Nichts weiter als Angst

Ahmids Blick fiel auf Anna. Ein Mädchen aus dem Dorf, das nach seiner Flucht aus Syrien sein neues Zuhause geworden war. Ohne Mutter und Vater, ohne den Bruder und die kleine Schwester. In seiner Versunkenheit vermisste er sie besonders.
Zunächst waren es nur Geräusche aus der Ferne gewesen, bis die Rebellen in das Elternhaus eingedrungen waren und alles zerstörten, das als Erinnerung an ein ganzes Leben gedient hatte. Unter Todesangst waren sie in die Türkei geflohen. Dort verlor sich die Spur der Eltern. Ahmid schlug sich allein nach Deutschland durch und nichts weiter als eine Jeans, eine Gürteltasche und sein Koran waren ihm geblieben. Die Provinz am Bodensee war seine Zuflucht geworden. Es war schön.
Der Mond tauchte Annas aschblondes Haar in ein silbriges Licht. Ahmid hatte sich die Frauen in Europa immer anders vorgestellt. Er kannte sie nur aus der Werbung, mit ebenmäßig brauner Haut, wallendem Haar, manchmal aber auch Gesichtszügen, die ihn an die Hungernden zuhause erinnerten. Anna war anders, ihre Haut wächsern, fast bleich, Lippen, die zu einer Linie geschlossen waren. In ihren dunklen Augen verblieben noch jene Geheimnisse, von denen Ahmid wenigstens eines gerne gewusst hätte.
Seit Tagen war der Himmel tagsüber zugedeckt von schweren Wolken, grau wie Pergament. Es war still über dem Dorf und sie konnten es nicht erwarten, dass der Jahrmarkt öffnete.
Die Sommerferien waren angebrochen und es roch nach Heu. Kurz vor Mitternacht war Ahmid immer ins Freie gegangen. Der Himmel klarte nachts auf. Er war eine Weile so dagestanden und das Land um ihn herum war in eine bedrohliche Stille übergegangen. Später nur noch das Zirpen der Zikaden. Ihre Treffen waren zu ihrem Geheimnis geworden.
Die Luft war noch warm. Anna trug einen Rock und ein Top. Das Licht machte ihre Gesichter weich und doch geheimnisvoll.
Anna setzte sich neben Ahmid auf den Zaun, der das Grundstück eines Bauernhofes eingrenzte. Der Hof war nur ein großer, schwarzer Schatten und dahinter lag die Unterkunft, in der Ahmid lebte. Es war keine Nacht zum Schlafen.
Die anderen wollen morgen in die Schlucht, sagte Anna.
Ahmid sagte nichts. Er schaute nur in die Weite, die in der Dunkelheit abbrach. Anna rutschte näher an ihn heran. Er konnte die Wärme spüren, die von ihr ausging.
Kommst du mit, fragte sie.
Ahmid hatte Anna sofort gemocht, als er sie gesehen hatte. Als er mit ihr zum ersten Mal allein gewesen war, verstand er sich ganz gut mit ihr und redete über dies und das, nur beiläufig über die eigene Vergangenheit.
Anna hatte im Frühjahr die Schule abgeschlossen und arbeitete als Kassiererin im Laden ihrer Eltern im Dorf. Sie erzählte von einem notorischen Ladendieb und dass sie ihn immer davonkommen lies. Ihre Eltern hatten davon gesprochen, wenn sie tot wären, all das ihr gehören würde. Sie hatte bis dahin nicht gewusst, dass sie nichts hatte.
Ahmid hatte lange nicht mehr soviel gelacht wie mit Anna.
Dann hatte er sie geküsst.
Ahmid erzählte, dass die Nächte immer die Schlimmsten waren in Syrien. Am Tag konntest du dort wenigstens sehen, wenn dich jemand erschießen wollte, sagte er.
Am nächsten Tag wehte ein leichter Wind, als Ahmid sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Marienschlucht machte. Er hatte Proviant in einen Rucksack gepackt, Wasser, Käse und etwas Obst. Während er fuhr, dachte er darüber nach, dass er sich etwas vormachte. Dass Anna und ihre Freunde gar nicht zu seinen Freunden zählten. Er sah ihre Gesichter klar und deutlich, so wie er die Schlepper immer ganz genau angesehen hatte, um sich später noch einmal an sie zu erinnern.
Als er ankam, stellte er das Fahrrad an einen Baum. Zum See führte die Marienschlucht, ein Steg aus grauverwittertem Holz einen steilen Hang hinab bis in das enge Felstal.
An einer kleinen Landzunge leckte der Bodensee. Von weitem konnte er bereits Anna sehen, die neben Viktor und Andreas am Steg saß. Der Kiosk am kleinen Badestrand war geschlossen. Sie waren allein.
Anna lächelte, als sie Ahmid entdeckte und sofort zerstreuten sich seine Bedenken. Viktor nickte. Andreas sagte hallo. Ahmid setzte sich neben Anna an den Steg, zog die Schuhe aus und hielt die Füße ins Wasser. Es war angenehm, nicht kalt.
Wo warst du gestern Abend, fragte Viktor. Seine Stimme war fest.
