Ein Verlorener

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Sehr geehrter Herr M.,

ich schätze es sehr, dass Sie sich immer noch darum bemühen, Ihre Botschaften handschriftlich an mich zu senden. Diese Ehre weiß ich zu schätzen. Sie baten mich in Ihrem letzten Brief darum, des Vertrauens wegen etwas über mein Heranwachsen zu erzählen. Sozialisation zu erläutern, bevor ich meine neue Stelle bei Ihnen antrete. Aus den folgenden Zeilen können Sie meine vollsten Überzeugungen entnehmen. Ich versichere Ihnen meine absolute Aufrichtig- und Vertrauenswürdigkeit.

Ich wuchs in einer kahlen Wohnung auf und zog in eine noch kahlere. Sie füllte sich langsam mit zwei Dingen: Rechnungen, die ich nicht zahlen konnte und kleinen zerfledderten Reclamheften, die ich im Diakonischen Werk für 10 Cent das Stück erstehen konnte oder bei Gelegenheit aus der Bücherei entwendete, wenn ich es bitter nötig hatte. Denn ohne übertreiben zu wollen: Lesen hielt mich am Leben. Ich dachte immer, dass ich dort zwischen den pechschwarzen Buchstaben die Dinge finden könnte, die mich erfüllten, nach denen ich streben sollte, die mich dazu anregten, jeden Tag ein besserer Mensch zu sein als am vorigen. In immer andere Welten tauchte ich ein und schwamm nach Erkenntnissen, die für mich damals noch wertvoll waren: Tugenden, die es aufrechtzuerhalten und Gerechtigkeit, die es durchzusetzen galt. Alles, was ich wollte, war der Welt einen Gefallen zu tun. Wie naiv ich doch war und wahrscheinlich immer noch wäre, wenn Sie sich nicht erbarmt hätten, mein Herr. Noch immer würde ich festhängen in diesen schmierigen Ketten aus gut gemeinten Ratschlägen, gedanklicher Schönmalerei und Kulturoptimismus. Der blinde Humanismus hätte mich mit Haut und Haaren verschluckt und ich wäre ewig dieser kümmerliche Sozialschmarotzer geblieben, der tagsüber im Park liegt, immer einen cleveren Spruch parat, um seinen Mitmenschen mit geballtem Wissen zur Hand zu gehen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie überhaupt danach fragen. Und wenn ich den Leuten die Dinge mitteilte, über die ich mir Gedanken machte und die ich als unmittelbar notwendig dafür erachtete, die Welt gerechter und die Menschen sozialer zu machen, musste ich immer wieder merken, dass es sie überhaupt nicht interessierte. Sie waren wie leergesaugte Hüllen, die im Nachhinein wieder mit einer warmen Fleischpaste befüllt wurden, um den Anschein der Lebendigkeit zu wahren. Sie waren alle nur darauf bedacht, sich auf kindische Art und Weise zu profilieren – durch nichtige Oberflächlichkeiten und sonstige schwachsinnige Kindereien, die mich damals so frustrierten und über die ich heute nur noch lachen kann. Aber niemand verstand. Niemand kümmerte sich auch nur im Geringsten. Meine Eltern nicht, die Lehrer nicht, der Staat erst recht nicht. Freunde ebenso wenig. Keiner verstand meine Eigenbrötlerei, meinen guten Sinn. Oder vielleicht verstanden sie meine Anliegen sogar, aber ignorierten sie jedoch aus Angst, Faulheit oder schlichter Dummheit. Ich war betroffen, allein, isoliert. Hatte das Gefühl, gegen Windmühlen zu rennen. Ich kam mir damals so sinnlos vor, wie ausgespuckt. Es hätte vielleicht nur einer Person bedurft, die mir wirklich zugehört hätte. Welch eine Kraftverschwendung all das war. Was bringt der gut gemeinte Rat, wenn er auf taube Ohren stößt? Was bringt er, wenn er mit rasender Geschwindigkeit gegen eiskalte Steinmauern knallt, die ihn abprallen lassen wie einen Flummi, der dann langsam und gemächlich in den nächsten Gulli hüpft und auf ewig in der Kanalisation verschwindet? Nichts sage ich Ihnen, gar nichts. Ich kann die steinerne Wand also nicht verändern, deshalb muss ich den Flummi zum eisernen Geschoss werden lassen. Alles andere ist vergebliche Mühe. Den Menschen kann nicht geholfen werden. Sie sind verloren, weil sie nicht erkennen, dass sie frei sind. Ihre Freiheit geht für sie nur so weit, dass sie sich aussuchen können, wann sie für wen arbeiten können. Weiter reicht ihre Vorstellungskraft nicht. Dabei erkennen sie