf dem Feld.“[3] Wie in der Wirklichkeit werden in der Kunst zwei Lösungen angeboten, eine fortschrittliche und eine reaktionäre. Was das bedeutet, ist aber noch zu klären.
Nehmen wir zunächst auf, was Eagleton schreibt. Er schlägt vor, das Politische der Kunst nicht in Bezug auf ihren manifesten Inhalt zu suchen, sondern auf andere Weise zu umreißen. Es kommt also nicht auf die Stellung eines Werkes zur Tagespolitik, zu Gesetzesvorhaben, politischen Initiativen oder – schlimmer noch – Feuilleton oder Twitterdebatten an. Aber worauf dann? Eagleton spricht von dem Verzicht auf Theorie, der Verherrlichung des Sinnlichen und einem quasinatürlichen Gesellschaftsbild, er bezieht sich – wenn man so will – auf vorpolitische oder metapolitische Ideen, also auf Vorstellungen, die möglicherweise unser Verhalten in den tagespolitischen Auseinandersetzungen prägen kann, ohne diese selbst in den Blick nehmen zu müssen. Das ist ausgesprochen wichtig. Wer nämlich statt Vernunft nur vermeintliche Natur oder das Geschehen freier Märkte gelten lässt, wird sich letztlich jeder Macht unterwerfen, die den Kapitalismus am Laufen zu halten verspricht. Und wird für fortschrittliche politische Lösungen wenig übrig haben.
Wie Sie merken, nähere ich mich sowohl der Romantik als auch Hacks auf Umwegen. Und zwar, indem ich das Problem zu skizzieren versuche, das sich meines Erachtens hinter dem Topos der Romantik im marxistischen Denken verbirgt. Wenn ich mit Rückgriff auf Eagleton soeben versucht habe anzudeuten, dass sich in bestimmten ästhetischen Positionen ein Ensemble vor- oder metapolitischer Ideen ausdrückt, so nähern wir uns präzise dem, was Romantik meint. Und die Sache mit den seelischen Ingenieurswesen zeigte, dass es nicht um das geht, was ist, sondern um das, was sein soll – und zwar im Medium der Regungen derer, die Kunst wahrnehmen, also das Sein-Sollende als das zu Wollende. Es gibt aber noch ein paar Eigentümlichkeiten zu berücksichtigen. Dazu gehört, dass jede Kritik der Romantik bisher zugleich auf ihr rebellisches Auftreten aufmerksam machte. Und auch auf den politisch eher diffusen Charakter des Romantischen. Die literaturgeschichtlichen Details zum Thema werden an dieser Stelle vernachlässigt – zugunsten des Versuchs einer ideologischen Charakteristik. So stellt auch Naphta in Thomas Manns »Der Zauberberg«, der nach gängiger Lesart die Züge von Lukács tragen soll, heraus, es sei „höchst lächerlich, den Begriff des Revolutionären ausschließlich mit dem Fortschritt und der siegreich anrennenden Aufklärung verbinden zu wollen“, dies aber nicht „auf jene rausch- und gesangvolle völkische Erhebung“[4] der Romantik beziehen zu wollen. Es folgen dann weitere Ausführungen zum romantischen, also abstrakten Freiheitsbegriff, die Freiheitsbegeisterung sei „vielmehr Moralfanatismus und der Haß auf unvölkische Frivolität gewesen“.[5] Die Zeit um 1800, die als Geburtsstunde der modernen Romantik nach den Revolutionen von 1776 in Amerika, 1789 in Frankreich und 1791 auf Haiti anzusehen ist, wurde nie nur in Bezug auf das Faktische verhandelt, sondern auch hinsichtlich der Analogien, die sie aufweist, und der Projektionen, die sie gewissermaßen anzieht. Wenn zum Beispiel Rainald Goetz – kein Marxist, aber doch immerhin ein Vertreter des kühlen, analytischen und antiromantischen Verstandes – in seinem Buch „klage“ über Heinrich von Kleist schreibt, kommt er sofort auf dessen Gegenspieler Goethe zu sprechen. Goetz ruft den Gegensatz von Romantik und Klassik auf, der in seiner typisierten und nahezu metaphorischen Form nicht nur bekannt ist, sondern eben auch einige Erklärungskraft besitzt. Goetz schreibt über den rigorosen „Moralinfantilismus, durch den hindurch Kleist seinen Helden zur Erlösung kommen lässt, im lächerlich widerstandslosen second-life-Reich der Kunst. Prinzipienmaximalismus, Rechthaberei, Ichstumpfsinn“, so seine Zusammenfassung der Romantik. Und fügt hinzu: „Gegen diese Billigvariante des Rebellischen lebenslang zu rebellieren: Goethe“[6]. Die aus Prinzipienmaximalismus, Rechthaberei und Ichstumpfsinn zusammengesetzte Billigvariante des Rebellischen, eine solche Beschreibung des romantischen Fühlens könnte nahezu von Hacks selbst stammen. Nehmen wir das, was Hacks in seiner Schrift »Zur Romantik« als Definition – und zwar als High Definition – der Romantik zu geben gedachte: „Romantik ist die Gemütslage von Frondeuren.