Die Totengräber

Vor ein paar Wochen kam ein Totengräber in unsere Stadt.
Ein dünner bleicher Mann, schwarz gekleidet und mit einer Schaufel über dem Rücken, die ihn selbst an Länge überragte. Seine Anwesenheit sprach sich schon bald in den Vierteln der Stadt herum. Auch ich hörte von ihm, schenkte der Sache aber kaum Beachtung. Der Totengräber arbeitete nicht, wie Totengräber es für gewöhnlich taten. Anstatt die Verstorbenen zu beerdigen, grub er sie aus. Sie wurden sichtbar für alle. Akkurat hob er die mehrschichtige Erde mit seiner rostzerfressenen Schaufel aus. Die Gruben, die dabei entstanden waren unerhört tief. Selbstverständlich machte sich der Totengräber damit schnell unbeliebt, denn die Bewohner waren es nicht gewohnt, dass ein Totengräber wirklich nach Toten grub. Sie schätzten viel mehr den umgekehrten Fall. Dennoch war es erstaunlich, wo die Toten sich verbargen. Sie waren nicht nur unter den Friedhöfen. Überall in der Stadt tauchten Leichen auf. In den Gassen wuchsen Knochenberge. Körperteile hingen plötzlich von Dächern. Finger, Arme, Hände und Beine. An rottriefenden Sehnen. Köpfe mit panisch aufgerissenen Mündern begannen hier und da über die gepflasterten Straßen zu rollen und gelegentlich blies bleiche Asche durch Fenster in die Häuser herein und setzte sich als bitterer Geschmack in den Mündern ahnungsloser Bewohner ab. Mit jedem Tag wurden es mehr und mehr.
Die anfängliche Unruhe, die die Ankunft des Totengräbers auslöste, änderte mit jedem Zusammentreffen von Lebenden und Toten und mit jeder darauf folgenden Geschichte ihre Beschaffenheit. Als würde sich der Aggregatzustand der Menschen ändern. Der Umstand, dass hinter jeder Ecke nun die Konsequenz des Lebens offen lag und lauerte, versetzte sie in eine eigentümliche Stimmung. Das Blut in ihren Adern, das sonst in einem so geradlinigen Puls floss, revoltierte und ihre Herzen schlugen unangenehm laut gegen die schalen Rippen.
Der Totengräber arbeitete unbeirrt und wie es schien mit jedem Tag noch tüchtiger weiter. Bis eines Tages die Bewohner der Stadt die Spannung, die zwischen ihnen und den aus dem Boden steigenden Toten – erdverkrustet und wurmdurchfressen – zu abgründig wurde.
Hör endlich auf die Toten aus ihren Löchern zu holen!Schrien die Bewohner dem Totengräber zu, als sie ihm eines Nachts auflauerten.
Hör auf damit. Es macht uns unglücklich. Der Tod macht uns unglücklich.
Dicht standen sie zusammen. Es waren viele. Ich war einer von ihnen. Wir hielten einen großzügigen Abstand zu dem Totengräber, der uns fremd war mit seiner dreckigen Kleidung, seiner schmalen Brille, dem wissbegierigen Blick und der länglichen Nase. Seine Hände waren ganz durchfurcht und seine Arme waren von blauen Flecken übersät Er lächelte, schwieg und grub weiter.
Aufhören!
Schrien wir nicht ohne Angst. Der Totengräber ignorierte uns.
Verdammt. Warum gräbst du den Tod aus?
Ich grabe nach dem Leben.
Sagte er schließlich den Kopf zu uns drehend.
Wir traten einen Schritt zurück.
Du gräbst nach Toten. Wir wollen deine Toten nicht.
Aber sie sind Wahrheit.
Wir wollen deine Wahrheit nicht.
Der Totengräber griff in das Loch an dem er grub und zog einen Schädel aus dem Boden. Es hingen noch Fetzen einer vergangenen Existenz daran, sowie ein Büschel dunkler Haare. Man konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, welchem Geschlecht dieser Schädel einst anhaftete, aber zweifelsohne war er Teil eines Menschen gewesen. Wir traten einen weiteren Schritt zurück.
Spürt ihr das?
Fragte er uns, den Schädel fest in Händen.
Hiermit hat man eure Stadt gebaut
Hiermit hält man sie am Laufen.
Ihr seid selbst Stadt geworden.
Seht.
Der Totengräber warf uns den Schädel vor die Füße. Einer trat ihn hastig weg, ohne eine Gelegenheit zu bieten, diesen näher zu betrachten. Der Totengräber lachte und grub weiter. Die Bedrohung, die wir als kalten Schweiß auf unseren Lippen schmeckten, die Bedrohung, die von seiner Anwesenheit ausging und die uns in diesen sonderbaren Aggregatzustand versetzte, ließ sich nur auf zweierlei Weisen lösen.
Wir fielen über ihn her. Mit Stöcken und Eisenstangen schlugen wir auf ihn ein. Dann setzten wir ihn in Brand. Die Schmerzen mussten schlimm gewesen sein, denn der Totengräber schrie elendig. Gänsehaut überfiel uns. Verwirrt versuchte er noch nach seiner Schaufel zu greifen, um weiterzugraben, als würde man nach dem eigenen Körperteil suchen, aber die Kraft verließ ihn und mit schmerzverzerrten Augen fiel er schließlich zu Boden. Wir löschten die Flammen, denn kaum war er tot, schämten wir uns. Mit Ärger vermissten wir ihn sogar.
Man entschied, ihm ein hübsches Grab zu errichten. Mich beauftragte man damit es auszuheben. Ich hob es aus. Ein anderer schliff und gravierte den Stein. Wiederum andere schmückten das Grab mit satten Blumen. Die Leichen haben wir alle wieder auf die Friedhöfe gebracht und man ist noch mehr als zuvor bemüht, sie auch dort zu lassen. Wir hörten auch von anderen Städten. Auch in ihnen erschienen Totengräber. In einigen kam es daraufhin zu Aufständen. Und nach den Aufständen seien die Leichen von den Straßen verschwunden, obwohl die Totengräber immer noch dort waren. Das sind natürlich nur Geschichten. Ich vertraue auf die Vernunft der Menschen und denke, auch wenn es ihnen schwer fällt, werden sie den Mut schon aufbringen, um zu tun, was getan werden muss und dem Totengräber ein hübsches Grab bereiten.

Prosa und Foto von Kamil Tybel, 30.Juni’17


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