Anmerkungen zu Saša Stanišić’ „Herkunft“ und seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019
Was kann Kunst? Nicht alles, aber mehr als was die Welt kann. Sie hat ein eigenes Gesetz, das festlegt, was in ihr geht und was in ihr nicht geht, aber trotzdem ein anderes. Das ist: du kannst nicht nur, du musst dich zur Welt verhalten, als wären die Pole Können/Nichtkönnen variabel, sonst bist du keine Kunst; und willst du gute Kunst sein, sieh zu, dass das Weltgesetz und das Kunstgesetz sich in ein Verhältnis setzen! Also Kunst, das ist Was-wäre-wenn (die Welt eine andere wäre) plus Nicht-zu-vergesse-dass (es nicht diese andere, sondern eben jene Welt ist, der die Kunst entspringt, die gilt).
Ich kann also „Herkunft“ schreiben und Saša Stanišić heißen, weil die Welt eine ist, in der Menschen migrieren, migrieren müssen, und dann da, wo sie sind, im Imperialismus, oft genug mit Vorrang als Migrant und, wenn überhaupt, zweitrangig als Mensch betrachtet werden. Ich kann darüber schreiben und ich muss, wenn „Herkunft“ Kunst sein will und kein Faktenprotokoll und keine Bestandsaufnahme, im Werk etwas am Weltgesetz drehen, ohne jenes zu vergessen. Also vermittle ich darin, wenns mir obendrauf um gesellschaftlichen Fortschritt geht, die Haltung, dass die Herkunft (wie die Welt) nicht determinierend ist. Es gibt Sachen, wird gezeigt, die sich wählen lassen können. Es gibt nicht nur Sachen und ihre Zwänge, es gibt auch menschliches Wollen. Wenn dieses Zeigen passiert ist, ist Kunst passiert.
Saša Stanišić, der hier als Objekt meines Wer-will-ich-sein herhalten muss, hat als Mensch von dieser Welt mit seinem aktuellen Buch „Herkunft“ (Luchterhand 2019) zweierlei mit der Knebelei in eben jener Welt gebrochen: 1978 im jugoslawischen (heute bosnischen) Višegrad geboren, 1992 nach der Zerschlagung des Tito-Sozialismus mit der Mutter, einer Marxismus-Professorin, vor dem Bürgerkrieg ins bundesdeutsche Heidelberg geflohen. Der Vater kam später nach.
Stanišić hat als Autor zweier Romane (2006: „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ und 2014: „Vor dem Fest“) und eines Erzählbandes (2016: „Fallensteller“) hierzulande den Status eines etablierten, jungen Autoren. Dass da aber bei Biografien wie seiner in der Bundesrepublik nie das Adjektiv „migrantischer“ vergessen wird, darauf hat bereits Maxim Biller in seiner Kritik an „Vor dem Fest“, das in der brandenburgischen, nach-DDR-sozialistischen Einöde spielt, hingewiesen, indem Biller sich fragt: „Ist es ihm [Stanišić, K.M.] wichtiger, als Neudeutscher über Urdeutsche zu schreiben als über Leute wie sich selbst?“
Was Maxim Biller in der Zeit vom 20.02.2014 noch als identitätsästhetische Forderung aufstellen mag, weil migrantische Themen durch die Dominanz der autochthon-deutschen Leithochkultur nur als Exotismus am Rande sein darf, weist zugleich auf die regressiv-hegemoniale Kehrseite des Schuster-vom-Balkan-bleib-bei-deinen-Einwandererleisten. Die lassen sich als Nischenprodukt schließlich gut absetzen auf dem Markt.
Unangenehm drängt sich der Einfluss jener Kehrseite auf, wenn ein Stanišić erscheint, der den Titel „Herkunft“ trägt. Stanišić aber lässt sich nicht einfangen. Ja, er schreibt in „Herkunft“ realistisch, überzeugend, humorig über seine Herkunft, seine jugoslawische Heimat und seine Besuche dort. Er schreibt über seine Familie, über seine demente Großmutter und die Orte von früher. Aber er macht mehr daraus, indem er die Erwartung doppelt bricht: Indem er gute Kunst macht und die Herkunftsliteratur in Choose-Your-Own-Adventure-Literatur übergehen lässt, hebt er damit gleichzeitig die Forderungen auf, an den Migranten, der er zu sein habe, und der doch gefälligst bei seinen Migrantenthemen zu bleiben habe. So wie er – vermittels der Kunst – mit der Totalität der Identitätsideologie bricht, die besagt, dass die Herkunft den Menschen bis zu seinem letzten Tag geißelt.