“[7] Also von Oppositionellen, wenn man es etwas geläufiger ausdrücken möchte. Was also ist so schlimm an diesen, wenn man berücksichtigt, dass Marxisten wie Hacks weltgeschichtlich eher häufiger der Opposition angehörten? Nun für Hacks ist das zweifelsfrei der Fakt, dass diese Erfahrung fürs 20. Jahrhundert nicht mehr uneingeschränkt galt, sondern der Marxismus seit 1917 auch seine Erfahrungen mit der Verfügung über die Staatsmacht machte oder machen musste. Angesichts dessen käme man nicht weit, wollte man Marxismus aufs Oppositionelle beschränken. Und in dieser Hinsicht bietet sich die nachrevolutionäre Epoche um 1800 mit ihrem Gegensatz von Romantik und Klassik als Analogiezeitraum an.
Die Frage lautet also immer auch: Opposition wogegen eigentlich? Und zu welchem Zweck? Ein nicht unähnliches Argument führt auch Lukács ins Feld. In dem berühmten Vorwort von 1962 zu seiner fast 50 Jahre zuvor entstandenen »Die Theorie des Romans« attestiert der Autor, dass für ihn in jüngeren Jahren der „ethisch gefärbte Gegenwartspessimismus“[8] ausschlaggebender als eine von Hegel und Marx kommende Analyse gewesen sei. Lukács übt aber nicht nur eine Selbstkritik, sondern geht zugleich einer Entwicklung der kritischen Philosophie nach, die letztlich Marx und Kierkegaard im Angriff auf das Bestehende bis zur Unkenntlichkeit annähert, was den Marxisten Lukács zum Widerspruch reizt. Aber nicht nur das, er will auch erfassen, womit er es zu tun hat. „Die gesellschaftliche Basis solcher Theorien“, schreibt Lukács, „ist die philosophisch wie politisch gleich schillernde Einstellung des romantischen Antikapitalismus.“[9] Mit dem romantischen Antikapitalismus ist eine der zentralen Kategorien für das eingeführt, womit wir es zu tun haben. „Ursprünglich“, so Lukács weiter, „handelt es sich um eine wirkliche Kritik der Greuel und der Kulturfeindlichkeit des entstehenden Kapitalismus, ja zuweilen sogar um eine Vorform seiner sozialistischen Kritik“, doch in „Deutschland wurde aus dieser Einstellung allmählich eine Form der Apologetik für die politisch-soziale Rückständigkeit des Hohenzollernreichs.“[10] Eine Kritik, die in Apologetik umkippt, weil sie im Kern bewahrenden und nicht sprengenden Charakter hat, wie Lukács wenig später ausführt. Unterschieden werden also zwei Arten sozialer Kritik. Auf den ersten Blick nicht unähnlich erscheinend, erweisen sie sich aber in der Folge sogar als einander gegensätzlich – wie Konservative Revolution und Marxismus-Leninismus. Dem romantischen setzt Lukács den revolutionären Antikapitalismus entgegen. Folgt man dem Autor der »Theorie des Romans«, so hat der romantische Antikapitalismus die Tendenz, am Kapitalismus treffsicher das Falsche abzulehnen und sich politisch ebenfalls auf die falsche Seite zu schlagen. Er nennt das einen „nonkonformistisch maskierten Konformismus“[11]. Das Romantische sieht also aus wie Kritik, ist es aber nicht; es handelt sich um eine Maskerade. Im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung um Max Horkheimer wurde Mitte des 20. Jahrhunderts der Begriff der „konformistischen Rebellion“ geprägt. Mit dem war die Tatsache bezeichnet, dass eine Rebellion keineswegs naturgemäß die Aufhebung einer Autorität zum Ziel haben muss, sondern sich im Gegenteil sogar gegen einen Mangel an Autorität richten kann. Wie es kommt, die Unterwerfung zu begehren, ist sicherlich noch immer eines der größten Rätsel unserer Zeit. Es ist zugegeben nicht ganz neu, schon der Philosoph Spinoza wunderte sich vor rund 350 Jahren, dass die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als ginge es um ihr Heil. Das Romantische stellt ein solch rebellisches Kämpfen für die Knechtschaft und die politisch-soziale Rückständigkeit dar. Das ist ein modernes Phänomen, entstanden in dem Bewusstsein, dass es einer eigenen offensiven Anstrengung bedarf, um bewahrend zu wirken. In der Wahl der Mittel kann die Romantik also ausgesprochen modern sein, sie ist es nur nicht in ihren Zwecken und Zielen.
