Mein Name ist Paul. Meine Augen sind schwer. Ich bin müde. Gleich werde ich ruhig einschlafen. Ich arbeite in einem Museum. In einer Großstadt im Süden Deutschlands. Der Name der Stadt ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich Jahre lang glücklich war. Heute bin ich unglücklich. Man hat mich wie einen zu langen Fingernagel abgetrennt. Nicht mit einer Schere, sondern mit einem Knipser, den man ganz langsam zusammendrückt. Meine Arbeit ist leicht. Ich will nicht lügen, sie verlangt nicht viel von einem ab. Eigentlich steht man nur vor irgendwelchen Gemälden rum und passt auf, dass sie keiner angrabscht oder Fotos von ihnen schießt. Mehr ist nicht dabei.
Als ich anfing, hatte man mich belehrt. Sie machten eine Wissenschaft aus diesen zwei Regeln. Zwei Erbsen lagen auf dem Tisch, die man täglich über Stunden hinweg zu zählen und untersuchen wusste. So ein teures Ding fasste man nur vorsichtig und am besten mit Samthandschuhen an, hatten sie gesagt. Oder gar nicht. Für direkten Kontakt wären sie nicht gemacht. Und bekanntlich hatten die meisten Menschen ja einiges an Schmutz unter den Nägeln und an den Fingern. Da muss man aufpassen, dass er nicht auf die Kunstwaren überspringt. Ich habe aufgepasst. Einige Jahre ging das auch gut. Ich habe es auf eine gewisse Weise sogar sehr geschätzt. Ich war glücklich in dem Rahmen, in den man mich gesteckt hatte und in dem ich mich nicht zu bewegen brauchte. Ich stand da in dem Anzug, den man mir gab. (Sarah sagte sogar, er stände mir gut.) Unentwegt lächelte und ermahnte ich jene höflich, die gegen die zwei Grundregeln verstießen. Auch wenn sie grob wurden. Ich blieb immer ruhig. Und die restliche Zeit habe ich mit meinem Handy rumgespielt. Ganz unbekümmert saß ich da. Still und angenehm war es in meiner Haut.
Aber dann hat irgendeine unsichtbare Hand ein Skalpell an meinen Hinterkopf angelegt und es mir den Rücken, die Wirbelsäule entlang heruntergezogen. Man hat mir die Haut schleichend vom Körper gezogen und ich habe es nicht gemerkt. Irgendwann zu dieser Zeit ist mir der Stern aufgefallen. Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, dann erkenne ich den Menschen vor mir nicht mehr. Ich versuche durch den Spiegel zu greifen, um ihn zu berühren. Aber es geht nicht. Immer ist da eine kalte Wand, die ihn und mich trennt.
Ich versuche es immer wieder, dabei weiß ich eigentlich, dass ich mir nur selbst ins Gesicht fassen müsste (Seitdem ich zwei bin, weiß ich das.) und die Folter hätte ein Ende. Aber es geht nicht. In mir ist nichts nach dem ich greifen könnte.
Was immer es ist, es liegt außerhalb von mir.
Mein Name ist Paul. Meine Augen sind schwer. Ich bin müde. Gleich werde ich einschlafen. Wäre da nicht dieser Stern, dieser blutrote Kreis mit den drei Streben, den man wie eine Flagge gehisst hatte. Am Hauptbahnhof. Er war mir vorher nie wirklich aufgefallen. Aber jetzt sehe ich ihn. Es ist schrecklich mit gehobenem Kopf durch diesen Bahnhof und diese Stadt zu gehen. Die Menschen waren mir früher ebenfalls nie aufgefallen. Ihre Gesichter. Ihre Kleidung. Die Art wie sie gehen. Die meisten laufen wie auf Krücken. Wenige hingegen aufrecht. Gleich neben dem Bahnhof steht ein Hotel. So ein fünf Sterne Palast. Ich muss zur Arbeit dran vorbei. Vor einigen Wochen noch bin ich mit Kopfhörern in den Ohren versunken an dem Gebäude vorbeigelaufen. Jetzt steigt ein vergoldetes dumpfes Licht schwerfällig aus der Glasfront heraus. Es ruft nach mir. Im Chor. Hohe und tiefe Stimmen. Es sind viele. Mehr als ich zählen kann.
