Literaturkritik: „Ein Mann seiner Klasse“ oder Die Klasse kehrt zurück

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„Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron: Von der Aufarbeitung einer Kindheit in Armut

Nimmt man die Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds ernst – und es gibt gute Gründe dies zu tun – dann ist das, was man allgemein hin als „Vergessen“ bezeichnet, in Wahrheit etwas Anderes. Tatsächlich ist nichts vergessen. Das Erlebte ist im Menschen aufbewahrt, das Gute, sowie das Schlechte. Aber das Wissen um eine Vergangenheit ist noch kein Wissen über die Vergangenheit. Es stellt sich die Frage nach dem Zugriff. Offenbar hat das Erinnern einen Antagonisten, mit dem es sich um die Erinnerungsspuren streitet. Dieser Antagonist heißt Verdrängung. Sie soll jene Erfahrungen unterdrücken, die im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen stehen. Sie soll die Funktionalität wahren, deren Imperativ die Verwertung ist. Das Unbewusste ist also nicht unbewusst, weil es nie Gegenstand des Bewusstseins war, sondern weil es einer Zensur unterliegt. Jedoch sind die Mittel der Zensur verräterisch. Wo die Widerstände der Verdrängung aktiv werden, und zwar meist in Form von starken, schwer zu kontrollierenden Gefühlsregungen, da deuten sie auf ihr Gegenteil. Das Verdrängte wird sichtbar.
Anfang des Jahres ist ein Roman erschienen. Er trägt den Titel „Ein Mann seiner Klasse“, von Christian Baron. Das Buch handelt von dem Werdegang des Autors, der 1985 in Kaiserslautern geboren wurde und der in Armut aufgewachsen ist. Barons Vater war Möbelpacker, Säufer und schreckte zuweilen nicht vor häuslicher Gewalt zurück, der vor allem die Mutter zum Opfer fiel. Sie war Hausfrau, Mutter von vier Kindern, litt an Depressionen und verstarb im Alter von 32 Jahren an Eierstockkrebs. Nach ihrem Tod wuchsen Baron und seine Geschwister bei ihrer Tante auf, der Schwester der Verstorbenen. Acht Jahre später stirbt auch Barons Vater im Alter von 43 Jahren. Der Alkohol und Jahre der Schwerstarbeit haben ihn zu Grunde gerichtet.
Die Erzählung beginnt an dem Sterbebett des Vaters. Barons Bruder Benny verabschiedet sich von ihm. Er verzeiht ihm und gibt ihm „einen Freispruch in allen Anklagepunkten.“ Nach einigen Beschreibungen über die Missverhältnisse seiner Kindertage, Passagen der verwehrten Liebe, der Sehnsucht, Gewalt und Erniedrigung, kommt auch Baron posthum zu dem selben Resümee, zu dem er zu Lebzeiten des Vaters nie gekommen war. „Heute, da ich ehrlich zu mir selbst sein kann, gestehe ich ein, was schon damals galt und was bis heute gilt: Ich hab ihn lieb.“

Die Wiederkehr des Verdrängten

Der Anfang erinnert an eine griechische Sage, bei der eine Prophezeiung das Ende der Geschichte bereits vorwegnimmt. Was bleibt, ist die Frage nach dem „wie“. Im Prinzip handelt die Erzählung von Barons Aufarbeitung der Vergangenheit, davon, es seinem Bruder Benny gleichzutun und sich mit dem Vater auszusöhnen. Baron sucht die Konfrontation. Er widersetzt sich den Widerständen der Verdrängung, deren Auswirkungen für die Gegenwart erheblich sind. Denn in der Literatur ist nichts wie es scheint und so ist Baron nicht nur Baron, sondern wie sein Vater, sein Bruder, seine Mutter und die restlichen Figuren der Handlung ein Stellvertreter seiner Klasse – ein Mann seiner Klasse.
Die Individualhistorie überschreitet sich. Ein Arbeiterkind, das seine Vergangenheit verdrängt, zuweilen verdrängen muss, verdrängt auch die gesellschaftlichen Umstände, die die Verdrängung überhaupt erst notwendig gemacht haben. Es verdrängt Armut, Ausgrenzung, Gewalt und Klassenhass, die sich hinter zahlreichen Zweifeln, hinter Scham, Hass, Zorn, Schmerz und Angst verbergen. Indem Baron sich seinen schlechten Gefühlen zum Trotz dem Schweigen stellt und es in Sprache umstülpt, verhilft er auch jenen, denen die Mittel dazu fehlen, sich ihrer eigenen Geschichte zu bemächtigen. Es ist ein Akt der Bewusstwerdung, ein Protest der Dialektik gegen die Einseitigkeit der gesellschaftlichen Zensur, die einen Schatten über die Verhältnisse der Unterdrückten wirft.