Doch Lukács ist in einer Sache durchaus unentschieden. Zwar betont er einerseits, dass die Kritik der Romantik niemals tiefschürfend und scharf genug sein kann,[12] andererseits hebt er mehrfach auch die innere Widersprüchlichkeit der Romantik hervor. Nicht zuletzt lautet einer der Einwände zur Rettung des Romantischen, dass sie eben nicht ausschließlich schadhafte Folgen habe. Diese Auffassung hat kürzlich Patrick Eiden-Offe in seinem 2017 veröffentlichten Buch »Die Poesie der Klasse: Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats« vertreten. Eiden-Offe, der mit den Theorien von Lukács durchaus vertraut ist, er schreibt zurzeit an einer Biographie des Philosophen, versucht den romantischen Antikapitalismus als Voraussetzung des revolutionären Antikapitalismus zu retten. In einem Gespräch hat er sein Anliegen pointiert dargelegt: „Die Romantik war komplizierter, als oft angenommen wird. Der Begriff des ‚romantischen Antikapitalismus‘ stammt von Georg Lukács und ist von ihm als Vorwurf gedacht. Die Romantiker hätten bereits einen Antikapitalismus besessen, der sei aber bloß nostalgisch gemeint gewesen. Ich will dagegen zeigen, dass das Nostalgische des romantischen Antikapitalismus überhaupt erst erlaubte, eine bestimmte Kritik zu entwickeln.“[13] Den Einwand sollte man nicht gering schätzen. Immerhin hatte auch Lukács in seinem späteren Vorwort zur »Theorie des Romans« einerseits harsch kritisiert, dass er eine linke Ethik noch mit einer rechten Erkenntnistheorie, also revolutionäre Moral mit konventioneller Wirklichkeitsauslegung verbunden hatte, andererseits aber auch den Nutzen für eine linke Intelligenz hervorgehoben. Und aus ihm ist ja doch noch ein Marxist geworden. Und auch der schon erwähnte Rainald Goetz bemerkte nach seiner Lektüre von Hacks‘ »Zur Romantik«, dass Goethe sicherlich und möglicherweise gar Hacks selbst in ihrer Jugend gewissermaßen „Selbstverständlichkeitsromantiker“ gewesen seien.[14] Niemand kommt also mit der Klassik zur Welt.
Gegen Eiden-Offe scheint mir jedoch vor allem ein Einwand von Bedeutung, der gewissermaßen auch Goetz betrifft. In der Rückschau mag es so erscheinen, als würde von den deklassierten Handwerkern und Wilhelm Weitling eine logische Reihe über Marx und Engels zu den glorreichen Organisationen der Arbeiterbewegung führen. Doch die Logik dieser Reihe ist ja dies, dass das Romantische in ihr vergeht, gewissermaßen gar ausgetrieben wird. Wenn, so möchte ich meinen, dann wäre Eiden-Offes These nur richtig, wenn sie sich begreifen würde als eine fortschreitende Selbstnegation des Romantischen, eine permanente Selbstaufklärung. Und dann müsste man in der Folge behaupten, dass eben nicht die Romantik, sondern die Kritik der Romantik zum Marxismus gehört, mag sie auch in den Keimformen noch enthalten gewesen sein. Dass aus einer Raupe ein Schmetterling wird, heißt nicht, der Schmetterling müsste nun fortan am Boden kriechen und ausschließlich im Austausch mit allerlei anderem Gewürm stehen, wenn er doch fliegen kann. Der Einwand ist also kurz gesagt, dass die Negation in der Logik von Eiden-Offe nicht bedacht ist. Doch nur mit der Negation kommen wir auch zu einem Geschichtsverständnis im Sinne von Hegel und Marx.