Weil so schön, nur soviel noch zu „Herkunft“ selbst: Den Bruch mit der „naturalistischen Enge“ (Peter Hacks) zu proklamieren, den Stanišić hier in Ausschöpfung dessen, was Kunst leisten kann, betreibt, überlässt jener im Werk seinem kleinen Sohn im Wohnort in Hamburg: „Er spielt mit einem Flugzeug. Ich frage: ‘Wo fliegst du hin?’ – ‘Nach Split, zu Nana.’ Er fährt Laufrad. Ich frage: ‘Wo fährst du hin?’ – ‘Nach Afrika zu den Dinos.’“
Das kann Kunst. Das kann der Autor von „Herkunft“, der ich, wäre das, in dem wir leben, ein Choose-Your-Own-Adventure, gern sein würde. Welt resp. Gesellschaft können das nicht.
Jetzt komm ich aber auf die Idee, Kunst und Welt zu tauschen, und begeh damit einen groben Verstoß der Gesetzeslage. Dann nämlich, wenn ich mir sage, es gibt Peter Handke, der kriegt den Nobelpreis und hat mal „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ geschrieben, den nehm ich und dem dicht ich die Zitate an, die mir so in die Polemik passen. Mag meine Haltung auch jene sein, dass Jugoslawien vorm Bürgerkrieg als realsozialistischer Vielvölkerstaat viel besser funktioniert hat als mit dem ethnisch-nationalistischen Hass, der Massenverarmung, dem brutalen Bürgerkrieg und all seinen kriegführenden Parteien. Oder mag meine Haltung dazu eine andere sein – unerheblich.
Der Fehler geschieht spätestens beim Schritt zur Zitatfälschung, der Schritt, die Welt sich als Bühne samt Versatzstücken so zurechtzustellen, wie sie mir besser steht. Geschehen bei der Rede zur Verleihung zum Deutschen Buchpreis 2019. Getan von Preisträger Saša Stanišić, der später das so gekennzeichnete, erfundene Handke-Zitat („Milizen, die barfuß nicht die Verbrechen begangen haben können, die sie begangen haben sollen.“) dem Spiegel gegenüber zu einer Paraphrase runterstufte und aus der Druckversion seiner Rede in der FAZ völlig streichen ließ. Gerd Schumann hat den Fall in der Tageszeitung junge Welt vom 29.10.2019 aufgeklärt.
Das Vorfeld zwischen der Nobelpreisverkündigung für Handke und der Buchpreisverkündigung und -leihung für sich, füllte der Vieltwitterer Stanišić mit Tweeds, in denen er Handke angriff, vorrangig auf inhaltlicher, selten auf handwerklicher Ebene. Er wies auf das Nichtansprechende an der Literatur Handkes hin, erreichte aber allem voran jene, die Handke nie gelesen haben, aber immer noch glauben, der NATO-Angriff auf das zerbrochene Jugoslawien wäre ein Akt des Antifaschismus gewesen.
Mit seinem Fakezitat erreichte Stanišić jene, die trainiert worden sind, die Verdrehung von Welt und Kunst hinzunehmen. Jene, die der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer 1999 mit seiner Lüge von eingerichteten Internierungslagern in kosovarischen Fußballstadien, vom sogenannten „Massaker von Račak“ und seiner Umstülpung des Schwurs von Buchenwald, der besagt, dass Krieg und Faschismus nie wieder sein sollen, trotz aller faktischen Widerlegungen bis heute überzeugt.
Angriffskriege sind seitdem wieder organischer Teil deutscher Außenpolitik. Was NATO-Bomben und imperialistische KFOR-Besetzung jedenfalls nicht brachten, waren das Ende von Zerstörung, Rassismus und Hunger auf dem Balkan, genauso weder Freedom noch Democracy.