Warum Literatur?

Barons Weg zum Schriftsteller führte über den Journalismus. Die Idee für den Roman geht auf einen Zeitungsartikel mit selbigem Titel zurück, der im März 2019 beim Freitag erschienen ist. Darin skizziert Baron, was er im Roman ausführt. Zudem macht er noch einige Verweise, wie z.B. zu Kafka und seiner Beziehung zu seinem Vater, als auch zu Édouard Louis, der Baron neben Didier Eribon und Annie Ernaux ohne jeden Zweifel Vorbild für seine Arbeit war.
Warum nun aber Literatur? Immerhin ist 2016 bereits ein Sachbuch von ihm mit Titel „Proleten, Pöbel, Parasiten“ erschienen, indem er die Entfremdung linker Intellektueller zur Arbeiterklasse behandelt. Er hätte auch ohne Weiteres einen ähnlichen Weg mit „Ein Mann seiner Klasse“ einschlagen können. Aber anstatt in die Fußstapfen von Didier Eribon zu treten, entschied er sich, Annie Ernaux zu folgen und weitestgehend auf soziologische Zusammenhänge zu verzichten. Der Grund dafür ist in dem Wesen der Literatur zu suchen. Baron will keinen Bericht erstatten, nicht erklären, er will erzählen. Es reicht ihm nicht mit dem Finger auf die Verstorbenen zu zeigen und den Leser in Kenntnis zu setzen. Er will die Toten aus dem Jenseits heraufbeschwören und ihre Geschichten erlebbar machen. Der Leser soll spüren, wie sich die Klassengewalt anfühlt, die schon früh ihre Axt ansetzt und die Barons Mutter das Selbstvertrauen stahl, als sie in der neunten Klasse ein selbstgeschriebenes Gedicht vorträgt und der Lehrer, sowie ihre Mitschüler in Gelächter ausbrechen. Er soll spüren, wie es ist, wenn einem trotz einer Empfehlung für das Gymnasium die Türen zur Bildung versperrt bleiben sollen, weil man aus armen Verhältnissen stammt und ohne Hilfe den Schritt nie hätte tun können. Und er soll spüren, wie es ist, seinen Vater lieben zu wollen, obwohl die Welt ihn zuweilen lieblos gemacht hat.
Besonders eindrücklich erscheint der letzte Umstand in dem Kapitel „Scham“, in dem Baron einen Vorfall mit der Polizei schildert, die den Vater auf offener Straße bloßstellt und misshandelt. Baron und seine Mutter stehen am Fenster und beobachten die Szene. Die Mutter weiß, was folgen wird. Sie setzt Baron vor den Fernseher und schiebt eine Kassette in das Abspielgerät. Es ist die Verfilmung von Aschenputtel. Erniedrigt kehrt Barons Vater in die Wohnung zurück. Er schäumt vor Wut und wird handgreiflich gegenüber der Mutter. Die Scheiße fließt nach unten. Baron starrt auf den Fernseher. Nur aus den Augenwinkeln traut der Junge sich, die Beiden zu beobachten, während Aschenputtel ein Liedchen trällert und die Kassette sie ihrem Happyend entgegen spult. Es ist ein beispielloser Abschnitt, eine Gegenüberstellung von Märchen und Wirklichkeit, die das Potenzial der Literatur voll und ganz ausschöpft. Selbst die Träume, die Aschenputtel als letzten Zufluchtsort besingt, erweisen sich am Beispiel der an Depression leidenden Mutter als ein weiterer Ort der Unterdrückung.