Ahmid sagte, dass er müde war, mehr nicht.
Als der Kiosk noch offen war, war hier mehr los, sagte Andreas. Und als niemand antwortete, dachte Ahmid, dass ihm niemand zuhörte. Er genoss die Stille, es war beruhigend, nicht ständig damit beschäftigt zu sein, nicht zu wissen, was als nächstes passierte.
Morgen ist wieder Jahrmarkt, sagte Anna, während über ihren Köpfen einige Möwen kreischend vorbeizogen, als wären sie von irgendwas aufgeschreckt worden.
Viktor stand auf und lief ein paar Schritte auf dem Steg.
Endlich ist dann mal wieder was los, grinste Andreas.
Das Saufen ist das einzige, was dich daran interessiert, protestierte Anna.
Andreas lachte. Ahmid schwieg. Viktor warf abwechselnd einen Blick auf Ahmid, bei dem es immer so wirkte, als wollte er in der Weite etwas finden, von dem er nicht wusste, was es war, und dann wieder zu Anna.
Warum gehen wir nicht schwimmen? Das Wasser ist ganz warm, sagte Anna. Sie stand auf und zog sich aus. Und als Ahmid sah, dass sie keinen Badeanzug trug, als sei das selbstverständlich, taten es ihr Viktor und Andreas gleich. Sie sprangen ins Wasser und dann sah Ahmid nur noch ihre Köpfe, die auf dem Wasser trieben. Er hatte keine Badehose, und nackt, das war nicht einmal als Vorstellung möglich.
Anna rief nach ihm, aber er reagierte nicht.
Sie kam als Erste aus dem Wasser und er betrachtete sie genau, als sie nackt aus dem See stieg. Kurz verweilte sie vor ihm, als gefiele ihr die Vorstellung, und wäre er ihr Freund gewesen, hätte er sie berührt, nur um zu wissen, wie sie sich anfühlte. Sie schlüpfte in Hose und Hemd und legte sich auf den Rücken neben ihn. Viktor und Andreas kamen etwas später.
Wie ist es so, da, wo du herkommst, fragte Andreas.
Nach einer langen Pause sagte Ahmid, dass niemand wisse, wie es wirklich dort ist. Hier, da ist das Leben ein süßes Schweben, sagte er.
Was ist mit deiner Familie, fragte Anna.
Sie lag dicht neben ihm. Anna streckte ihre rechte Hand nach ihm aus.
Ja, wo ist deine Familie, fragte Viktor laut.
Nicht weit vom Ufer entfernt zog ein Segelboot vorbei. Zwei Leute darauf winkten, nur Anna erwiderte den Gruß.
Ich habe meine Eltern und meine Geschwister in der Türkei verloren. Auf dem Weg dorthin mussten wir uns trennen.
Das muss heftig sein, hörte er Andreas sagen.
Ahmid spürte Annas Atem auf der Haut und als er ihre Augen sah, aus denen ihm eine so tiefe Solidarität beikam, begann in ihm etwas zu bröckeln.
Wie kamst du eigentlich her?
Ahmid dachte an seine Schwester, die noch so jung war und nichts von dem verstand, was vor sich gegangen war.
Wir haben es dreimal über Griechenland versucht, aber es gelang uns nicht. Die Behörden sind dort sehr streng. Dann sind wir in die Türkei.
Wieso seid ihr eigentlich weg, fragte Anna.
Anna hatte Ahmids Hand genommen.
Es ging in den Nachmittag hinein und es bewölkte sich. Aber niemand hörte auf, zuzuhören.
Ich stellte mir vor, wie meine Stimme durch das leere Haus hallte und niemand mehr da wäre, um zu antworten. Dabei kam ich mir lächerlich vor, erzählte Ahmid. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. Sie riefen alle zum Militär, ich war auch schon dabei, aber ich konnte nicht töten. Also mussten wir uns entscheiden. Sie haben unser Haus zerstört, um uns die Grundlage einer Existenz zu nehmen. Baschar al-Assad kontrolliert dort alles, wir wären irgendwann spurlos verschwunden.
Der Weg über das Mittelmeer war deine Rettung, fragte Viktor.
Ahmid drehte sich um und sah ihn an.
Das Mittelmeer ist das Bermuda-Dreieck für Flüchtlinge, sagte Ahmid. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder du schaffst es, oder du schaffst es nicht.
Jetzt sagte niemand mehr etwas. Die Luft frischte auf und sie zogen wieder los. Als sie aus der Schlucht zurückkehrten, bot Anna an, Ahmid nach Hause zu bringen. Viktor und Andreas waren mit dem Auto gekommen und fuhren wieder zurück.
In seinem Zimmer lud er Anna auf einen Tee ein. Das ganze Haus lag im Stillen, draußen hatte es zu regnen begonnen. Ahmid gab sich Mühe, nicht soviel zu schweigen. Er erzählte gern von der Ruhe, die hier herrschte, Nutella und dem sauberen Wasser.
Die Stille ist am schlimmsten, sagte er dann. Ich kann nicht einschlafen. Seit Tagen habe ich kaum geschlafen.
Das ertrage ich nicht.
