Literaturkritik: “Etwas außerhalb der Legalität” oder Literatur aus der Arbeitswelt: Sich das Elend vom Leib schreiben

Der Schriftsteller Max von der Grün begegnete mir unverhofft in dem verstaubten Bücherregal eines Ferienhauses auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, da. Sein Sammelband mit Erzählungen stand inmitten von kitschiger Urlaubsliteratur, die darauf ausgelegt ist, die Tage am Strand eben ungestört dahindümpeln zu lassen. Es ist verwunderlich, dass sich jemand diesen Autor als Urlaubsbegleitung in den Koffer legte, denn wenn man in den seltenen Genuss absoluter Freizeit kommt, gibt es sicherlich entspannendere Literatur, die einen nicht zurück ans Fließband des Alltags versetzt, an dem man schuftet und schwitzt. Bereits der dunkle schwarz-weiße Abdruck eines Fabrikgebäudes auf dem Umschlag von Etwas außerhalb der Legalität ließ Schwere vermuten, gerade in der Art und Weise, wie er inmitten der mit bunten Blumen übersäten Hochglanzumschläge hervorstach. Soweit der erste Eindruck. Doch wer war überhaupt dieser Unbekannte mit dem Adelsprädikat?

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Der Erzählband erschien 1980 im Luchterhand Verlag.

Tatsächlich stammt Max von der Grün aus einer Bayreuther Adelsfamilie, die zum Zeitpunkt seiner Geburt im Jahre 1926 jedoch bereits tief verarmt ist. Seine Mutter ist Dienstmagd, der Vater Bauernknecht. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er bei seinen Großeltern. Nach deren Tod lebte er bei seiner Mutter und ihrem neuen Mann, einem Schuhmachergesellen, in der Oberpfalz. Da sein Stiefvater aufgrund seiner Mitgliedschaft bei den „Ernsten Bibelforschern“ (ein Vorläufer der Zeugen Jehovas) im Konzentrationslager inhaftiert war, durfte der in Sippenhaft genommene Max nicht auf die weiterführende Schule und begann eine kaufmännische Lehre. 1943 wurde er als Fallschirmjäger eingezogen, geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft und arbeitete zwei Jahre auf Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen sowie als Baumfäller und Bergmann in Kupfermiene. Es wirkt fast schon zynisch, wenn er die Kriegs-gefangenenjahre als „seine Universität“ bezeichnet, weil er dort mit deutscher Exilliteratur und Autoren wie Jack London, Ernest Hemingway und John Steinbeck in Berührung kam und an die klassische Musik durch Übertragungen aus der Metropolitan Opera herangeführt wurde. Zurück in Trümmerdeutschland konnte er seiner neu entdeckten Leidenschaft zunächst nicht mehr nachgehen. Er machte eine Maurerlehre, fand in Bayern keine Arbeit und zog 1951 ins Ruhrgebiet, wo er die nächsten 13 Jahre seines Lebens unter Tage die Kohle aus dem Berg schlug oder sie nach einer schweren Verletzung mit der Lok durch den Streb transportierte. In dieser Zeit wurde er Opfer zweier Unfälle oder viel eher Opfer der gefährlichen Arbeit, für deren Lohn er gezwungen war, sich zu verdingen. Aus diesen am eigenen Leib erlebten Vorfällen entstammt der Stoff seines ersten Romanes „Männer in zweifacher Nacht“, das seinem späteren Erfolg den Weg ebnete. Und auch eine seiner Erzählungen in dem 1980 veröffentlichten Sammelband Etwas außerhalb der Legalität handelt von eingeschlossenen Bergarbeitern, die erst nach 336 Stunden fast verdurstet und halb wahnsinnig gerettet werden. Darin schildert er die beklemmende Enge, der sich die Bergarbeiter ausgesetzt sahen, zusammengepfercht in der Dunkelheit zwischen Steinen, die irgendwo poltern und Wasser, das irgendwo tropft, während sich der eigene Wasservorrat dem Ende zuneigt: „Das Gefühl für Zeit war verlorengegangen, sie wussten nicht, ob zehn oder zwanzig oder vierzig Stunden vergangen waren, ein Tag oder zwei Tage oder drei – oder vielleicht auch erst eine Stunde. Das hier war eine Welt geworden, die niemand, der sie nicht selbst erlebt hatte, verstehen und begreifen konnte; denn in dieser Welt gab es keine Zeit, weil es keine Uhr gab und keine Sonne.“ Dieses Zitat lässt sich sinngemäß auf den Großteil seines literarischen Schaffens – im gröbsten ausgenommen sei hier die Kinderliteratur wie Die Vorstadtkrokodile – transportieren. Er schrieb von einer Welt, die das gebildete Publikum in ihren gemütlichen Lesesesseln nicht kennen konnten, weil niemand sie freiwillig kennenlernt. Er schrieb aus der Perspektive eines Arbeiters, die den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend im Reich der Kunst chronisch unterrepräsentiert ist.

