Die Tage vergehen wie Kreidestriche an einer Gefängnismauer. Die Gedanken schaukeln mit schlaffen Füßen über Abgründe hinweg. Am Tag brennt die Sonne. In der Nacht die Eingeweide. Ein Mann, dünn, in einer abgetragenen Hose und einem schlichten, staubbedeckten Hemd hält einen kleinen Jungen in seinen Armen, während dieser schläft. Die Stirn des Mannes liegt in Falten. Vielen in dem gedrängten Lager geht es wie ihm. Sie haben tiefe Augengruben, schwere Tränensäcke und eingefallene Gesichter. Frauen, Kinder und Männer. Sie beachten sie nicht. Aber dort oben im schwarzen Nichts über ihren Köpfen ziehen Geier weite Kreise, langsam, geduldig, enger und enger werdend.
Der Name des Mannes ist Ahmed. Der Junge in seinen Armen ist sein Sohn. Er heißt Ismael, sechs Jahre alt, bald wird er sieben. Sie sind die Hauptfiguren der Briefe aus Istanbul, einem Briefroman in zwei Teilen, von Mesut Bayraktar.
Wie der Titel vermuten lässt, beginnt die Handlung in Istanbul, der Weltstadt an der Kontinentalschneise, wo die zärtliche Melancholie des Morgenlandes mit der strebsamen Herrlichkeit des Abendlandes zusammentrifft und sich im Westwind verliert. Ahmed ist aus Syrien, Damaskus geflohen. Mit einer Gruppe von Schicksalsgenossen steckt er nun vor den Toren Europas fest und wartet auf eine Gelegenheit sie zu durchqueren. Zwei Wege gibt es. Der eine führt zu Fuß über das Land, der andere auf einem Schlauchboot über das Meer. Sein Ziel ist Frankreich, Paris. Zehn Jahre vor Beginn der Handlung studierte er dort als junger Mann Jura. Fasziniert von der europäischen Kultur und schwanger von ihren Idealen, die er besonders in seinem damaligen Lehrer verkörpert sieht, wendet Ahmed sich in seiner Not an ihn. Die Lage in Syrien drängte nach einer Entscheidung. Um seines Sohnes Willen, ohne den er, wie Ahmed mehrfach in seinen Briefen hervorhebt, Syrien nicht verlassen hätte. Vor seiner Abreise schreibt er dem Professor einen kurzen, eiligen Brief, in dem er ihm erstmals sein Hilfegesuch stellt.
Er geht der Handlung voran.
Ohne eine Antwort abzuwarten, verlassen Ahmed und Ismael das Land.
Aus Istanbul schreibt er dem Professor weitere Briefe, in denen er neben den Gründen für seine Flucht und Episoden aus seinem vergangenen und gegenwärtigen Leben, seine Gedanken, Wünsche, Ängste und Hoffnungen ausbreitet. Erst noch etwas verhalten, öffnet Ahmed sich zunehmend und nach und nach lernen wir ihn kennen. Auf der Oberfläche der Handlung zeichnet sich ein unscheinbares Bild ab. Er begegnet uns zurückhaltend, abwägend, dem Gedanken näher als dem Gefühl. Er sucht Ärger aus dem Weg zu gehen, hält sich im Hintergrund und ist stets in Sorge um Ismael. Es ist hauptsächlich seinem Spieltrieb und seiner kindlichen Aufgeschlossenheit zu verdanken, dass wir Ahmed auch mit anderen Menschen aus dem Lager verwickelt sehen. So führt die neue Bekanntschaft Ismaels, ihr Name ist Amira, ein sehr süßes und anständiges Mädchen, das etwas Verträumtes, vielleicht Apathisches in ihren melancholischen Blicken verbirgt, zu einem Abendessen mit ihrer Familie, in der Ahmed mit ihrem Großvater, einem Imam, entgegen seiner sonst schüchternen Art, über die Frage nach Gott und Religion aneinandergerät. Es kommt zu einem stillschweigenden Zerwürfnis zwischen den Beiden, der in einem Verbot für Amira endet, nicht mehr mit Ismael spielen zu dürfen. Es heißt, Religion bringe Menschen zusammen, aber anhand dieser kleinen Geschichte demonstriert uns Mesut plastisch das tragische Gegenteil. Der rein abstrakte Streit um die Frage nach Gott – abstrakt, weil Gott gegenstandslos ist, über keinen Körper verfügt, Bild nicht Sache ist, tatenlos – schlägt sich konkret auf die beiden Kinder nieder. Sie werden voneinander getrennt. Nichts steht zwischen ihnen, außer einem Gespenst namens Gott, das den Menschen ihr eigenes Ich, als ein fremdes verkauft und sie in ihrer Selbstbestimmung beschränkt. Der Anruf an einen Gott im Himmel [ist] das Bekenntnis der eigenen Ohnmacht auf der Erde.
