Regenbogenhaut

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Ein feiner Haarkranz umrahmt geschwungene Lider. Darin eingebettet glänzen zwei weiße Murmeln, ein wenig feucht von unreifen Tränen, und darauf, wie mit dem Zirkel gezogen, braune Umrandungen, gefüllt mit dunklen und hellbraun versponnenen Linien, und einem oder zwei grünen Tupfern. Im Zentrum ruht jeweils ein tiefschwarzer Ball, der sich je nach Einfall des Lichts reflexartig ausdehnt oder zusammenzieht. Das ist Iris. Iris lebt im Augenblick. Und obwohl diese Momente sehr kurz sind, hat sie doch schon viel gesehen, denn auf Dauer häufen sich auch die kurzen Momente an.
Iris ist sprachlos, Manu ist ratlos. Das Spiegelbild vor Iris zeigt Manu. Manu sitzt auf der Bettkante, vor ihm steht der verzogene Kleiderschrank, der die Hälfte des Zimmers ausmacht. Iris beschaut Manu. Seine widerspenstigen Haare und die Brille rahmen sein kantiges Gesicht, glatt und im Halbdunkel glänzend. Iris schaut durch Milchglas, darauf nimmt Manu seine Brille ab, putzt sie und setzt sie wieder auf. Obwohl nur ein dumpfer Atem geht, ist das Zimmer nicht leer: vorbeifahrende Autos lassen Lichtspiele an der Decke tanzen, hunderte Regentropfen trommeln wie ungeduldige Finger gegen die Scheibe, das knackende Licht des Fernsehers blinzelt unter dem Türspalt hindurch. Manu stülpt sich eine Hose und eine Jacke über, schleicht sich ungesehen aus seiner Zimmertüre, aus der Wohnungstüre, die Treppe hinunter, die nächste Treppe hinunter und die nächste. Manu hört, wie Etagen über ihm die Türe erneut aufgerissen und mit einem lauten Knallen wieder geschlossen wird.
In Iris spiegelt sich eine Pfütze, darin zittert ein Schatten. Die Spiegelung zeigt die Glut einer Zigarette vor dem verhangenen Abendhimmel, hell leuchtend, und eine schwarze Silhouette tanzend. Daneben wachsen Äste in den Himmel und dazwischen eine Baustelle, ein angefangener und dann liegen gelassener Entwurf, eine Ruine. Das Konstrukt erinnert an den aufgeschnittenen Leib einer gigantischen Kreatur: metallene Stangen recken sich wie ein freigelegtes Gerippe, zerborstene Holzlatten und gebrochene Leitern wie zerrissene Sehnen, offene Rohre mit verklumpten Flüssigkeiten wie geöffnete und geronnene Adern. Darum wickelt sich stark zerfetzte Plastikverpackung von Baumaterialien, von Böen aufgewirbelt, die in dieser zerfressenen Straße wehen.
Von der Frankfurter Allee bis zum Domplatz, vom Stadtpark bis zur Fußgängerzone. Es ist 10 nach und ein Bus fährt an der Haltestelle vorüber. Die Türe eines Cafés geht. Die Gäste sitzen Rücken an Rücken auf gepolsterten Stühlen vor abgewischten Tischen und nippen an Gläsern und Tassen. Hinten ein Raucherraum, vorne ein Nichtraucherraum. Manu blättert in der Karte, aber Iris findet nichts. Am Tisch neben Iris sitzt eine Frau, deren Gesichtskonturen unter dem weißen Licht eines Laptops flimmern. Ein außerordentlich großer Mund atmet ungleichmäßig und dunkle, überschminkte Ränder unter ihren Augen versuchen sie wach aussehen zu lassen. Ihre trockenen Finger greifen immer wieder in die Tasten, ihre Augen rennen über die Zeilen verschiedener Dokumente – sie sieht kaum die Kellnerin, da ihre Augen so an dem Flimmern kleben. Die Dame bestellt einsilbig einen grünen Smoothie zum Abendessen, während ihr weiter die Knochen aus dem Gesicht wachsen. Am Tresen hat ein Bierbauch Platz genommen, der bereits alle Falten seines Hemds gestopft hat. Er entleert seine Hosentaschen und neben einem großen Schlüsselbund und einem gelbgewordenen Stofftaschentuch, liegen nun, sorgfältig nebeneinander, schmierige