Fakt und Fiktion dem eigenen Wohlbefinden nach wie Möbel nach einer Feng-Shui-Beratung, Plätze tauschen zu lassen, führt zur Degradierung von beidem, von Welt und Kunst. Die Methoden der Kunst in der Kunst sind vermittelnde. Die Methoden der Kunst im Weltmaßstab sind verklärende. Eine verklärte Welt ist keine erkennbare, sondern eine, in der Lügen den Anfang imperialistischer Angriffskriege markieren. Eine verklärte Welt ist keine, in der Kunst noch Platz hat, weil sie ihre ihr, und nur ihr eigenen Gesetze und Maßgaben an eine Welt/Gesellschaft abgetreten hat. Die wiederum dadurch ihre Fähigkeit verliert, Poesie als notwendig-vermittelnde Instanz zwischen Ist und Könnte-sein zu erachten, ganz einfach weil sich das sog. postfaktische Ist als falsches Könnte-sein aufstellt und kein wirkliches Könnte-sein mehr braucht, das vermittelt werden muss.
Ein Zitat, das keines ist, in die Welt zu setzen, macht nicht nur das Ist zu einem falschen Könnte-sein, es reduziert auch noch das Bedürfnis, sich mit dem wirklichen Ist (Handke hat das und das geschrieben und gesagt und dieses und jenes ist damals tatsächlich passiert) und dem wirklichen Könnte-sein (Was bietet mir das Wissen um das, was Handke geschrieben und das, was passiert ist, für Räume, um weiterzudenken?). Etikettenschwindel ist ein Angriff darauf, sich mit dem Möglichen beschäftigen zu können.
Die freie Wahl des Abenteuers oder des Etiketts – in der Kunst sind das Sachen des Möglichen. Die Welt, in der wir leben, sieht anders aus, sie hat Fallen vor die Türen von Freiheiten aufgestellt, die sie uns nicht gönnen will: Ich kann meine Identität wechseln, mich als Saša Stanišić, dem großartigen Autor von „Herkunft“ ausgeben, unwahrscheinlich, aber vielleicht auch erfolgreich. Ich werde trotzdem nicht DER Saša Stanišić, weil Subjekte unaustauschbar sind. Eine Sache der Unmöglichkeit.
Auch unsere in dieser Welt stehende Gesellschaft hat ihre Fallen. Ich kann in ihr ernsthaft Zitate fingieren, ohne sie als künstlerisches Was-wäre-wenn zu markieren und es danach leugnen und kann damit, sehr wahrscheinlich, erfolgreich bei denen sein, die ich erreichen will. Trete dabei aber in die Falle, dass jene Gesellschaft, die das falsche Zitat als richtiges annehmen soll, sich wie Schumann überwinden kann, Handke zu lesen, um es zu überprüfen.
Letzterem ist ein kritisches Wollen vorgelagert, aber, wie uns „Herkunft“ vermittelt hat, ist das Wollen Teil von dieser Welt.
Gastbeitrag Ken Merten, 31.Jan’2020
Titelbild von Marie-Kristin Boden
Hallo Ken. Saša hier. Spannend, was du schreibst, theoretisch ein interessantes Gedankenspiel mit den Kräften der Aufmerksamkeit und Identität. Geht aber im Kern von der (falschen) Annahme aus, ich hätte Handke absichtlich etwas untergejubelt, was er niemals geschrieben hat.
Die Sache stellt sich folgender Maßen dar: Die Stelle, von der du also annimmst, sie sei von mir als Zitat in die Welt gesetzt, war niemals als Zitat gedacht. Ich kann dir sehr gern ein Foto von der Handschrift der Rede zukommen lassen, wenn das was hilft. In irgendeiner Pressemeldung wurde sie aber einfach mit Anführungsstrichen ergänzt, da ein zuhörender Journalist darin ein Zitat zu erkennen meinte. So ist es halt, wenn jemand eine Rede transkribiert und den Redner nicht fragt, was Sache ist, und davon ausgehend hat sich das dann verselbständigt. Die FAZ und der Spiegel haben später nachgefragt, daher dort keine Anführungsstriche und die Klarstellung, wie die Passage gemeint war – Paraphrase+Interpretation).