Kunst und Kulturindustrie

Die Aschenputtelszene ist nur eines von vielen Beispielen. Im Verlauf der Erzählung macht Baron zahlreiche Verweise zur Musik, Film und Spielindustrie. „Fast alle schönen Momente meiner Kindheit fanden vor dem Fernseher statt.“ Jene Passagen stechen hervor. Sie ähneln kleinen Inseln, die auf einem Sumpf der Klassengewalt schwimmen. Es sind kurze Augenblicke der Harmonie. Aber sie haben ihren Preis. Denn sie erwachsen ebenso wie das Vergessen aus dem Boden der Verdrängung. Die Kulturindustrie ist nur wenig an Aufklärung interessiert, nur soweit, wie sie sich zum Geschäft machen lässt. Der Verwertungsimperativ schafft sich auch hier seine eigenen Mittel der Zensur. Und doch ist es erstaunlich, welch eine Wirkung Baron zuweilen in jenen Passagen entfaltet.
Ein wiederkehrendes Stück ist das The Rose Cover von der „Kelly Family“. Es gehörte zu den Lieblingsliedern der Mutter. Baron beschreibt, wie sie es singt und mit ihm dazu tanzt. Er zitiert auch den Text, der in allgemeinen Bildern und Begriffen verfasst ist. Neben der Zugänglichkeit der Melodie begründet eben dieser allgemeine Charakter des Textes, nämlich die Behandlung der Welt auf der Reaktionsebene, also auf der Gefühlsebene, den Erfolg solcher Erzeugnisse. Der Text handelt nicht von einer Fehlgeburt, wie sie Barons Mutter in jungen Jahren hatte, auch nicht von den Demütigungen ihrer Schulzeit oder ihrer Krankheit, die heilbar gewesen wäre, weder von der Enge der Armut, noch von einem gewaltbereiten Ehemann und seinen Fäusten; er handelt von Liebe und Sehnsucht und dem Glauben an bessere Zeiten. Das Lied ist ein mit Lametta behangener Raum, in dem es sich sowohl die Unterdrückten, wie auch die Unterdrücker bequem machen können. Indem Baron aber die Musik der „Kelly Family“ zum Gegenstand seines Romans macht, schließt er die Leerstellen des Textes mit seinem Leben und dem seiner Mutter. Aus Kulturindustrie wird Kunst. So wundert es nicht, wenn Baron gegen Ende des Romans von einem Treffen mit seinen Geschwistern erzählt und sie gemeinsam zum Gedenken der Verstorbenen nacheinander die Strophen des Liedes vortragen und gerade dies den Leser tief berührt.

Ein Buch für meine Klasse

Barons Debütroman ist ein Aufatmen für die Literatur. Seine Veröffentlichung markiert einen Wendepunkt. Vor einigen Jahren noch wäre ein Roman mit einem solchen Titel und Inhalt bei einem Verlag wie Claassen kaum denkbar gewesen. Bei einer Lesung in Stuttgart erklärte sich Baron diesen Umstand mit Blick auf seine Kollegen in Frankreich, die ihm in Deutschland den Weg geebnet hätten. Das mag nicht falsch sein, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Da ist mehr im Gange: Die Kunst ist seit jeher ein Spiegel der Gesellschaft. Was sich an ihrer Oberfläche zeigt, ist aus den Tiefen der Wirklichkeit hervorgegangen. Ein Wendepunkt in der Literatur markiert also einen Wendepunkt in der Gesellschaft, die der Literatur immer einen Schritt voraus ist.
Bei der selben Veranstaltung im Württembergischer Kunstverein antwortete Baron auf die Frage, an wen sein Roman gerichtet sei, mit einem Verweis auf seine Protagonisten. Anhand dieser Begründung stützt er sich auch auf die Sprache und den Stil seiner Erzählung, die sich der Wortwahl der unteren Klassen auf der Erzählebene zu bedienen versucht. Der Roman soll zugänglich sein, so Baron. In einem Aufsatz von Brecht über Volkstümlichkeit und Realismus, schreibt der große Dichter und Theoretiker: „Das Volk, das die Dichter, einige davon, als seine Sprechwerkzeuge benutzt, verlangt, dass ihm aufs Maul geschaut wird, aber nicht, dass ihm nach dem Maul gesprochen wird.“ In diesem Sinne sind Barons Absichten zwar edel und richtig, ohne Zweifel hat er die Sprache seiner Figuren gut studiert, aber die Kunst lebt von der verfremdenden Nachahmung. Das Nachgeahmte allein, das Imitierte gibt seine Geheimnisse nur ungern Preis. Die Sprache kann ein Mittel sein, die Vorgänge der Wirklichkeit in ein neues Licht zu rücken und aufzuzeigen, was im Alltag undurchsichtig bleibt. Sie kann das Bekannte unbekannt machen, um es in Erkanntes zu überführen.
Aber diese Kerbe soll den Roman nicht weiter schmälern. Baron ist gelungen, was er sich vorgenommen hat: Ein Buch für seine Klasse. Es ist ehrlich, intelligent und bodenständig.

Von Kamil Tybel, 31. Okt.’20

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