Kristallisationspunkt Arbeit

In einem essayistischen Kommentar kommt er auf das in der Geschichte reflektierte und ihm wirklich widerfahrene Grubenunglück zu sprechen und erläutert: „Als sie uns herausgeholt hatten, bekamen wir einen Tag Urlaub, selbstverständlich die acht Stunden überzogene Zeit als Überstunden bezahlt, mit 50 Prozent Aufschlag. Ich habe mir von dem Geld ein Fahrrad gekauft, mein Nachbar hat das Geld in einer Nacht versoffen.“ Die Brutalität der Klassengewalt wird durch die vergleichsweise lächerliche Kompensation deutlich. Wer im Käfig seiner Klasse gefangen ist, kommt durch ein Unglück nicht heraus – egal, wie hoch der Bonus ist, den es ihm einbringt.

Solche Schilderungen von Personen, die sich derartigem Druck ausgesetzt sehen, sind für sich schon lesenswert, weil sie Mitgefühl erzeugen und dafür sensibilisieren, zu erkennen, wer am kürzeren Ende des durch die Eigentumsverhältnisse geteilten Tisches unserer Gesellschaft sitzt. Doch es bleibt nicht beim bloßen Schildern des zähen Arbeitsalltags. Die Fliehkräfte, die unter Tage auf ihn wirken, werden ins Verhältnis gesetzt. Innerhalb seiner authentischen Erzählungen schafft es Max von der Grün die Welt auf eben jenes Ungleichgewicht zu durchleuchten. Er setzt dabei an einem Punkt an, den wir alle kennen und der nur einem schwindend geringen Prozentsatz der Weltbevölkerung erspart bleibt: die Lohnarbeit. An diesem Kristallisationspunkt treten die Kräfteverhältnisse und entgegengesetzte Interessen am deutlichsten zutage. Am eigenen Leib hat er diese Abhängigkeit gespürt. Das Verfassen von Literatur war seine Antwort. Und da seine Literatur aus der Perspektive Arbeitnehmer eben im Gegensatz zum Arbeitgeber steht, folgt eine entsprechende Zensur. In der Erzählung, die dem Band seinen Titel gibt, schildert er den dadurch entstehenden Konflikt. Der Direktor des Zechenbetriebes, der durch einen schreibenden Arbeiter verunglimpft wurde, bestellt den Nestbeschmutzer in sein Büro. Dabei handelt es sich um Max von der Grün in der Gestalt des Edwin Kurr. Der Jedermann bleibt vor der eindrucksvollen Fassade des Verwaltungsgebäudes stehen wie vor einem fremden Palast. „Dreizehn Jahre war er in demselben Betrieb beschäftigt, aber niemals war etwas so Wichtiges vorgefallen, dass er zur Direktion gerufen werden musste.“ Der Portier nimmt ihn hastig in Empfang und schickt ihn grob in den oberen Stock. Von der Sekretärin wird er jedoch erst zurückgehalten. Er bekommt Cognac angeboten. „Moderne Bilder“ hängen hinter dem „riesigen Schreibtisch“. Die Fremdheit des „besseren“ Lebens wird deutlich. Im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass der Direktor seinen schreibenden Mitarbeiter zensieren will; erst mit als kollegial getarnten Ratschlägen, dann mit knallharter Repression. Warum er dies tut, wird direkt angesprochen: „Sie sind sich doch hoffentlich darüber im Klaren, dass ihr zweiter Roman, wenn er erscheint, eine große Gefahr für unsere Wirtschaft sein wird – für die gesamte Wirtschaft, wenn ich das bemerken darf.“

Dieser zweite Roman war Irrlicht und Feuer und brachte von der Grün eine reale Kündigung ein. In dem sich auf das reale Leben des Künstlers beziehende Essay schildert er, was er in der Erzählung literarisch verdichtet: „Er [der Publizist, dem ein Freund von der Grüns sein Manuskript gegeben hatte] brachte das Buch ein Jahr später, und wieder ein Jahr später den zweiten Roman, und ich war plötzlich darüber erschreckt, wie die Umwelt, wie die Arbeitgeber und die Gewerkschaften und die professionellen Schreiber darauf reagierten, und war noch mehr erschreckt darüber, dass mein Bleiben auf der Zeche nicht mehr möglich war. Man fand täglich neue Schikanen, um mir die Arbeit zu vergällen.“ Dann fügt er hinzu: „Schließlich legte man mir nahe, den Betrieb zu verlassen, und ich sagte mir: Scheiß auf den Betrieb, es gibt ja mehr Betriebe. Aber da hatte ich mich, naiv, wie ich war, verkalkuliert. Mich wollte plötzlich keiner mehr haben, überall, wo ich anfragte, hatten sie keine Arbeit für mich, wenn sie meinen Namen hörten. Mir dämmerte, dass hier ein lautloser Apparat in Bewegung gesetzt worden war, der zuverlässig arbeitete.“ Die Tiefe dieses Apparates entlarvt er durch die Literatur durch das Gespräch zwischen dem Bergarbeiter Edwin Kurr und dem „Herrn“ Direktor Gabler. Beispielsweise in dem Satz: „Ich dachte immer, wir leben in einer freiheitlichen Demokratie, aber anscheinend endet die bei uns vor den Fabriktoren und vor den gepolsterten Türen der Großkonzerne.“