Ich will dir hier keine böse Absicht unterstellen. Es ist mir auch ehrlich egal, was du von meinen Absichten hältst. Und auch ob ich dich hiermit jetzt überzeugen kann, dass du auf dem Holzweg bist.
Was mich aber tatsächlich stört, ist die implizierte Naivität, mich betreffend. Denn ich frage mich schon: Glaubst du wirklich, glaubst du allen Ernstes, dass ich in einem Raum voll mit Journalisten, Buchbranchemenschen, Handke-Lektoren und Verlegern, in einem Raum, von dem ich ja 100% ausgehen konnte, er wird meine Botschaft in alle Welt tragen, glaubst du also, ich wäre so doof, mir ein Zitat auszudenken? Dass ich also etwas so leicht Nachprüfbares wie eine Textstelle fälschen würde? Und wenn ja, warum würde ich das tun? Die Sache ist mir seit Jahren extrem wichtig, und im Moment, in dem ich tatsächlich auf einen der vielen fragwürdigen Texte hinweisen kann mit voller Aufmerksamkeit – da denke ich mir etwas aus?
Ich bitte dich, dir diese Frage in aller Ernsthaftigkeit zu stellen. Und wenn du dann immer noch glaubst, ich habe mutwillig gefälscht. Gelogen, um – ja warum eigentlich? Um mich zu profilieren, wie mir anderswo unterstellt wurde? Wenn du wirklich auch meinst, ich hätte das nötig, dann ist dieses Schreiben an dieser Stelle einfach nur ein Monolog gewesen, und ich habe uns beiden Lebenszeit geraubt. Wenn nicht: Willkommen in meiner Welt. Das ist eine Welt, in der es Texte über Texte zu Handkes Ideologisierung der Balkan-Kriege gibt, mit unzähligen zitierbaren Stellen voll tendenziöser Fragen, propagandistischer Prosa, geschichtsklitternder Esoterik, und wir können die Unterhaltung gern irgendeann dann darüber weiter führen.
Viele Grüße aus Hamburg.
Saša
Lieber Saša,
danke für dein ausführliches Schreiben zu einem Streitpunkt, der sich nicht in 280 Zeichen abhandeln lassen könnte – und das meine ich nicht polemisch, sondern tatsächlich anerkennend, dass dieser Dialog hier nicht auf Tweeds runtergebrochen wird, sondern in dieser Form stattfindet.
Ich halte es nicht für Zeitverschwendung, was du, und – denke mal – auch ich, geschrieben haben. Auch nicht für Monologe, wie hiermit klar werden sollte.
Die Ausgangsfrage zum Essay da oben war: Warum gibt es Trennlinien zwischen den Regelwerken von Kunst und Welt? Und was passiert, wenn diese überschritten werden? Ausgangsfrage war nicht – so klingt es ja im Kern deiner Kritik ziemlich deutlich durch: Wie naiv wie möglich unterstelle ich Saša Stanišić Naivität bei seinen Böswilligkeiten? Die Intention dahinter, Zitate bewusst zu fälschen oder einfach nur falsch zu zitieren, auf einer so subjektiven Ebene wie Einfältigkeit, dafür hat sich der Essay überhaupt nicht interessiert und deshalb steht er so da, wie er dasteht. Andres Beispiel daraus: Auf die Frage, ob und wie Joschka Fischer seine eigene Aussage tatsächlich als verzerrte und verzerrende wahrgenommen hat, oder ob er sie selbst als aufrichtig interpretiert gekauft hat, darauf geht der Essay auch nicht ein, weils dort nicht von Belang ist. Sondern versucht wird, objektive Gesetzmäßigkeiten abzuklopfen.