Abseits von diesem Ereignis erhalten wir nur sporadisch Gelegenheit Ahmed auf die Finger zu schauen. Das Leben in dem Lager ist von der unseligen Untätigkeit des Wartens durchsetzt. Eine Leere, die die Wartenden einer gefräßigen Langeweile ausliefern. Aber dieses stumme Nein, das sie umhüllt, ist keine gewöhnliche, keine natürliche Langeweile, die aus einer Sättigung der eigenen Bedürfnisse hervorgeht und nach mehr fragt. Sie ist das Ergebnis der Unterdrückung durch Krieg (vor dem Ahmed in Syrien flieht) und Armut (die ihn handlungsarm macht und ihn zwingt den beschwerlichen Weg nach Europa einzuschlagen). Ein Auswuchs der herrschenden Gewalt, die die Mittellosen mittellos macht und ihnen einen Lebenssinn unmöglich. Überall auf der Welt sind die Vertriebenen unserer Gegenwart, entweder auf der Straße, mit allem was sie haben, auf der Flucht vor Mord und Totschlag und Hunger, also auf der Flucht vor fremden Profit, oder sie Warten in einem Lager, in, oder außerhalb von Europa. Warten und Warten und Warten.
Ahmed greift diese Leere auf. Er verleiht ihr einen Herzschlag und nimmt sie zum Anlass seines Schreibens. Langweile kann herausfordernd sein; sie fordert unter Umständen zur Legitimation der eigenen Existenz auf, zu einer Antwort nach dem Dasein. An einer anderen Stelle schreibt er: …diese Leere, die viele mit spekulierenden Gedankensystemen oder Rauschmitteln zu überdecken versuchen, diese schauderhafte, immer rumorende und immerzu klagende Leere, diese erstickende Leere, die sich in Folge der Unerklärlichkeit des Letzten und Ersten in uns schmerzlich entfaltet, ist das Zuhause unserer Würde. In diesem Sinne entpuppt sich der Akt des Schreibens der Briefe Ahmeds an den Professor als der der Versuch die eigene Existenz zu rechtfertigen und sich seiner Würde zu behaupten. …niemand kommt mit Würde zur Welt, aber jeder kann sie mit Würde verlassen. Er will sich der Leere entgegenstemmen, die ihm die Verhältnisse aufzwingen. Er will ihr Wörter geben und trotz der aufgebürdeten Handlungslosigkeit handeln. Somit überschreitet sich die Form und wird Teil der Handlung, Teil der Geschichte. Die Briefe wachsen über ihren Zweck der bloßen Mitteilung hinaus, sie werden Selbstzweck. Sie stiften Ahmed Lebenssinn, wo sonst keiner übrig oder vorgesehen ist. Jeden Satz den er zu Papier bringt, ist Tat, ist Auflehnung gegen das fremdbestimmte, bedrängende Schicksal, dem er unterliegt. Unmittelbar schreibt er seine Briefe aus seiner Situation heraus, wodurch sie selbst Situation werden.
Im Schreiben findet Ahmed einen Schauplatz, einen Austragungsort zwischen der Leere des Daseins, und der Überfülle der Vorstellung. Gleichzeitig ist es ihm ein Mittel gegen die Einsamkeit, die wie ein zweiter Kopf aus der Langweile ragt und ihr zu Grunde liegt. Seit dem Tod seiner Frau, Fadima, die an Tuberkulose verstorben ist, hat er niemanden mehr, der ihn versteht, dem er sich anvertrauen oder mit dem er sich austauschen könnte. Der Professor, in dem er ein Mann des Geistes und Wissens sieht, ist ihm in der Hinsicht ein willkommener Gesprächspartner.
Wenn ich schreibe, bin ich nicht einsam.
