P. wachte nassgeschwitzt auf. Sein innerlich brennender Körper schnellte senkrecht hoch. Er strich sich über die feuchte, kalte Haut. Wieder einer dieser Träume, in dem er seine große Liebe davonfliegen sah, die wie ein herbstliches Blatt tausendfach vom Wind umhergeschleudert wurde und unerreichbar in der Ferne hing wie ein dunstiger Schleier. Nach einigen Sekunden saß er immer noch kerzengerade, sein strähniges dunkles Haar klebte ihm an der Schläfe, leichte Tropfen perlten an den hauchdünnen Spitzen herunter und tropften neben seine Hände, die sich auf dem sauberen weißen Laken aufstützen. Seine helle Brust hob und senkte sich im silbrigen Mondschein. Knochen zeichneten sich unter der gespannten Haut ab. Er versuchte mühselig, seine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Wahrscheinlich hatte er wieder gesprochen oder gar geschrien. P. hoffte, niemanden geweckt zu haben. Es dauerte eine Weile, bis sich seine verkrampften Finger entspannten, auch die wie von Batteriesäure erfüllten Beinmuskeln wurden erst langsam wieder lockerer. Als er seinen Kopf drehen und seine Arme wieder bewegen konnte, griff er sofort zu seinem Mobiltelefon, das neben seinem Kopfkissen auf dem Nachtschrank unter der Lampe lag. Er schaute hastig, ob es Neuigkeiten gab, irgendetwas, um das er sich kümmern musste – doch bis auf einige belanglose Nachrichten von einem alten Freund und seiner Großtante sowie ein paar Neuigkeiten aus Übersee, die keinerlei Einfluss auf ihn hatten, war nichts Bedeutendes für ihn zu sehen. Er zog seine Füße unter der mit Daunen befüllten Bettdecke hervor, schob sie in seine am Kopfende des Bettes platzierten Hausschuhe und ging mit langsamen Schritten in sein Badezimmer, wusch sich den mittlerweile schon klebenden und beinahe krustigen Schweiß ab, blickte einige Sekunden eindringlich in sein Spiegelbild, versuchte sich mit einigen beschwichtigenden Worten zu beruhigen und leerte das neben dem Waschbecken stehende Glas mit einer ruckartigen Kopfbewegung. „Es wird schon nichts passieren. Alles ist gut. Du brauchst dich vor nichts zu fürchten. Alles ist sicher.“ Langsam wirkte es. Sein Puls sank, er hörte auf zu zittern. Nachdem P. sich abgetrocknet und frische Kleidung angezogen hatte, lehnte er sich weit aus dem offenen Fenster und rauchte seine erste Zigarette des Tages mit kurzen Zügen. Der Qualm wehte in Schwaden den Sternen entgegen. Doch sein Blick folgte nicht hinauf ins Firmament, sondern senkte sich und wurde anstatt vom glimmernden Mondlicht von dem Bildschirm seines Telefons erleuchtet. So ganz wurde er die Sorgen nie los. Eilig bewegten sich seine Pupillen von links nach rechts. Er besuchte nun eine Webseite nach der anderen, durchkämmte sie nach allen möglichen Anhaltspunkten, die ihm Sicherheit geben würden. Als die Unruhe um sieben Uhr wieder einen kritischen Punkt erreichte, konnte er dadurch Erlösung finden, die ersten vergewissernden Anrufe zu tätigen. Um die Uhrzeit war es zwar immer noch eine Zumutung, die entsprechenden Personen anzurufen, aber das sei den Umständen entsprechend in Ordnung, dachte er, denn immerhin war er noch von seinem Traum aufgewühlt.