Geldscheine vor ihm ausgebreitet. Die klebrigen Haare sind sorgfältig über den zerknitterten Schädel gezogen. Er bestellt ein großes Hefeweizen nach dem anderen und redet unaufhörlich in das Treiben des Barkeepers hinein. Der Barkeeper nickt hin und wieder. Seine Hände quellen im Spülwasser auf. Müde Gläser baden unter dem Wasserstrahl. Ein qualmender Kopf taucht neben ihm auf und schreit ihn an, aber der Tellerwäscher scheint es gar nicht zu hören. Seine Hände waschen unaufhörlich, aber seine Züge sind unbeweglich in schwarzen Schatten auf seine eingefallenen Wangen gestempelt. Die Dame am Tisch neben Iris scheint mehr als zehn Finger zu tragen, denn nun tippt sie nicht nur unaufhörlich, sondern wischt zudem mit ihren ledrigen Zeigefingern über den Touchscreen ihres Handys, spricht ins Mikro und blättert in bedruckten DIN A4 Seiten. Der Barhocker ist eben umgekippt. Anstelle des Mannes liegen dort nur noch Scherben und in der Luft steht eine Fahne.
Der Bus kommt auch um 10 vor, zeigt die Bustafel. Von der Fußgängerzone zum Stadtpark. Vom Domplatz zur Frankfurter Allee. Und überall laufen sie hinter einem nassen Schleier, manche unter Regenschirmen, manche unter Kapuzen. Sie laufen und arbeiten und leben zwischen gezimmerten Wohnküchen und IKEA-Sofas. Morgens schreit der Wecker und abends die Kinder. Und wenn der Fernseher ausgeht, schreit auch die Stille. Der Bus fährt um 10, 30 und 50. In dem Bus sitzen und stehen sie, sie sehen sich nicht, sie hören sich nicht, es sei denn, der Bus bremst unerwartet. Vielleicht entschuldigen sie sich dann oder lächeln verschämt und erschrocken. Sie sehen sich auch, wenn sich die Oma setzen möchte oder wenn eine Orange aus der Tasche kullert oder der Kinderwagen die Stufe rauf muss. Vielleicht sehen sie sich auch, wenn einer keine Fahrkarte hat und das sehen sie mit Bedauern. Iris sieht im Vierer vor sich, wie ein Kind Seifenblasen gegen die Scheibe pustet. Die Blasen zerplatzen nach dem wirren Flug an der beschlagenen Fensterscheibe. Aber das Kind pustet unbeirrt weiter und weiter. Dann springt es auf, stellt sich auf den Sitz, verschließt die Seifenblasen und malt mit der freien Hand Symbole an die dunstige Scheibe. Nun reibt das Kind die Fensterscheibe mit dem Unterarm frei und drückt seine Nase daran platt. Auf einmal tippt es wie wild mit dem kleinen Finger gegen das Fenster, dreht sich anschließend zu seiner Mutter um und zeichnet ihr einen Kreis in die Luft. Die Mutter sitzt ihm gegenüber, schaut kurz auf, bewegt dann ihren Kopf hastig von links nach rechts und deutet mehrmals auf den Sitzplatz. Daraufhin faltet sich das Kind wieder in seinem Sitz zusammen.
Auf dem Weg nach Hause kullern Iris weitere Murmeln entgegen. Hier zwei braune und da wieder zwei braune. Und hier ist sogar eines blau und eines grün. Und da sind sie wie ausgewaschen und hier wie poliert. Und zuhause? Da warten zwei enge Hautschlitze, rote Äderchen mit winzigen schwarzen Löchern. Sie keifen Iris an. Schon wieder zu spät, schon wieder siehst du aus wie Arsch. Heute sind Manus geschwungene Lippen zu einem blassen, aber runden Lächeln geformt. Er blinzelt nicht, stattdessen weiten sich seine Pupillen und seine Augenlider reißen horizontal, sodass Iris lose in den Augenhöhlen hängt. Iris hängt in der Luft. Iris ist sprachlos, Manu ist es nicht. Sein Brustkorb tritt aus seiner Brust, sein Herz hämmert dagegen. Er öffnet seine Lippen zu einem Laut, dass ihm der Kiefer aus dem Mund fällt.

Aus der 8. Ausgaben von Claudia Kuhn 24’April 2018 / Foto von Kamil Tybel

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