Dass die Kritik der Romantik zum Marxismus gehört, nimmt Hacks ausgesprochen ernst. Er verzichtet in »Zur Romantik« aber bekanntlich darauf, der Romantik jegliche innere Widersprüchlichkeit zuzugestehen. Das ist zweifellos stilistisch ein großer Gewinn, theoretisch aber möglicherweise ein Verlust. Wahr freilich sind nur die Übertreibungen, ließe sich hier einwenden – und das soll für eine Streitschrift auch nicht in Abrede gestellt werden. Es schärft den Blick. Doch gibt es für mich ein Dilemma. Hacks, ich erwähnte es, hatte die Erfahrung gemacht, dass der Marxismus aus der Opposition zur Macht kam, dafür wechselte er Wohn- und Arbeitsort und damit immerhin das Staatswesen. Diese Erfahrung ist mir als Ende der achtziger Jahre Geborener fremd. Ich kenne leider recht gut den Spätkapitalismus, die bundesrepublikanische Barbarei, den brutalen Neoliberalismus und inzwischen sogar dessen Übergang in den neuen Autoritarismus. Dass aber der Marxismus eine Macht sei, deckt sich nicht mit meinen Erlebnissen, in denen erste Marx-Lektüren auf ländlichen Aussteigerkommunen stattfanden und eine Offenheit für solche Ideen eher in den Kreisen diffuser jugendlicher Opposition zu finden war. Ich glaube zwar nicht an die Geburt des Sozialismus aus dem Geiste der Autonomen Zentren – und doch habe ich teils in besetzten Häusern mit mehr Menschen über Marx diskutieren können als an hiesigen Universitäten. Und Hacks publizierte immerhin in Blättchen wie der „konkret“, die in solchen diffus-politischen Kreisen zirkulierten und die sich immerhin auch tüchtig aufregten über des Dichters Verse. Doch fand man sich im Abseitigen. Ich sage das nur, damit wir uns die Misere verdeutlichen, aus der uns auch die Koketterie mit dem Hacks‘schen Rigorismus beispielsweise auf Twitter nur bedingt raushelfen wird. Eventuell, und ich denke das ist, was ich sagen möchte, besteht eine Paradoxie des Marxismus in der Opposition darin, sich mit seiner Kritik der Romantik dort bewegen zu müssen, wo zugleich auch der Romantizismus blüht. Man soll ihm ja nicht verfallen. Aber aufs Rebellische kann man unter den herrschenden Verhältnissen ja nicht einfach verzichten. Wie wollte man sie sonst abschaffen? Sich aus der Romantik herauszuarbeiten, ist sowieso eine größere Aufgabe, sie ist ja die Denkungsart, die den Niedergang einer Epoche begleitet. Oder den Niedergang des Denkens überhaupt. Es gibt ja so viel Dummheit, und vor allem so viel erwünschte und belohnte, aber das wissen Sie ebenso gut wie ich.
An der Stelle möchte ich noch auf eine treffliche Beobachtung von Hacks in Bezug auf die Romantik aufmerksam machen. Er nannte das Romantische eine „Negativkoalition“[15], in der Ultralinke und Konservative zusammenfinden. Unwillkürlich muss man an die schlechten Schauspiele denken, die dieser Tage aufgeführt werden und in denen sich vollverblödete Neoliberale und halbverblödete, weil strategisch erfolgreiche, Rechte gegenseitig befeuern oder identitätspolitische Sprachfetischisten mit konservativen Agitatoren um die Wette eifern, wer in Sachen Wirklichkeitsvernebelung die effektivsten Ergebnisse erzielt. Hacks diagnostizierte, dass eine solche Negativkoalition in der Lage sei, ein Gemeinwesen in den Abgrund zu reißen.[16] Deswegen auch die Vorliebe für das Formzertrümmernde, so Hacks. Ohne Form gibt es auch keinen Inhalt mehr. Die Romantik – so ist noch zu ergänzen – muss und will vielleicht gar nicht gewinnen. Ihr reicht es, Verwirrung unter ihren Gegnern zu stiften, die Vernunft zu zerstören und sich an unlösbaren Paradoxien zu ergötzen, ohne zu den wahren Widersprüchen zu kommen. Das alles reicht gewissermaßen, weil sie insgeheim keine bessere Lösung anstrebt, sondern mit dem schlechten Bestehenden im Bunde ist, das sie als unlösbares Welträtsel verherrlicht. Insofern wird Romantik reaktionär.