Jetzt magst du das nach deiner Aussage nicht beabsichtigt haben, dass ein falsches Handkezitat (mehr) in die Welt gekommen ist. Aber auch da (und du führst das Uninteresse an individuellen Intentionen ja mir gegenüber an) war nirgends irgendjemandes Subjektes unterstellter böser Wille Kern des Textes. Wenn ich deine Bücher lese, hängen meine Kriterien, sie für gelungen zu erachten, auch nicht davon ab, dass der nette Kerl auf dem Autorenporträt auf dem Einband sympathisch aussieht und sicher auch nett ist oder eben nicht. Weil es erstmal ästhetische, auf das Werk bezogene Kriterien sind, so wie es im Essay auch um ontologische Kritierien geht.
Meine Quelle habe ich im Essay ja benannt. Wenn ein anderer journalistischer Kollege, warum auch immer, in deine Rede Anführungszeichen eingefügt hat, und sie nicht von dir hat gegenprüfen lassen, dann ist das sicher unprofessionell von ihm gewesen. Was ich mich jetzt allerdings nochmals, in Hinblick auf deine Nachricht hier und auch beim Betrachten des Videos der Buchpreisverleihung frage, ist: Warum, wenn es diese unzähligen zitierbaren Stellen bei Handke gibt, wie du schreibst, keine von denen? Warum dann doch eine Paraphrase, die – wie geschehen, durch Böswilligkeit oder Unachtsamkeit (again: kein Thema des Essays, also auch für mich kein Streitpunkt hier) – falsch einsortiert werden kann? Warum eine weitere Paraphrase in eine Debatte einbringen? In eine, die, wie viele literarische und nichtliterarische Debatten, in unserer auf materiellen wie geistigen Ebene prekären Gesellschaft mit so arg viel Halb-, Un- und Scheinwissen geführt wird, wo es ja immer noch Faktizität und Wissen gibt, da irgendwo?
Ich bin mir unsicher, ob ich mit meiner Antwort und meinen Rückfragen deinem Wunsch um einen Gesprächsfortverlauf entspreche. Meine ehrlich gemeinten Angebote für einen weiteren Dialog sind sie aber.
Beste Grüße,
KM
Hildesheim, 04.02.2020
Lieber Ken, danke für die Erwiderung!
Über das im Zentrum deines Textes stehende Angebot, sich Trennlinien zwischen Kunst und Welt genauer anschauen habe ich nicht viel beizutragen. Ich finde deine Position interessant, wie ich alle Positionen zu diesem komplexen Komplex interessant finde.
Im Fall von Handke laufen (so meine Position) die Welt und die Kunst ineinander – seine private Weltbetrachtung ist im Falle der Jugoslawientexte zu 100% diejenige seiner innertextlichen politischen Anbiederung an das nationalistische Regime Serbiens und dessen Versuche, die Verbrechen in Bosnien in Frage zu stellen oder klein zu halten. So halbherzig er das mit Sprachkritik zu maskieren sucht und sich neben dem politischen Inhalt auch mal der Beschaffenheit von einem Fluss und was auch immer anderem Naturgedöns widmet, das, was von seiner Kunstversuchung bleibt, ist das, was in seiner Weltlesart auch geschieht: Dass hier einer spricht über wirklich wichtige, radikale Dinge, über die er entweder keine Ahnung hat, die Ahnung nicht haben möchte, sich eine falsche Ahnung angeschafft hat, oder – und jetzt mache ich den Kniff, den du oben mit meinem “Zitat” versuchst – er will (durch “Kunst”) absichtlich etwas in die “Welt” setzen, was Teil dieser Welt nicht ist: (mindestens) Verunsicherung säen über Kriegsereignisse und Verbrechen an Zivilisten im ehemaligen Jugoslawien.
Das mag nun tatsächlich nicht seine Absicht gewesen sein, er mag tatsächlich auch geglaubt haben an das, was er erzählt, er ist aber letztlich, wie wir jetzt gesehen haben, trotz aller neuen und alten Erkenntnisse über alle Vorgänge der 90er Jahre in Ex-Jugoslawien, trotz aller ihm also zur Verfügung gestellten Informationen weder in der Kunst, noch in seiner Welt bei seiner Position geblieben. Und in dieser Position auch noch zu sagen: “Kein Wort von dem, was ich über Jugoslawien geschrieben habe, ist denunzierbar” zeigt, dass er nicht nur ein eingebildeter Patient ist, der aber das Gespräch über seine Wehwehchen ablehnt, sondern dass er selbst die Trennlinie gar nicht will, zwischen dem, was Kunst sein sollte, und dem, was Wahrheit ist – das ist für ihn eins, er sieht sich als Opfer in einer Welt, in der er Opfer denunziert.