Gestern stand ein dicker Kerl in maßgeschneidertem Anzug und rosa Krawatte vor dem Eingang. Er hat vergnügt auf einem Apfel rumgeschmatzt und telefoniert. Ich habe ihn angestarrt. Das hat er gemerkt. Für ein paar Augenblicke haben sich unsere Blicke getroffen. Aus irgendeinem Grund habe ich auf den Boden gespuckt. Er hatte zurückgeschaut, bis ich sein Blickfeld passiert hatte. Einige Meter weiter kam mir ein Page, mit einer dieser lächerlichen klischeehaften Mützen entgegen. Es reicht nicht, ihn die Koffer tragen zu lassen. Man soll schon von weitem erkennen, dass er zum Personal gehört und nicht zu den Gästen. Er hatte eine schlichte graue Kluft an und eine schwarze Stoffhose. Seine Schuhe hatten weiße Kratzer und schwarze, billig übermalte Risse. Ich habe auch ihm ins Gesicht geschaut. Und auch er hat zurückgeschaut. Aber als sich unsere Augenpaare trafen, da hat er schnurstracks den Kopf zu Boden gesenkt.
Ganz natürlich, als wäre es keine große Sache.
Am liebsten hätte ich ihn getreten. Mir wurde ganz schlecht. Ich konnte den Stern vor mir sehen. Rote Tropfen lösten sich schleimig von ihm. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn auch jetzt sehen. Er ist die Sackgasse, in der all meine Gedanken enden. Zumindest die Gedanken, die noch übrig sind. Der Stern dreht sich. Immer dreht er sich. Ich stelle mir einen obdachlosen Kerl, oder eine dürre, matt lächelnde Frau in Fetzen vor, die man auf dem Dachboden, direkt unter dem Stern in Ketten hält und die Tag und Nacht gleichmäßig an einer übergroßen Kurbel steht, die sie mit beiden Händen mühsam vor sich herschiebt.
Immer im Kreis umher.
Dieser Gedanke nimmt mir allen Mut. Am liebsten würde ich ihn aus mir herauswürgen. Das Atmen ist mir ganz fremd geworden. Ich würde darauf verzichten, wenn man mir die Wahl ließe. Ich traue dem Sauerstoff in der Luft nicht. Er riecht verdächtig. Wie der glasierte Mundgeruch eines fettlippigen Bankangestellten. Manchmal vergesse ich Luft zu holen. Nach einigen Sekunden schnappe ich dann panisch nach jedem Happen, den ich erheischen kann.
Mein Name ist Paul. Meine Augen sind schwer. Ich bin müde. Ich habe Sarah von dem Stern erzählt. Am Telefon. Sie wollte die ganze Zeit über irgendeinen Quatsch reden. Irgendwas von ihrer Schwester, die einen neuen Typen hatte, der sie auf Händen trug. Er hatte ihr einen Urlaub zum Geburtstag geschenkt. Vier Tage an der Südsee. Last Minute. Ein Schnäppchen. Ich glaube, sie wollte Anspielungen machen. Das alles kam mir so lächerlich vor. Ich habe geschwiegen. Sie meinte, wenn ich eh nichts sagen würde, dann könnten wir auch genauso gut auflegen. Sie sagte es ganz nüchtern, ohne Groll oder so. Ich habe ihr dann von dem Stern erzählt, da mir nichts anderes einfiel. Sie hat über mich gelacht. Ich hatte nichts anders erwartet. Sie sagte, es sei nur ein Symbol. Eine Werbung. Nichts weiter. “Der Kreis steht für die Welt, und die drei Striche stehen für die Motorisierung von Luft, Land und Wasser. Ist doch eigentlich ganz pfiffig, nicht?” Sie sagte, der Stern sei außerdem weiß und nicht rot. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Das konnte sie nicht sehen, aber mein Atem muss laut gegangen sein.
“Was ist nur mit dir?”
“Nichts.”
“Jetzt sagt schon.”