Halten wir also fest das Formzertrümmernde – und auch das Faible für Gesamtkunstwerk und Fragment sowie für fahle Ironie. Eine Mehrheitsfähigkeit beim Publikum aus künstlerischer Unfähigkeit. Überhaupt: Romantik ist nach Hacks schlicht misslungene Literatur. Zum Ende dieses kursorischen Vortrags soll es nochmals um Ästhetik gehen. Hacks hat ein gutes Gespür dafür gehabt, dass all die „weinerliche Tagesschriftstellerei“[17] und „Mixed-Media-Schlamperei“[18], das ist alles Hacks im Original, die sich in unserer Kultur prominent vertreten findet, vor allem gegen das Wiedererstarken des Sozialismus nützt. Wie sollte man dem widersprechen? Da gibt es die mit Preisen überhäuften Romane, die von gelangweilten Großstadtberufsjugendlichen berichten, deren größtes Problem ist, dass die Drogen heute nicht mehr so knallen wie gestern. Oder die nichts als plumpe Ichvergewisserung darstellenden Klageperformances, die ausschließlich das Ich- und Identitäts-, aber nie das Realitäts- oder Klassenbewusstsein ansprechen. Oder die Happenings, Kollaborationen und Projekte, die sich mit einem Wust an sinnbefreiter akademischer Katalogsprache zu bildender Kunst zu adeln versuchen. Sie sind doch die schlagenden Beweise, dass die Kunst der Romantik verfallen ist. Dass die Seelen, die hier entworfen und konstruiert werden, ihre Unfreiheit lieben sollen, dass Selbstauskunft bis ins Unendliche praktiziert werden soll oder auch Selbstveränderung propagiert wird, solange man nur drüber spricht, aber sonst nichts – vor allem keine Veränderung der Eigentums- und Rechtsverhältnisse und damit eine wirkliche Änderung der materiellen Lebensverhältnisse.
Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher hat noch auf eine Eigenart des zeitgenössischen Romantizismus aufmerksam gemacht. Der habe die Romantik in reinster Form verwirklicht. Während nämlich die früheren Romantiker noch Sensualisten waren, gilt unseren Romantikern die Sinnlichkeit bestenfalls als Nebensache, als Ablenkung vom wichtigen Projekt, der eigenen Subjektivität zum Ausdruck zu verhelfen.[19] Was Fisher hier skizziert, ist das Programm der heutigen abstrakten Romantik: Wirklichkeitsverlust mit den Mitteln der Kunst. Arbeitet Kunst für gewöhnlich nicht nur am Wirklichkeitssinn, sondern auch am Möglichkeitssinn, verkehrt sich in der Ästhetik der Romantik tatsächlich alles: Wirklichkeitsverlust korrespondiert mit einer Verfertigung des Unmöglichkeitssinns. Die „gesamte Pomo -Romantik-Kultur“, wie Fisher sie nennt, kennt – wenn überhaupt – nur innere Vorgänge. Der vollends abstrakt gewordene Individualismus ist vor allem als Gegenteil dessen, was er zu sein vorgibt. „Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart“, wusste schon Lukács. Wahre Individualität wäre erst in einer besseren Gesellschaft. Das aber nicht einmal mehr zu wollen, nichts daran noch wünschenswert zu finden, das ist die Funktion des Romantizismus in der Kultur. Und wer auf dem Feld der Ideen die Waffen streckt, wird nicht nur praktisch besiegt werden, sondern gar die Fähigkeit zu kämpfen verlieren. Die Unterwerfung der Kunst unter den biographischen Partikularismus nannte der Philosoph Alain Badiou die „Vorherrschaft des romantischen Formalismus“ . Als dessen passendes Gegenstück benennt Badiou den Pseudoklassizismus der Kulturindustrie. Beide fügen sich bestens in das System von wirtschaftlichem Liberalismus und politischem Klientelismus. Eine marxistische Ästhetik kann sich dazu nur kritisch, nur negierend verhalten.
Von Jakob Hayner, 07.Jan’21
Titelbild von Lukas Schepers