Warum schreiben Sie eigentlich?“

Von Journalisten wurde von der Grün häufig gefragt, warum er überhaupt schreibe. Diese Frage empfand er schon lange als störend, weshalb er bei einer Lesung in Koblenz mit der Gegenfrage „Warum kacken Sie eigentlich?“, antwortete – „Prompt erwiderte er: weil ich es nicht halten kann.“

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Undatiertes Porträt des Autors Max von der Grün ©Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün

Für ihn ist das Schreiben eine schlichte Notwendigkeit, die sich aus den Erlebnissen ergibt, die er Tag für Tag an seinem Leibe spüren muss. „Bei mir hat es angefangen im Betrieb. Da sagte einer zu mir: Das sollte man mal aufschreiben und veröffentlichen, was für Schweinereien passieren, Tag und Nacht passieren. Einen Tag zuvor hatten wir einen Toten unter Tage, von einer Kohlenwand, die nicht abgesichert war, erschlagen. Ich hatte ihm damals geantwortet: Quatsch, wer interessiert sich schon dafür. Die Leute interessiert nur, ob sie Kohlen haben oder nicht, und nicht, unter welchen Bedingungen und Opfern sie gefördert werden, schon gar nicht, wie wir leben. Mein Kumpel erwiderte damals: Solange Außenstehende von uns nichts wissen, so lange können sie sich auch nicht für uns interessieren.“ An diesem Knotenpunkt der Klassenunterschiede laufen die Fäden seines Gesamtwerks, für das die Erzählungen in Etwas außerhalb der Legalität repräsentativ sind, zusammen. Die Geschichten von Schweissern, Bauarbeitern, Maschinenschlossern, Kranführern, Betriebsräten, Vorarbeitern und gleichermaßen verarmten wie gebrochenen Invaliden verbinden sich zu einem Netz aus Abhängigkeiten und hintergründigen Unterdrückungsmechanismen, die durch literarisierte aber realistische Schilderungen offengelegt werden. Sie reflektieren den Abglanz der Dinge, von denen er in seinem Alltag hört, die er mitbekommt, die ihn ganz persönlich betreffen.

Wie wichtig ihm diese Repräsentation der Ausgeschlossenen war, zeigt neben seinem Werk auch das Engagement in der Dortmunder Gruppe 61, die er mit dem Dortmunder Bibliotheksdirektor Fritz Hüser und dem Gewerkschafter Walter Köpping gründete. Sie setzte es sich zum Ziel, schriftstellerisch tätige Arbeiter und Arbeiterinnen zu unterstützen und sich mit der industriellen Arbeitswelt und ihren sozialen Problemen auseinanderzusetzen, um den Stimmen der Arbeiterschaft im Literaturbetrieb Gehör zu verschaffen. Liest man ihre Texte, wirken sie wie Protokolle einer Therapiesitzung. Sie vermitteln in den geschilderten Leiden den Eindruck, als würden sie sich das Elend vom Leib schreiben, der täglich aufs Neue geschändet und zerschlissen wird. Wir brauchen eine solche Literatur, die den bitteren Stoff verarbeitet, in den wir uns täglich hüllen müssen, anstatt uns einen Umhang umzuhängen, der zwar nach außen wie purpurner Samt aussieht, aber an dessen Innenseite uns spitze Dornen ins Fleisch stechen. Weg mit den Illusionen, die uns die mit idealisierten Wünschen und künstlich geschaffenen Bedürfnissen zugekleisterte Kulturindustrie andrehen will. Weg mit der falschen Scham, die uns überall hindert. Die Erlebnisse sind kostbarer, weil sie Bezugspunkte bilden, die uns mit jeder Zeile zurufen, dass wir nicht allein sind.

Edwin Kurr versuchte, seinen Standpunkt dem Herrn Direktor Gabler so zu vermitteln: „Meine Erlebniswelt ist nun mal eine andere als Ihre oder die der deutschen Industrie.“ Diese Erlebniswelt zu beschreiben und zu teilen ist der erste Schritt, um zu begreifen, dass sich die Verhältnisse durch das Instrument der Literatur verflüssigen und neu formen lassen. Die Kraft dazu aufzubringen lohnt sich, denn man gewinnt einen Möglichkeitsraum, in dem man freier ist, als man in einer kapitalistisch organisierten Welt je sein wird.

von Lukas Schepers, 26. Juli 2019

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