Den besten Zugang zu seinem Charakter und zu dem ersten Teil der Geschichte bietet uns daher Gegenstand und Ausdruck Ahmeds Sprache, in der sich ebenso wie in Istanbul, der Kontinentalschneise, zwei Winde jäh treffen, zwei sonst unvereinbare Himmelsrichtungen vereinbaren und sich in einem Rausch der Vernunft zu Papier legen. Nur in der Sprache können sich der Verstand und die Leidenschaft aussöhnen und das stellt uns Ahmed, in dessen Brust zwei Herzen, gegeneinander und synchron schlagen, eigentümlich beeindruckend zur Schau. In den Briefen lernen wir eine andere Seite von ihm kennen, einen Schwärmer und Denker zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen Melancholie und Aussicht. Sein Stil zeugt von bildreicher Klarheit, in der die Poesie ihrem eitlen Selbstzweck entrissen und wieder zu ihren menschlichen Inhalten zurückgeführt wird. Er verfährt dabei wie ein Angler, der seinen Köder weit hinaus in den Ozean schleudert, zusieht, wie er langsam in die undurchsichtigen Tiefen hinabsinkt und ihn im richtigen Moment wieder herauszieht, während er auf einer kleinen und kleiner werdenden Eisscholle steht und schaukelt. Anders ausgedrückt, die Briefe sind eine existenzielle Kreisbewegung, die sich von Ahmed weg, raus in die Welt, wieder zu ihm zurückbewegt.
Angesteckt schreibt er von der französischen und europäischen Literatur, ihrer Kunst- und Ideengeschichte, er ist begeistert von der Aufklärung, gerührt von Rousseaus Bekenntnissen, beinahe ehrfürchtig vor dem Floß der Medusa – einem Gemälde von Théodore Géricault, das er in einem der Briefe eindrucksvoll beschreibt -, verzehrt von Dantes Göttliche Komödie und erschüttert von Rodins Tor zu Hölle. In diesen Referenzen, in diesen erstarrten menschlichen Verhältnissen, hier Kunst, dort Geschichte, stößt Ahmed auf sein eigenes Sein, auf das menschliche Sein. Er eignet sich die Bilder an und nutzt sie um seine Bürde des Schweigens und Wartens zu durchbrechen. Er bedient sich aus dem unermesslichen Wörterbuch der menschlichen Tätigkeit und ihrer Erzeugnisse. Im Ausdruck seiner Würdelosigkeit bewahrt Ahmed sich seine menschliche Würde. Denke ich an die Gegenwart, auch an die schweren Verbrechen, die täglich in meiner Heimat, aber auch in der Welt stattfinden, so fühlt es sich manchmal an, als wäre ich für einen Augenblick mit einem Schritt aus dem Höllentor Rodins ausgetreten. Die Schreie der zerfurchten und in Glieder zerschlagenen Kreaturen, die Hilferufe der Geächteten und der Blutdurst der Dämonen, all diese bizarren Figuren rund um das Höllentor winden sich in meinem Rücken und strecken sich jede nach ihrem Motiv über mein Bein empor nach meinen Wirbeln, um mich zurück in das Schrecken, das sich hinter dem Höllentor verbirgt, zu zerren.
Weil Ahmed davon ausgeht, nur kurz in Istanbul festzustecken und den Professor schon bald zu sehen, verzichtet er darauf, ihm eine Adresse anzugeben auf die jener antworten könnte. Tatsächlich aber bleibt er schlussendlich einen Monat dort, bevor es weitergeht. In diesem Zeitraum schreibt er dem Professor zwölf Briefe, ohne eine Antwort zu erhalten. Sie bilden den ersten Teil des Romans und haben die gleichnamige Überschrift.
Der zweite Teil trägt den Titel, Nachwort einer Europäerin. Er macht ein Drittel der Geschichte aus und funktioniert sowohl stilistisch, als auch inhaltlich als Gegen- und Ergänzungsstück für die Briefe aus Istanbul. Uns erwartet eine Erzählerin, die ihre Briefe rückblickend verfasst, gelassen und unbedrängt. Anders als Ahmed, ist ihr das Schreiben bloßer Zweck und nicht Zweck und Selbstzweck. Ihre Briefe knüpfen an die Ereignisse des ersten Teils an. Sie haben eine deutlich schnellere Erzählzeit und sind hauptsächlich handlungsbasiert. Eine Nacherzählung, die wiedergibt was passiert ist. Und das ist mehr, als diese knapp 40 unscheinbaren Seiten auf den ersten Blick vermuten lassen. Nach dem langen Aufenthalt in Istanbul, schickt Mesut uns in kürzester Zeit über mehrere Städte, Landesgrenzen und Ozeane hinweg.
