Anastasias Tyrannei

Der Sommer war früh dran in Deutschland. Überall trieb es die Menschenscharen raus in die Parks. Sie breiteten sich auf den Wiesen aus, entzündeten ihre kleinen Grillfeuer und genossen das Leben in vollen Zügen. Besonders Anastasia freute sich über die wärmenden Strahlen auf ihren winterblassen und zierlichen Armen. Sie war die zarteste Person der ganzen Schule. Ihre Bewegungen waren für ihr junges Alter besonders graziös. Mit ihren hellblonden Haaren, die ihr in langen, fein gekämmten Strähnen den Rücken hinunterfielen, und dem mit Glitzersteinen besetzten Oberteil wirkte sie wie eine kleine Prinzessin. Es fehlte nur das Diadem, um ihrem kleinen rundlichen Gesicht mit der hohen Stirn wahrlich aristokratischen Anstrich zu geben.

In den Unterrichtsstunden hielt sie stets ihre Unterlagen in Ordnung. Alles blieb feinsäuberlich sortiert. Nichts wurde, wie bei anderen Kindern üblich, mit Tintenflecken oder kecken Sprüchen beschmiert. Stets war sie die erste, die mit gefalteten Händen und aufgeklappten Heften Platz nahm. Aufmerksam lauschte sie jeder Unterrichtseinheit und notierte alles, was sie hörte, ungefiltert ins Heft. Man könnte sicherlich von Anastasia behaupten, dass sie ihre Aufgaben und Pflichten mit Bedacht und größter Sorgfalt erledigte. Ja, sie war eine vorbildliche Schülerin. Beliebt war sie auch. Das galt ebenfalls für die Zeit der Nachmittagsbetreuung. Während ein Großteil der Kinder nach dem Unterricht heim zu dem fürsorglichen Elternteil ging, blieb Anastasia mit einer Handvoll Schülern aus allen Jahrgängen in einem kleinen Hort, der sich im kühlenden Keller des Schulgebäudes befand. Hier waren die Grenzen der Klassen aufgelöst. Alle spielten miteinander und hatten – abgesehen von dem verpflichtenden Mittagessen, für das die Eltern schließlich monatlich Geld zahlten – alle Freiheit, um das zu tun, wonach ihnen der Sinn stand. Sie konnten mit den Betreuern lernen, Hausaufgaben erledigen, mit ihnen oder auf eigene Faust spielen und die Schönheit der Welt erkunden. Ihnen standen alle Mittel und Möglichkeiten gleich offen.

Es galt für Anastasia nicht mehr die Förmlichkeit der Schulbank. Hier dominierte nicht die Disziplin zur Bildung, sondern es war Luft für Spiel und Spaß. Sie konnte hier sein, wie sie sein wollte und nicht so, wie der Anstand und der von ihr erwartete intellektuelle Fortschritt es verlangten. Im Spiel ließ sie ihren Interessen freien Lauf. Und häufig ergriff sie die Initiative. Zum Beispiel als sie wie so häufig während der warmen vorsommerlichen Tage, in einem schattigen Platz des Schulgeländes unter den alten Buchen, eine kleine Schminkstation aufbaute. Zweifellos hatte sie dafür viel geübt, denn nachdem sie sich selbst mit weißen und roten Prachtfarben im rundlichen Spiegel geschminkt hatte, um noch mehr wie eine noble Prinzessin auszusehen, standen bereits die ersten Kinder Schlange, die buntesten Wünsche auf den Lippen und es kaum erwarten könnend, diese in langen Erklärungen kundzutun. Manche hatten sogar bereits Skizzen angefertigt. Der kleine Leopold, ein Schulanfänger, war als Erstes an der Reihe. Aus dem kleinen Fundus der im Hort vergessenen Überbleibsel hatte er sich ein rosafarbenes Tutu geschnappt und rannte, nachdem er einen Stock in einen funkelnden Zauberstab umfunktioniert hatte, wie eine holde Fee über den Schulhof. Nun wollte er die passende Gesichtsbemalung von Anastasia gezaubert bekommen. Sie blickte seine Erscheinung an, verdrehte die Augen und unterbrach schon die ersten nervös geäußerten Ideen mit einem abrupten Räuspern. „Du kannst keine Fee sein“, sagte sie bestimmt mit erhobener Nase, während sie heftig ihren Kopf schüttelte.

„Vielleicht eher ein Seeräuber, das passt besser. Mein großer Bruder wollte auch immer Seeräuber sein. Der ist schon in der Vierten. Das Tutu solltest du auch ablegen. Ich hol dir schnell die Augenklappe, ja?“ Und bevor Leopold antworten konnte, war sie schon in den Keller gerannt und kam sogar noch mit einem roten Kopftuch zurück. Leopold war begeistert, und nachdem sie ihm eine Narbe unter das andere Auge und einen seiner Zähne schwarz gemalt hatte, ließ sie ihn weiterspielen. Der Stock war nun ein Florett, mit dem er die anderen bedrohte, um an ihre Schätze zu kommen.

