Literaturkritik: “Öl auf Wasser” oder Kein Paradies in Sicht

Der dritte Roman des nigerianischen Schriftstellers überzeugt durch die atmosphärisch dichte Darstellung der zerstörerischen Auswirkungen des spätkapitalistischen Gesellschaftssystems auf das Mensch-Natur-Verhältnis am Beispiel seines Heimatlandes.

Öl. Zwei einfache Buchstaben. Hinter ihnen verbirgt sich ein Rohstoff, der die moderne Menschheitsgeschichte prägte wie kaum ein zweiter. Zehntausende von Jahren schlummerte diese ungeheure Kraft gar nicht weit unter unseren Füßen in der Erdkruste. An der Oberfläche lernten die Menschen Feuer zu machen und Felder zu bestellen, Schiffe zu navigieren und immer komplexere Werkzeuge zu bauen. Einst in Stämmen Vereinte teilten sich in Sklaven und Herren, der Kampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutenden trieb den Lauf der Geschichte voran. Und an einem bestimmten Punkt dieser geschichtlichen Entwicklung, als die Ausgebeuteten zu „freien“ Arbeitern wurden, die hemmungslose Jagd nach Vermehrung von Kapital die verkrusteten Strukturen der Feudalwirtschaft abzulösen begann und die herrschende Klasse wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mehr verteufelte, sondern für sich zu nutzen wusste – an diesem Punkt schlug die große Stunde jener bisher zum Verharren gezwungenen Kraft. Mit der systematischen Förderung von Öl begann der Siegeszug eines Wirtschaftssystems, das in beispielloser Geschwindigkeit die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft voranpeitschte. Mithilfe einer flüssigen Masse abgestorbener Kleinstlebewesen wurden Tausende Tonnen Stahl bewegt – in riesigen Fabriken, im Wasser und in der Luft; bei glühender Hitze und beißender Kälte. Ohne Öl keine Industrialisierung. Ohne Öl keine Elektrifizierung. Ohne Öl keine Motorisierung. Aber ohne Öl auch kein Deepwater Horizon, keine Golfkriege und keinen Klimawandel. So sinnbildlich dieses im Grunde unscheinbare Stoffgemisch für den Aufstieg des Kapitalismus steht, so sinnbildlich steht es auch für seinen Niedergang. Wie hässlich dieser konkret aussieht, zeigt Helon Habila in seinem 2012 im Wunderhorn Verlag auf Deutsch erschienenen und dieses Jahr vom Unionsverlag neu aufgelegten Roman „Öl auf Wasser“.

Wer kämpft eigentlich gegen wen?

Die Handlung des vielfach ausgezeichneten Romans spielt in Port Harcourt, einer Hafenstadt im Süden Nigerias. Der junge Journalist Rufus nimmt den Auftrag an, die entführte Frau eines Ingenieurs einer britischen Öl-Firma zu suchen, der sich vor den Lösegeldverhandlungen davon überzeugen möchte, dass sie noch am Leben ist. Zusammen mit dem einst berühmten, inzwischen aber dem Alkohol und Zynismus verfallenen Reporter Zac fährt Rufus mit aufmerksamen Augen durch die Region, in der er aufgewachsen ist. Auf seiner Suche wird er nicht nur Zeuge des zunehmenden Verfalls von Natur- und Sozialstrukturen, er trifft auch auf verschiedene Protagonisten der vor sich gehenden Klassenkonflikte: ob Vertreter der einfachen Bevölkerung, Dorfoberhäupter, Sektenpriester, „Rebellen“führer oder einen sadistischen Militäroffizier. Die Gespräche mit ihnen, ihre Darstellung vor dem Hintergrund und in Zusammenhang mit den allgegenwärtigen Gewaltprozessen ist es, was den Kern der Geschichte ausmacht. Das Spannungselement des Handlungsstranges um die entführte Britin hält sich arg in Grenzen und stellt eher eine Nebensache dar. Was bleibt, ist nicht die Erinnerung an einen kurzfristigen Nervenkitzel, sondern die Frage, wie es so weit kommen konnte – und vor allem, wie es noch zu retten sein könnte.

Denn in Habilas drittem Roman ist die Zerstörung allgegenwärtig. Dörfer werden zerstört. Die Natur wird zerstört. Familien werden zerstört. Der Mensch zerstört den Menschen. Die wenigen Momente, die den Anschein von Ruhe, von Ausgleich erwecken könnten, entpuppen sich lediglich als Atempausen. Oder Fata Morganas. Menschen sind nett zueinander, helfen sich, sorgen sich, lieben sich. Aber ihre Hilfe, Sorge und Liebe wird zertreten wie der junge Keimling einer Pflanze, der kaum die schützende Hülle des Kerns verlassen hat. Die Umstände, die kalte materielle Welt, bieten scheinbar keinen Entfaltungsraum für derart Gefühle, derart Beziehungen zwischen Menschen. Es ist die Zeit des Kampfes, doch wer kämpft eigentlich gegen wen? Und warum? Der Sieger jedenfalls scheint von vornherein festzustehen. Grell-orange, manchmal fast bläuliche Stichflammen markieren seine Herrschaft. Durch Tausende, kilometerlange Rohre bahnt er sich seinen Weg durch alle Ecken des Landes, vergiftet die Böden, die Gewässer, die Gehirne. Das Öl ist kein lachender Dritter, der sich am Leid der Menschen labt, es ist nicht mehr als bewusstlose Materie, dessen immanente Möglichkeit der Umwandlung in Energie der Mensch zu nutzen, nicht aber zu kontrollieren gelernt hat. Und so beherrscht den Menschen, was Mittel seiner Herrschaft sein sollte.