Anna stand auf und setzte sich neben Ahmid. Sie fragte ihn, ob sie ihm einen Gutenachtkuss geben dürfe und bevor Ahmid antworten konnte, hatte sie sein Gesicht in beide Hände gelegt und ihn geküsst. Kurz darauf zog sie ihre Bluse aus und entblößte ihre großen, weißen Brüste. Ahmid fuhr mit der Hand durch ihr Haar, übers Gesicht. Es wurde ganz still, außer ihrem Atem. Aber das war jetzt kein Problem mehr.
Am nächsten Morgen war Ahmid früh aufgestanden. Es war noch kühl. Nach dem Regen in der Nacht lag die Landschaft vor ihm wie nassgeschwitzt. Er mochte das. Zuhause war zwischen Tag und Nacht kein Unterschied auszumachen. Immer war es gleich warm oder heiß gewesen.
Ahmid lief direkt zum Marktplatz, dort, wo der Jahrmarkt aufgebaut wurde. Am Karussell vorbei und anderen Fahrgeschäften ging er zu einem Zelt, in dem sie Hilfskräfte suchten. Dort heuerte er an, er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Zuhause hatte er nie etwas anderes getan, als mit seinen Händen das aufzubauen, was zuvor zerstört worden war.
Der Himmel an diesem Tag war weit und wolkenlos gewesen. Zum Abend hin wechselte das Helle gegen das Dunkle und die Lichter des Jahrmarktes leuchteten grell.
Ahmid und Anna hatten sich für den Jahrmarkt verabredet, Viktor und Andreas wollten nachkommen. Ahmid arbeitete in einer Schießbude, wo er die Zielscheiben an der Wand befestigte. Anna stand an der Seite und sah ihm dabei zu. Er konnte sie sehen, auch wenn er nicht hinsah. Die Luft war unerträglich heiß, obwohl die Sonne schon weit im Westen stand. Ahmid schwitzte und trug nur ein Shirt.
Er bemerkte, dass Anna ihn immerzu ansah. Der Jahrmarkt war voll und von überall mischten sich Musik und Stimmen, aber sie hatte nur Augen für ihn. Als es einmal ruhiger wurde, kam er zu ihr und fragte sie, was sie an ihm finde.
Plötzlich hatte sie zu ihm ich liebe dich gesagt, als wäre es selbstverständlich. Ahmid reagierte nicht.
Was ist, fragte sie.
Ahmid versuchte sich an der Vorstellung, wie es sein würde, wenn sich in seiner Heimat alle so gut verstünden wie hier.
Alles ist hier so anders, sagte er dann zu Anna. Alle leben in Frieden. Das gibt es zuhause gar nicht. Ihr wisst nicht, was ihr alle für ein Glück habt.
Ahmid hatte nie Glück gehabt in seinem Leben.
Schon von weitem konnte er Viktor und Andreas sehen, wie sie auf sie zukamen. Viktor trug eine Bierflasche in der Hand, aus der er trank. Andreas nippte immer schneller an einer Flasche, von der Ahmid nicht wusste, was ihr Inhalt war. Andreas konnte er kaum verstehen, aber Viktor herrschte Ahmid an, er wolle einmal schießen.
Viktor machte sich an Anna zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis Anna Viktors Kuss erwiderte. Da hatte Ahmid schon das Gewehr geladen.
Ahmid wollte Viktor noch das Gewehr erklären und die Regeln, aber da hatte Viktor ihm das Gewehr schon aus der Hand genommen. Er schoss unruhig, als könnte er sich nicht konzentrieren. Als das Gewehr leer war, forderte er Ahmid auf, es nachzuladen. Viktor trank einen großen Schluck von seinem Bier. Dann richtete er sich wieder auf. Ahmid bemerkte, dass Anna seine Aufmerksamkeit suchte. Ahmid kontrollierte die Scheiben und tauschte die, die Viktor getroffen hatte. Dann ein Schuss und Ahmid fiel mit einem Loch im Kopf auf den Dielenboden des Wagens. Der dumpfe Aufprall des Körpers war nur eines von vielen anderen Geräuschen. Zunächst wurde es ganz still. Anna stand neben Viktor, der das Gewehr hielt und Andreas, der sich abseits hielt und nichts mitbekam. Einen Augenblick später kehrte der Ton zurück, als wäre alles kurz stumm gewesen. Anna schrie. Im Hintergrund war die Musik des Karussells zu hören.
Anna hockte neben Ahmid, bis ein Polizist kam, der ihr eine Decke über die Schultern legte. Ein anderer nahm die drei mit auf die Wache.
Anna war noch auf der Beerdigung. Außer ihr und Ahmids Vormund war niemand da. Im Lokal des Dorfes sprach bald keiner mehr über den Vorfall, nur noch, dass mal einer aus Syrien hier gelebt hat. Selbst an den Namen erinnerte sich bald niemand mehr. Viktor sah man nicht mehr. Anna erinnerte sich an das Letzte, das ihr Ahmid noch gesagt hatte.
Dass er Angst vor allem gehabt hätte.

Prosa von Marco Frohberger
Illustration von Lukas Schepers
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