Keinen der anderen Wünsche ließ sie so passieren, wie er ihr vorgebracht wurde. Bei manchen überlegte sie lange nach einer Verbesserung. Sie grub in den Tiefen ihres Gedächtnisses nach der passenden Ergänzung oder Abänderung. Denn sie verstand sich nicht als schnöde Dienstleisterin. Immerhin war es ihre Schminkschule. Sie hatte sie begründet, den Schminkkasten aus dem Kellerloch hervorgetragen. Dort solle alles laufen, wie sie es wolle. Daran gab es für sie keine Zweifel. Dabei ließ sie es wohl zu, dass auch andere Kinder in die Lehre gingen. Nein, sie schminkten nicht nach ihren eigenen Vorstellungen – sie wurden angelernt und genossen es. Stets überwachte Anastasia jeden Pinselstrich, kritisierte jeden nicht ihren Vorstellungen entsprechenden Fehler und nötigte sogar manche dazu, aufwendige Korrekturen vorzunehmen.

Als schließlich alle Kunden mit imaginären Talern gezahlt und mit buntbemalten Gesichtern glücklich und zufrieden zum Spielen zurückkehrten, packte Anastasia die Schminkschule ebenso sorgfältig wieder ein wie sie ihre eigenen Schreibwaren behandelte und brachte sie zurück in den Keller. Während die übrigen Kinder noch einige Minuten an der frischen Luft blieben, tobten und sich amüsierten, machte sich Anastasia schon das nächste Projekt zu eigen. Mit Tüchern, Stofffetzen, Kissen, Decken, Tischen und Stühlen baute sie eine prächtige und geräumige Höhle in dem stillen Raum. Sie staffierte jede Ecke gemütlich aus, kümmerte sich gewissenhaft um die gedimmte Beleuchtung, brachte Spielsachen hinein und verkroch sich abschließend selbst darin. Aufrecht saß sie dort, vor sich das aufgeschlagene Kinderbuch, sich bereits die ersten Zeilen einprägend, damit sie später alle mit ihrer flüssigen Art zu lesen begeistern kann.

Tatsächlich kamen die restlichen Kinder nach einigen Minuten vom Spiel herein und staunten nicht schlecht über diesen gemütlich aussehenden Unterschlupf, in dem sie gerne ihre erhitzten Körper abkühlen wollten. Zoe, Elias, Finn, Mia und Noah zupften freundlich an den mit Stoff verhangenen Eingang und bekamen die Erlaubnis einzutreten. Doch schon kurz darauf hörte man ein Kreischen aus der Höhle, das so schrill und brutal in die Gehörgänge aller Anwesenden eindrang, dass man es nicht aus dem Munde dieser zarten Person, die Anastasia schließlich war, vermutet hätte. Hysterisch schrie sie Noah an: „Noah! Du hast deine Schuhe noch an?! Du kennst die Regeln in diesem Haus! Ausziehen! Hopp, hopp!“ Und als der schläfrige Noah, der es sich schon auf einem Kissen bequem gemacht hatte, sich im ersten Moment weigerte, sprang die kleine Anastasia schnurstracks auf und rannte wutentbrannt zu einer Betreuerin, die diesen Frevel beenden sollte, was auch geschah. Regel war schließlich Regel. Das wusste Anastasia. Und darauf beharrte sie.

Nachdem die Ordnung wieder hergestellt war, beendete Anastasia ihre Lesung ordnungsgemäß. Zoe, Elias, Finn, Mia und Noah waren begeistert von der Geschichte und fühlten sich in der Höhle mittlerweile sehr wohl. Doch Anastasia erachtete ihre Aufgabe als abgeschlossen und fing bereits an, sich zu langweilen. Unter schwörendem Handzeichen mussten die anderen nun versprechen, die Höhle wieder abzubauen und alles an seinen rechtmäßigen Platz zurückzuräumen. Immerhin haben sie alle Zeit in der Höhle verbracht und Anastasia hatte den Aufbau ja alleine bewerkstelligt.