„Alles steht still, aber dieser verdammte Stern dreht sich. Die ganze Zeit. Sag mir, für wen? Denn jeden Tag bleibt die Welt hier gleich. Es ist alles ein großes grausames Gähnen, mit einem schadenfrohen Lachen im Hintergrund. Ein Gebrechen. Wo geht diese ganze enorme Kraft nur hin? Ich versteht das nicht. Ich schaue in die Gesichter der Leute hier. Jeden Tag schaue ich ihnen tief in die Augen. Auch bei der Arbeit, wenn sie durch die stillen Hallen spazieren. Auf Stöckelschuhen und in gebügelter Kleidung. Mit Parfüm hinter den Ohren, der noch im Raum hängen bleibt, lange nachdem sie weg sind. Schulklassen, ganze Scharen, die ahnungslos fröhlich lachen und sich necken. Ich starre sie alle an. Es stinkt Sarah. Es stinkt mir bis hier hin. Kannst du das nicht riechen?” Ich war ins Reden geraten. Meine Stimme kam mir ganz fremd vor. Eigentlich wollte ich gar nichts sagen. “Man hat da diesen Plan im Kopf. Eine dumme Vorstellung von den Dingen und der Rolle, die man zu spielen hat. Alle haben so einen Faden, an dem sie sich entlanghangeln. Aber wo kommt er her? Woher kommt die Wolle für all diese Fäden? Wieso muss alles genau so sein, wie es ist? Sag es mir, Sarah! Ich komm nicht dahinter. Immer wenn ich darüber nachdenke, dann ist das dieser Stern. Er dreht sich, das hast du selber gesagt.”
“Gott, Paul, was ist nur mit dir? Vielleicht solltest du mal zum Arzt. Du hast doch kein Fieber?”
“Es ist nichts”, habe ich dann gesagt. “Bist du dir sicher?”
“Nur so ein Gedanke. Es ist nichts weiter.” Sie hakte nicht nach. “Gut. Wir sehen uns dann morgen zum Mittag.“ Ihre Sorge war wie weggewischt.
Dann hat sie aufgelegt.
Mein Name ist Paul. Meine Augen sind schwer. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Mein Kopf ist leer wie der Magen eines ausgehungerten Kindes, das Blei sabbert. (Ich kann meine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Sie kommen und gehen wie sie wollen.) Auf der ganzen Welt hungern angeblich viele Kinder. Ich schreibe angeblich, weil ich selbst nur wenige gesehen habe. Aber so stand es in der Zeitung. Gleich nach dem Sportteil, wo die Bundesligaergebnisse aufgelistet waren. Früher hat mich beides betroffen gemacht. Der Fußball mehr als die Kinder. Mit den Kindern habe ich mich zugegeben auch nie länger beschäftigt. Heute ist mir beides egal. Als würde das eine das andere ausstechen. Alles ist eine weiße ebene Fläche. Und ganz in der Ferne leuchtet die motorisierte Welt der Menschen, neonrot triefend.
Ein in sich geschlossener Organismus.
Ich habe plötzlich dieses beunruhigende Gefühl, dass ich gar nichts, ja rein gar nichts in meinem Leben selbst entschieden habe. Ich beschaue die beiden Hände, die an meinen Handgelenken hängen. Sie fühlen sich ganz taub an. Da ist Dreck unter den fremden Fingernägeln. Ich versuche mir vorzustellen, es seien meine, aber es gelingt nicht. Es heißt, man schreibe seine Geschichte selbst. Man sei seines Schicksals Schmied. Ein Witz. Bevor man mir überhaupt das nötige Werkzeug in die Hand gegeben hatte, hat man schon jahrelang lustig auf mich eingedroschen. (Und man hat nie damit aufgehört!) Mit einem Hammer, auf einem Amboss, unter brennender Hitze, in einer Schmiede nach der niemand fragte. Weder wer sie entworfen hatte, oder warum, noch wem sie gehörte. Der Stift, mit dem ich meine Geschichte schreibe, die Sprache, in der ich sie verfasse, die Tinte, die aus ihm fließt, das Papier, all diese Instrumente bestimmten das Ergebnis vor. Sie sind der Schatten, den mein Körper vor dem Feuer wirft und der immer einen winzigen Augenblick vor mir den nächsten Schlag auf das glühende Metall, das ich selbst bin, ausführt.
Ich ziehe mir meine Kapuze tief ins Gesicht.
Knapp unter die Nase.
Jetzt ist alles schwarz.
Meine Augen sind schwer. Ich bin müde, aber ich werde keine Ruhe finden. Denn ich bin nicht Paul. Ich hänge den Namen dahin zurück, wo ich ihn herhabe, als sei er ein falschen Kostüm. Die Buchstaben verschwimmen in der Dunkelheit, bis sie schließlich verschwinden.
Prosa und Foto von Kamil Tybel 26’November 2017
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