nicht, dass sie sich nur aussuchen können, wann sie sich von wem ausbeuten lassen können. Gottseidank erkannte ich all das früh genug und fand so den Weg zu meinem persönlichen Glück. Beinahe hätte ich mich noch auf sonst wie abenteuerlichen Irrwegen verlaufen. Aber ich will ehrlich sein: Sobald ich mich von den elenden Büchern weggerissen und den ersten Schritt in Ihre Druckereien gesetzt hatte, mein Herr, habe ich die Gefangenschaft gespürt, in der sich diese armen Teufel befinden. Diese furchtbare Ersetzbarkeit. Meine reflexhaften Triebe zogen mich zurück in die Geborgenheit, in den idealistischen Hort. Aber ich besiegte meine Instinkte, weil ich in dieser Gefangenschaft die Freiheit roch. Ich sah plötzlich vor meinen Augen eine grandiose Erfolgsgeschichte, die mich von all den quälenden Gedanken befreien würde. Mir wurde bewusst, dass hinter dieser Druckerei ein Verlagshaus steht und hinter dem Verlagshaus ein Riesenkonzern mit Vision. Mir war bewusst, dass all das vollkommen dem zuwiderlief, für das ich vorher stand. Diese Entscheidung war ein kurzer aber intensiver Kampf. Aber zuvor hatte ich bereits seit Jahren einen zähen Kampf gekämpft – und mit welchem Erfolg? Also legte ich meine alten Ideale wie eine bleierne Rüstung ab und ersetzte sie durch unser summum bonum: Profit. Befreit von dieser Last schmiss ich mich in aller Freiheit in die Arbeitswelt, biss die Zähne zusammen und schuftete und schuftete, tagein und tagaus. Bis sich die erste Chance bot, mich über jemanden zu stellen. Diese Chancen tun sich überall auf, man muss sie nur wahrnehmen. Dann heißt es wieder arbeiten, arbeiten, arbeiten. Ohne jegliche Rücksicht. Jeder Widrigkeit zum Trotz. So lange, bis sich die nächste Chance auftut. Man darf sich für nichts zu schade sein. Im ersten Schritt danke ich Gott dafür, dass er mich hat erkennen lassen, dass der Satan im Sozialen steckt. Im zweiten Schritt danke ich Ihnen für die erste Chance. Wenn ich jetzt an meinem ordentlich sortierten Schreibtisch sitze und an diese kahlen Wände meiner ersten eigenen Sozialwohnung zurückdenke, an denen sich die dünnen gelben Heftchen auftürmten, überkommt mich der Ekel. Aber diese Illusionen sind vorbei. Ich konnte dieses hoffnungslose Unterfangen aufgeben und somit aufhören, meine Kraft mit sozialen Gedankenexperimenten, Kunst und allerlei vermeintlichen Schönheiten zu verschwenden und sie stattdessen in Sinnvolles zu investieren. Ich kann Ihnen nur garantieren, dass meine Eltern Freudensprünge machten, als ich ihnen sagte, dass ich befördert wurde und nicht mehr meine Zeit damit verbringen würde, „die Welt zu retten“, wie sie es immer nannten. Schnell stieg ich dann auf. Fast rasant, würde man meinen. Einen nach dem anderen lies ich hinter mir. Immer tiefere Einblicke gewann ich in die Mechanismen, die Maschinerie, das Bollwerk der Arbeitskraft, das Menschenmaterial. Ich sah den Verschleiß und sah den Profit. Sie wissen ja selbst, was davon mir mehr Freude bereitet hat. Wenn ich eines von Ihnen gelernt habe, dann ist es, dass, wenn man einmal verstanden hat, wie es funktioniert, man sich nicht mit drei Minijobs herumzuquälen braucht. Alles, was es braucht, ist Willenskraft und eine Chance. Vielleicht auch ein Quäntchen Skrupellosigkeit, aber was ist schon dabei?

Mein Herr, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir immer wieder eine Chance gegeben und meinen guten Willen Ihnen gegenüber stets erkannt haben. Bei allem Respekt, Sie haben das Richtige getan. Auch in diesem Fall können Sie auf mich zählen. Das sollten diese vertrauensvollen Worte verdeutlichen. Ich hoffe, dass ich nicht zu ausschweifend gewesen bin. Jedenfalls werde ich Sie in Brüssel nicht enttäuschen und bitte inständig darum, vollstes Vertrauen in meine Verhandlungsfähigkeiten zu haben.

Ich versichere Ihnen hiermit mein absolutes Stillschweigen und freue mich auf Ihre nächsten Anweisungen.

Mit ehrerbietigen Grüßen,

I. D.

 

Von Lukas Schepers, 08.Dez’17 / Illustration von Nadja Bamberger

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