Lennox, Valentin, Emma und Amelie hatten sich mittlerweile ein kleines Backwarengeschäft aufgebaut, in dem sie alle zusammen fleißig Plätzchen und frisches Brot backen und an die anderen spielenden Kinder verteilen wollten. Als Anastasia das sah, ging ihre Fantasie bereits in Flammen auf. Sie eilte zu den Vieren und orderte ein frisches Vollkornbrot und drei Kekse ohne Zucker, weil der ja schlecht für den Körper sei. Nachdem sie die Kekse zuerst verspeist hatte und den Geruch des frischen Brotes tief in ihre kleine Nase eingesogen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie ein viel besseres Rezept kenne. Begeistert von der Idee, noch leckerere Backwaren zu haben, ließen sie Anastasia in die Stube eintreten. Mit leichten Handgriffen schmiss sie die nötigen Zutaten in die Waagschale, rührte kräftig und bestimmt um und präsentierte mit breitem Grinsen ihr exquisites Ergebnis. Lennox, Valentin, Emma und Amelie waren hin und weg. „Aber ihr dürft niemandem das Rezept verraten“, stellte Anastasia klar. Die anderen fühlten sich geehrt. Unter dem Schwur, sich noch viel bessere Rezepte auszudenken, übernahm Anastasia jetzt die Führung der Bäckerei. Die Geschäfte sollten besser laufen als je zu vor. Mehr Kuchen, größere Kekse sollten gebacken werden. Anastasia träumte von einem wahren Familienbetrieb, der in die Geschichte eingehen sollte. Lennox wurde zum Ehemann und Bäckermeister auserkoren. Emma zur tüchtigen Tochter, die bereits eigenhändig den Verkauf schmiss und ab und zu Valentin, der nun den Familienhund spielte, Gassi führte. Amüsiert von diesem Bild wollte Amelie, die vorher noch mit ihren Hausaufgaben beschäftigt war, auch gerne Hund sein. Aber: „Nein!“, kreischte es wieder durchdringend aus dem Mund der Mutter und Inhaberin der Bäckerei. „Nein! Emma darf nur einen Hund haben. Wie soll sie denn sonst noch die ganzen Brötchen backen mit so viel Verantwortung?“ Die kleine Amelie mit ihren strähnigen schwarzen Haaren stammelte noch kurz einige Widerworte vor sich hin, bevor sie sich erinnerte, wie die Mutter doch auf Widerworte reagierte. Den Eklat vermeidend, wandte sie sich ab und krabbelte zu den anderen in die Höhle. Und so setzten sie das Spiel ohne Amelie fort. Anastasia dirigierte die Produktion, steigerte sie auf Hochtouren, managte den Job und das Leben mit dem Ehemann und machte nebenher noch Kniebeugen und Sit-ups, um für ihn schön und in Form zu bleiben. Dabei rekrutierte sie immer mehr Helfer und Helferinnen, lockte sie mit dem Versprechen, ihre eigenen Familien besser ernähren zu können und es gelang ihr. Alle packten kräftig an und bald schon hätten sie die ganze Schule versorgen können. Eine glänzende Erfolgsgeschichte. Wie aus dem Bilderbuch. Und als Anastasias Tochter Emma sich dann reif genug fühlte, ihre eigene Bäckerei aufzumachen und Amelie gerade wieder aus der Höhle holen wollte, um sie zu fragen, ob sie ab sofort ihre Tochter sein mag, griff Anastasia ein. „Du musst weiterbacken! Außerdem will ich keine Oma sein. Schau doch, wie jung ich noch bin.“ Und alle kehrten auf ihre Posten zurück.

So spielten sie noch fast eine halbe Stunde weiter, denn Anastasia ging vollends in ihrer Rolle auf, wechselte von fröhlichem Singsang zu trommelfeuerartigen Befehlen und wieder zurück. Sie lobte, kommandierte, herrschte mit Zuckerbrot und Peitsche. Von Zeit zu Zeit drückte sie ein Auge zu, sah über Fehler hinweg oder ließ Dinge geschehen, die eigentlich nicht ihrer Vorstellung entsprachen, um ihre Mitarbeiter nicht zu verprellen. Sie war glücklich. Die anderen zufrieden. Sie waren schließlich alle stolz darauf, gemeinsam etwas geschaffen zu haben. Ein Imperium, das in die Bäckereigeschichte eingehen sollte.

Doch plötzlich stand Anastasias Mutter im Eingang. Breitbeinig, die Stöckelschuhe aus dem gerade geschnittenen, pechschwarzen Hosenanzug herausstechend, stand sie dort. Die Ohrringe blitzten an den kleinen Ohrläppchen, während sie ihre rubinroten Lippen schürzte. „Anastasia! Kommst du schnell, wir müssen weiter. Ich habe noch einen Termin. Schuhe an und los. Hopp, hopp!“ Zwar aus ihrer leuchtenden Welt gerissen, aber ohne jegliche Widerworte, rannte Anastasia in die Ecke des Raumes, nahm ihren Ranzen aus dem Regal und eilte ihrer Mutter entgegen. Flüchtig sagte sie ihren Mitarbeitern „Auf Wiedersehen“. Und ehe diese ihr noch hinterherrufen konnten, wer denn jetzt Chefin sein sollte, war Anastasia schon aus der Tür.

 

Text: Lukas Schepers, 20.03.’19, Illustration: Nadja Bamberger 1993

 

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