Es ist ein düsteres Bild, das Habila von seinem Heimatland Nigeria, einer ehemaligen britischen Kolonie und ölreichstes Land Afrikas, in einfachen Farben und nüchterner, dennoch bisweilen poetischer Sprache zeichnet. Es ist kein vollständiges Bild, aber auch keines, das Anspruch auf Abgeschlossenheit erhebt. Unzählige Fäden, die gesponnen werden, erreichen den Rahmen des Bildes, ohne ein Ziel erreicht zu haben. Die Linien fortzuführen, bis am Ende ein stabiles Netz entsteht, das Halt und Orientierung geben könnte, bleibt dem Leser allein überlassen. Einfach macht es Habila ihnen freilich nicht, die angestoßenen Gedankengänge zu solch einem Ende zu führen.

„Ich bin nicht krank. Ich bin einfach nur arm.“

Einzelne Anekdoten stechen aufgrund ihres Charakters als gelungene Widerspiegelungen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse aus dem allgemeinen Handlungsverlauf heraus. So beschreibt ein Dorfvorsteher, wie sie einst „im Paradies“ lebten, alle eng miteinander verbunden, behaglich vom Rest der Welt getrennt, bis das Öl kam und mit ihm die Autos, Fernseher und was es sonst noch so gab im „Rest der Welt“. Ein auf Privateigentum und dem Primat seiner Vermehrung gegründetes gesellschaftliches Leben sprengte die alte Gemeinschaft: „Zum allerersten Mal war die einige und eng verbundene Gemeinschaft gespalten…“ Allerdings: Anders als bei der Auflösung der auf Stammesverbänden basierenden Urgesellschaft vor Tausenden von Jahren vollzieht sich hier kein allmählicher, wechselhafter Prozess des Übergangs einer Gesellschaftsordnung zur nächsten, sondern die Vertreter der fortgeschrittenen Ordnung fallen vielmehr als Eroberer über die alten Strukturen und die in diesen lebenden Menschen her. Eine Wahl haben die Eroberten nicht. Zwar klammern sich einige von ihnen fanatisch an das Alte, in dem sie sich in den Wald zurückziehen, den Fluss anbeten und der heilenden Kraft des Wassers vertrauen. Liest man die Geschichte eines Arztes, der berichtet, dass nach Beginn der Ölförderung in einem Dorf nach und nach alle erkrankten und das Dorf schließlich vollständig verschwand, scheint dies sogar nachvollziehbar. Aber vollständig wird das Bild erst durch die Aussage eines Dorfältesten gegenüber dem Arzt, bevor die Förderung des wertvollen Rohstoffes begann: „Ich bin nicht krank. Ich bin einfach nur arm.“

Steht das Wasser symbolisch für eine einfache, eng mit der Natur verbundene Lebensweise, dann steht es auch für immerwährenden Kampf ums Überleben, Schutzlosigkeit gegenüber Krankheit und Naturgewalten. Und stand das Öl ursprünglich für Aufbau, Bewegung und Fortschritt, so steht es in der jetzigen Phase des Kapitalismus für Zerstörung, Lähmung und Tod. Habila gelingt es, die scheinbare Ausweglosigkeit dieser Situation, in der das eine überlebte System auf ein anderes, inzwischen ebenfalls überlebtes System trifft, anhand konkreter, authentischer Bilder greifbar zu machen. Es wird deutlich, dass es weder ein Zurück zur Natur noch ein Vorwärts zum Raubbau des Spätkapitalimus geben kann. Es muss einen anderen Weg geben:

„Wir suchen nach einem Ort, an dem wir in Frieden leben können. Der aber ist schwer zu finden.“

 

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Trotz vieler starken Episoden und der Richtigkeit der aufgeworfenen Fragen, bleibt es eine Schwäche des Romans, das auf die hinter den Umbrüchen und Zerstörungen wirkende Kräfte nur wenig eingegangen wird. Der britische Kolonialismus, der nach der Unabhängigkeit 1960 nur seine Form, nicht aber seinen Inhalt änderte, spielt gar keine Rolle. Die Geschichte Nigerias wird nur sporadisch erzählt und dann lediglich als eine Entwicklung, in der sich Militärdiktaturen und Demokratien, die eigentlich keine sind, regelmäßig abwechseln. Mag das im Ergebnis auch stimmen, fehlen jedoch die Gründe, warum dies so ist. Die großen ausländischen Ölkonzerne werden zwar erwähnt, aber ihre fundamentale Bedeutung als jene Kräfte, die sich den Reichtum des Landes ohne Rücksicht auf Mensch und Natur aneignen, die Masse der Bevölkerung ausbeuten und einige Wenige bestechen, bleibt weitestgehend im Dunkeln.

Es gibt einen glänzenden Roman des DDR-Schriftstellers Manfred Kühne, in dem dieser anhand mehrerer formell abgeschlossener Kurzgeschichten darstellt, wie die Verfasstheit der jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen das Verhältnis des Menschen zu einem bestimmten Rohstoff, hier Kautschuk, prägten. In seinem Zusammenhang ist es eine Geschichte von Kontinuität und Abbrüchen, von Macht und Ohnmacht – eine wirkliche, weil widersprüchliche Geschichte des Menschen zur Natur. Habilas Roman funktioniert zwar auch in seiner selbständigen Form, würde seine Wirkung aber weit besser in einem ebensolchen Zusammenhang entfalten. Als kleiner Teil einer viel größeren Geschichte, einer Geschichte des Öls, des Kapitalismus, des Menschen.        

          Text von Daniel Polzin, 30 Sep’19
Illustration von Ursula Bier

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