Betrachtet man die Briefe aus Istanbul als Ganzes, so liest er sich wie ein umgekehrter Fallschirmsprung, bei dem man die Reißleine gleich nach dem Absprung zieht, dann langsam, aber angespannt herab gleitet und bei der Mitte angekommen, nach und nach die Seile durchschneidet. Vor allem das Ende des ersten und spätestens der zweite Teil nehmen die Fallgeschwindigkeit eines freien Flugs an, der zuweilen Spannung wie in einem Krimi erzeugt, ohne dabei an Essenz zu verlieren.
Dies ist Mesuts zweite Buchveröffentlichung, allerdings sein Debüt auf dem Gebiet der Prosa. Bei seinem ersten Buch handelt es sich um ein Theaterstück, ein Drama. Es heißt Die Belagerten und spielt ebenfalls in der Türkei, wo sich fünf junge Menschen in einem dunklen Keller verschanzen und versuchen Widerstand zu leisten gegen die Staatsgewalt und das Militär, gegen die Belagerung in ihrem Endzustand. Formal lassen sich diese beiden Werke schlecht vergleichen. Die Belagerten werden gespielt, bzw. gesprochen, die Briefe aus Istanbul gelesen. Nichtsdestotrotz erheischt sich ein gemeinsames, schaut man beiden Büchern auf das Gerippe. Hier, wie dort ist der Krieg der Auslöser für die Handlung. Beide Geschichten sind nicht ohne zu denken. Der Unterschied allerdings liegt in der Reaktion auf den Krieg. Die Belagerten stellen sich und versuchen sich zu wehren, Ahmed hingegen flieht, nach Europa, wo er sich sicher wähnt, aber zwischen der Gefahr und der Sicherheit liegt nun einmal die Flucht. Das Ergebnis ist dasselbe. Sowohl Ahmed, als auch die Belagerten befinden sich an einem Extrempunkt ihrer Existenz, befinden sich auf Messers Schneide, wo der Tod nah ist und das zugeknüpfte, undurchsichtige Leben sich wie eine Baumkrone im Herbst entkleidet und das lebensnotwendige entblößt. Aus dieser Blöße, aus diesem konkreten Einzelfall heraus, schlägt Mesut die Brücke hin zum Allgemeingültigen, zum Universellen, zu den Verhältnissen, die sowohl Ahmed, als auch die Belagerten mit uns, den Lesern hier in Europa verbinden. Aus dieser existenziellen Spannung, aus diesem schamlosen Stand heraus schreibt er. Die Ausnahme lebt, im Gewöhnlichen kann jeder sich direkt eine Kugel durch den Kopf jagen, ohne dass er den Schuss merken würde.
Es ist nicht schwer mit der Leidensgeschichte eines Flüchtlings, oder gleich einer ganzen Familie Tragik zu erzeugen, denn ihre Geschichten sind tragisch. Darin sind auch Die Briefe aus Istanbul keine Ausnahme. Aber Mesut bleibt nicht bei der Tragik stehen. Ab der ersten Seite erwartet uns die Ausnahme, die uns die Regel sichtbar macht, der Einzelne, in dem sich die Vielen brechen. Statt uns unserer Mitleid zu entlocken, für ein paar auf dem Papier abgedruckte Kopien der Wirklichkeit, herausgewürfelte Beispiele, die wir nach unserem mitreißenden Leseerlebnis wieder vergessen haben, fordert Mesut uns heraus Stellung zu nehmen, als Teil der Weltsituation, als die Ahmed auch uns entlarvt, in dem er sich selbst als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse preisgibt. Der zweite Teil, Nachwort einer Europäerin ist eine mögliche Stellungnahme auf die Briefe aus Istanbul, die man gleichsam als Briefe an einen Europäer lesen könnte, aber ob es eine hinreichende ist, das lässt auch der Roman offen.
Entscheiden ist keine leichte Angelegenheit, weil eine Entscheidung mehr ausschließt, als für sich behauptet. Ich glaube, zu entscheiden, ist das Schwierigste für die Menschen, eben weil sie Freiheit bedeutet, eben weil sie Verantwortung fordert.
Text von Kamil Tybel, 26. August’18
Illustration von Jenny Lehmann
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