Eine Stunde telefonierte und las er abwechselnd. Aber alles blieb beim Alten. Als es langsam hell wurde, glitt der erste Sonnenstrahl über die Wipfel der endlosen Kiefer-Reihen in der Ferne und traf sein Gesicht. Plötzliche wandte er sich endlich von seinem Telefon ab und blickte auf. Erst jetzt nahm er das Vogelgezwitscher wahr, das durch die vorherige Hektik nicht an ihn herangekommen war. Kurz erinnerte P. sich daran, wie diese natürlichen Klänge einst sein Gemüt beruhigt hatten. Dann wanderte der Sonnenstrahl einige Zentimeter weiter nach oben und blendete ihn. Mit einem Knall schloss er das Fenster und machte auf dem Absatz kehrt und ging über die alten Dielen, die leise unter seinen Schritten knarrten, aus der Tür zu seinem sterilen Zimmer hinaus. In dem langen Flur herrschte gähnende Leere. Es würde noch dauern, bis sich das Haus mit seinem gewohnten Leben füllte. All die Menschen. All die Sorgen. Dem wollte er lieber aus dem Weg gehen. Deswegen beschleunigte er seinen Schritt und ließ seine Hand am hölzernen Geländer heruntergleiten, während er zwei Stufen auf einmal nahm und dabei sehr unkoordiniert und unfreiwillig komisch wirkte. Gerade wurde der Essenssaal aufgeschlossen. Das Buffet war noch vollständig. „Herrlich“, dachte er und griff beherzt zu. Mit seinem voll beladenen Teller setzte er sich nun in die hinterste Ecke des Raumes, mit dem Rücken zur Wand. Genüsslich biss er in das mit Schinken und Käse gefüllte Croissant und zückte sein Mobiltelefon, um wieder zu lesen. Weil er nicht aufpasste und sie mit seinem Blick nicht rechtzeitig abwehren konnte, setzte sich M. mit an seinen Tisch. Ihre Hände türmten sich gegeneinander auf und gruben sich ineinander wie zwei schwitzige Ringkämpfer. Nervös blickte sie an sich herunter. Ihr Blick sprang zwischen ihren Händen, seinem Teller und seinen knopfartigen Augen hin- und her.
„Gut geschlafen?“, sprudelte es unsicher aus ihr hervor. P. gab keine Antwort. Er blickte sie kaum an und aß schneller. Eine kleine Schweißperle tropfte ihm bereits in den Nacken und glitt den Rücken hinunter. Sein Herz fing an in ihm zu rasen. Sie war für ihn bedrohlich. In seinen Gehirnwindungen machte sich die Unvereinbarkeit ihrer Bitte mit seinem ureigenen Interesse breit. Er wollte nur, dass sie mitsamt ihrem Anliegen verschwinden und ihn nie wieder damit belästigen würde. Doch M. ließ nicht nach:„Na gut, du willst nicht sprechen. Aber du weißt wahrscheinlich, wieso ich mich zu dir gesetzt habe. Die Kleinen…“ Schnell stopfte sich P. den letzten Bissen in seinen Mund, schob krachend seinen Stuhl gegen die Wand, von der ein wenig Putz abbröckelte, und erhob sich.
„Immer das Gleiche mit dem Pack hier. Steht mir denn ‘Wohlfahrt’ auf der Stirn?“, murmelte er nur vor sich hin und kehrte ihr den Rücken zu.
Die nächsten Stunden vertrieb er sich mit einem Spaziergang auf dem Gelände. Vor einigen Jahren hätte er das noch aus purem Genuss getan, doch mittlerweile boten sich außerhalb des Hauses andere Vorteile. So lief er in der vollkommen menschenleeren Parkanlage von Bank zu Bank, setzte sich jedes Mal hin, um einen Blick auf sein Telefon zu werfen, bis er schließlich durch den Lautsprecher gebeten wurde, wieder zurückzukehren. Kurz ärgerte er sich, aber nach einem Blick auf seinen Akkustand machte er sich auf.
Doch bevor P. hinauf in sein Zimmer konnte, musste er in den Saal mit den hohen Decken. Die anderen saßen bereits auf ihren Stühlen, welche inmitten des Raumes im Kreis aufgestellt waren. Er setzte sich dazu. Ihm war dabei sichtlich unwohl, was man an seinem verzogenen Gesicht erkennen konnte, das vor Anspannung förmlich pulsierte. Seine Zähne schabten derart aufeinander, dass man meinen könnte, er wolle sie pulverisieren. Diagonal zu ihm saß ein Herr, der das Wort ergriff und in ruhiger monotoner Stimme anfing zu sprechen. Doch P. verstand kein Wort. Er wollte nicht zuhören. Und konnte es nicht. Seine Gedanken waren ständig woanders. Er spielte jede Eventualität, jedes Missgeschick, das ihn ins Verderben stürzen könnte, durch. Zu vieles hing nicht von ihm