Zu deiner Frage, warum ich kein Zitat gewählt habe: ich hielt es nicht für nötig und hatte auch nicht den nötigen (Zeit-)raum dazu. Ich bin letztlich auch nur Handke-Leser. Nenne ich ein Zitat und folgere dann meine Interpretation, ist das in dem Fall einer begrenzten Redesituation nur 10 Sekunden mehr meiner Zeit, die ich für dieselbe Sache der Aussage doppelt verwende. Wäre das eine Rede von 45 Minuten, wäre sie voll mit Zitaten gewesen. Hier ist ein Link zu einem Dokument, in dem ich im Detail auf den betreffenden Text eingehe (Es ist Englisch):
https://www.documentcloud.org/documents/6616430-Sasa-Stanisic-s-Responses-to-NYT-on-Peter-Handke.html
Viele Grüße.
Saša
Lieber Saša,
wow, das hat jetzt n ganzes Stück gedauert, um zu antworten. Tut mir leid. Das liegt aber nicht daran, dass mich das Gespräch hier langweilt. Ganz im Gegenteil. Ich hab viele Fragen. Gerade weil sich hier die Visiere bisschen aufgetan haben und auf etwas Herumreiten heißt manchmal einfach nur, dass man noch nicht links, rechts, oder gleichzeitig von beiden Seiten vom Pferd gefallen ist.
Ronald M. Schernikau hat Handke mal Deutschlehrerdeutsch attestiert – vor der vollständigen Abwicklung des europäischen Sozialismus und was das zur Folge hat, schließlich ist Schernikau schon 1991 gestorben und kann zu Handke auf Winterreise so nichts sagen. Dem konkret-Magazin sagt Schernikau in einem Interview 1990: „Ich habe zur Welt ein ganz und gar nicht-moralisches Verhältnis. Ich habe nicht das Problem mit dem Imperialismus, daß da Kinder verhungern. Das ist natürlich schrecklich, daß da Kinder verhungern, aber mein Problem ist, daß meine Kunst schlechter war, als sie hätte sein können. Deine Frage ist: Wie verhält man sich zur Welt? Und ich glaube, du unterschätzt das Maß an Zustimmung, das man einem Ding entgegenbringen muß, um sich überhaupt mit ihm zu beschäftigen. Peter Handke und Botho Strauß strahlen eine Zufriedenheit aus, die ist widerlich. Einfach, weil sie gekauft sind. Zu einem sicher angemessenen Preis, aber sie sind gekauft. Sie sind, und jetzt werde ich mal moralisch, gekauft mit dem Blut der Schwarzen. Die dafür schuften, daß es Peter Handke und Botho Strauß so furchtbar schlecht geht, daß sie andauernd schlechte Bücher schreiben müssen. Weil natürlich geht es ihnen in diesen Büchern immer furchtbar schlecht, also textoffiziell. Das ist aber nur eine Kaschierung dafür, daß es ihnen glänzend geht und daß sie das auch ganz genau wissen. Die sind nämlich sehr zufrieden in ihrem Unglück.“ (http://www.schernikau.net/*/biografie/interview/) So moralistisch ist Schernikau da gar nicht und so im Jahr des Interviews verhaftet ist seine Aussage auch nicht. Klar gesagt: irgendwo, wirklich irgendwo werden sich die Köpfe eingeschossen und Armut grassiert, weil das Verbot von beidem wiederum verboten und durch Privatwirtschaft ersetzt wurde – und deshalb kann Handke mit seiner „Winterlichen Reise“ ein ätzendes Reisejournal achso-politisch aufladen. Genau so wenig moralisch konstatiert, ist, dass das österreichischer Neokolonialismus eines Spießeranarchisten ist, der nicht in Widersprüchen denken kann, sondern langatmig mit Widersprüchen jongliert wie ein Clown vorm k.u.k. Publikum.