selbst ab. Wenn er doch nur überall die Entscheidungsmacht hätte – ganz für sich allein. Aber nein, sein Glück war abhängig von so vielen Faktoren. Von einer eng verzahnten Seilschaft, einem komplexen System, das alle Beteiligten ins selbe Boot setzte. Aber alle paar Jahre muss jemand über Bord gehen, damit es weiterhin so perfekt auf der Oberfläche aufliegt. Diese Person geht dann unter und muss um ihr Überleben kämpfen wie jeder andere auch. Aber das Meer ist ungemütlich. Er hatte panische Angst vor dem Meer und würde alles dafür tun, um auf dem Boot zu bleiben. Wie weit er dafür gehen würde, das hielt er sich regelmäßig vor Augen, um sich in seiner Skrupellosigkeit zu bestärken, die mittlerweile fast alle Gutmütigkeit verdrängt hatte. „Um alles in der Welt, du wirst auf diesem Boot bleiben“, sagte er sich immer. Mittlerweile wechselte das Wort im Uhrzeigersinn über ungefähr ein Viertel des Stuhlkreises. Sein Bein zuckte unruhig hin und her, wippte auf und ab, sodass in seiner Hosentasche die Münzen klimperten. Er wollte unbedingt auf sein Telefon schauen, um sich zu versichern. Während der Sitzung war es jedoch verboten. Trotzdem konnte er sich nicht dagegen wehren, zückte das Gerät, hielt den Knopf gedrückt und sah nur die rot-blickende Batterie, bevor er schon ermahnt wurde. Seine Hände fingen an zu zittern, ihre Innenflächen wurden langsam feucht. Seine Gedanken rasten. Was, wenn gerade etwas Entscheidendes passiert? Was, wenn er es verpasst und vom Boot geschmissen wird? Er spürte schon, wie sich das kalte Wasser des Meeres um seinen schwächlichen Körper schließt. Die Schweißtropfen fielen in dichterem Takt. Seine Muskeln verkrampften sich. Dann war er plötzlich an der Reihe und sollte erzählen, wie es ihm so ergehe. Er bekam Panik.
„Wie es mir geht, verdammte Scheiße?! Wie es mir geht?! Verdammt scheiße, sage ich euch. Ihr haltet mich hier fest, zwingt mich dazu, in euren dämlichen Kreis zu sitzen, während ich noch alles verliere!“
„Wir zwingen Sie zu gar nichts. Und das wissen Sie eigentlich auch. Denken Sie bitte an Ihre Familie und beruhigen Sie sich. Sie werden nichts verlieren“, sprach der Mann mit der monotonen Stimme, der die Runde eröffnet hatte. Doch P. beruhigte sich nicht. Er sprang auf, trat nach hinten aus wie ein Pferd, sodass der Stuhl donnernd durch den Raum flog.
„Ich beruhige mich ganz bestimmt nicht!“, brüllte er. Als er mit seinem irren Blick M. fixierte, die drei Plätze neben ihm zusammengekauert saß, und gerade auf sie losstürmen wollte, sprangen die zwei an der hinteren Wand gelehnten Männer hinzu und hielten ihn fest. Sie drückten ihm die Arme auf den Rücken und wehrten mit ihren Schienbeinen seine Tritte ab. Er schrie aus ganzer Kehle, dass sie ihn loslassen müssten. Doch ihre Griffe wurden fester, während sie ihn unter Flüchen aus dem Saal schleiften.
Die beiden kräftigen Männer hievten P. die Treppe hinauf, zerrten ihn mit großer Anstrengung in sein Zimmer und fixierten ihn an seinem Bett. „Bitte, bitte, ladet mein Handy“, rief er ihnen noch hinterher, während die beiden schon die Tür hinter sich geschlossen hatten und den Flur hinuntergingen. Der Jüngere war sehr überrascht über die Intensität seiner neuen Arbeit und der Verbissenheit gerade dieses Mannes.
„Ja, der ist ein harter Brocken“, sagte der Dienstältere und klopfte dem anderen auf den Rücken, als er bemerkte, dass er nachdenklich auf den Boden starrte.
„P. ist schon echt speziell. Ein kurioser Fall. Er macht wohl Unmengen an Geld durch irgendwelche Geschäfte. Seine Frau hat ihn hergeschickt, nachdem er sie fast umgebracht hatte, weil er glaubte, sie sei eine Heiratsschwindlerin. Dabei meinte sie, dass er sie früher vergöttert hätte.“
„Ist der denn jeden Tag so drauf?“, bohrte der Junge nach.
„Eigentlich schon. Nur letztens, da habe ich ihn beobachtet, wie er vor dem Fernseher saß und anfing zu kichern. Dabei hat die Tagesschau gerade Bilder davon gezeigt, wie die türkische Armee ihre Bodenoffensive gegen die Kurden in Afrin startet. Komischerweise.“
Text und Illustration von Lukas Schepers, 20.Feb’18