Klar das. Kritik an Handke üben – wird ja gemacht. Ich frag mich nur, ob er soviel Literaturblasen festhaltende Monomanie verdient, mit dem, was er macht. Kurzer Exkurs: wenn ich mich als Bolschewist darüber mokiere, dass George Orwell und sein „1984“ unverdientermaßen immer noch als Schriftsteller resp. als Roman tituliert werden und Letzteres auch noch Schullektüre ist – irgendwo im Online-Format von Nous steht da was zu – dann versuche ich zu vermeiden, dass das zu einer Jagd eines Apparatschik-Ahab nach dem Weißgardisten-Wal verkommt. Weil der Kleinbürger-Antistalinismus, der das Werk umwölbt, eben nicht allein als Käseglocke da steht. Sondern weils alles mit billigster, nicht mehr als Science Fiction zu wertender Dystopiescheiße vermittelt ist – was dann wieder ein allgemeines Phänomen ist: die ausgewählte Sorte an Widersprüchen zu einem großen zusammenmatschen und dann sagen: „Guck, so ist die Welt, ganz ein grauer Matsch, den kannst du formen, aber da ists halt nur geformter Matsch in Grau.“ Dass viele so reden und so schreiben, dafür mach ich Orwell verantwortlich und auch nicht – wenn sich schlechte Literatur durchsetzt, schafft sie das nie alleine, da muss Dummheit schon mit Steuergeldern verbreitet werden.
Das führt zu zwei meiner brennendsten Fragen gleichermaßen: 1. hab ich lang nicht mehr in deinen Twitteraccount geschaut und komme da auch einfach nicht hinterher. Aber was mir aufgefallen ist, ist deine doch sehr stark am Inhaltlichen orientierte Kritik an Handke – und formal dann höchstens an seinem Fimmel für Suggestivfragen bzw. klingt der Begriff „Naturgedöns“, den du hier angeführt hast, ja schon nach Formkritik. Inhalte schreibt man aber nie allein, irgendwer schreibt immer auch nochmal das Gleiche. Orwell hat seinen Huxley, Bret Easton Ellis hat sich je selber usw. usf. Dann könnte ich ja zum Nächsten springen, der sowas wie Handke schreibt, oder? Was hält dich am Poesiemacher Handke auf?
2. Hier mehr die politische Ebene: so etabliert Handke, so wenig ist er ja Orwell. Handke wird ja nicht großartig gefolgt mit seinen Ansichten. Er kriegt ja Feuer ab, und er macht ja den Move, sich gegen ein hegemoniales Berichterstattungsbild hierzulande zu stilisieren – ob authentisch oder nicht, mal drauf geschissen. Er stellt sich gegen eine Berichterstattung, die ja bis heute eine klare Haltung für die vertritt, die in der Uckermark Bundeswehrübungsplätze bauen, damit ihre Soldaten am Hindukusch dann auch nicht ganz dämlich aussehen beim Durchsetzen imperialer Interessen mit Waffengewalt. Von Hashim Thaci und was er mittlerweile allbekannt auf dem Konto hat, wird gerade reichlich geschwiegen. Seit Jahren wird das Bild von Syrien gezeichnet, dass den Joschka Fischers aller Reichstagsparteien für ihr Angriffskriegsgegeier nützlich ist. Mit zwei von den drei Beispielen verlassen wir (Ex-)Jugoslawien. Und das ist klar: jeder Krieg, jeder Konflikt ist anders und braucht, dass man sich einen Überblick verschafft. Aber: die NATO ist immer gleich. Weil ich es bisher wenig bis gar nicht bei dir rausgehört habe in deinen nichtbelletristischen Sachen, und ich bisher durch deine Anti-Handke-Haltung ex-negativo nur irgendwas vermuten kann, aber nicht vermuten will: wie stehst du denn zur Intervention der NATO in Verbund mit dem ersten Angriffskrieg jenes deutschen Imperialismus, in dem wir beide grade leben, seit der Niederlage des von ihm angezettelten letzten Weltkriegs?
LG,
Ken
Seiffen, 30.07.2020