Ich weiß, wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesprochen. 25 Jahre sind es jetzt fast, seitdem ich von euch weggegangen bin. In der ganzen Zeit habe ich mich Hals über Kopf in Arbeit gestürzt. Ich habe eigentlich nur gearbeitet und gelesen. Viele Klassiker. Mark Twain, Charles Dickens aber auch William Faulkner, Ernest Hemingway und so weiter. Vielleicht liest du ja auch gerne, auch, wenn ich mir das nicht wirklich vorstellen kann. Hättest du von mir aber wahrscheinlich auch nicht gedacht. Mein Leben wurde jedenfalls vollständig von diesen beiden Dingen erfüllt, aber langsam befallen mich Zweifel an meinem Beruf, die vor ein paar Jahren noch undenkbar waren. Du wirst vielleicht lachen, aber ich bin Polizist geworden. Die Zeit in der Bronx hat mich dazu getrieben. Es ist viel passiert. Nach all der Leserei hoffe ich, durch das Schreiben ein wenig klarer denken zu können. Eigentlich ein selbstsüchtiger Grund, aber ich habe gedacht, dass mich deine Meinung dazu interessieren würde. Egal, was du gerade machst, du bist schließlich immer noch mein Bruder. Schreib bitte zurück und sag, was du denkst. Ich hoffe, es geht dir gut und du kommst über die Runden. Ich fange dann einfach mal an.
Vor ungefähr zwei Wochen hatte ich einen der seltsamsten Tage und seitdem fing ich an mir viele Gedanken zu machen. Ich ging an dem Montag wie immer früh ins Bett, da ich ohnehin nie ruhig schlafe, aber fit sein muss. Meine Schlafstörungen begannen aus dem Nichts, kurz, nachdem ich euch verlassen und zu Tante May gegangen bin. Sie ist übrigens vor zehn Jahren gestorben. Wie geht es eigentlich Mutter? Freut sie sich über das Geld, das ich euch schicke? Ich bekomme jedenfalls nie eine Antwort. Bestell ihr bitte liebe Grüße. Wie auch immer, die Mühe und das Geld einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen, habe ich mir mein Leben lang gespart. Die lange Nacht durchrang ich traumlos und unruhig. Morgens klingelte wie gewohnt um 6:30 Uhr der Wecker, ich zog die Vorhänge auf, brachte mein Bett in Ordnung – so wie Ma’ es uns beigebracht hat – und wandelte für meine morgendliche Wechseldusche ins spärliche Badezimmer. Dieser Angewohnheit verdanke ich meine Tüchtigkeit nach den harten Nächten. Meine Wohnung ist kaum möbliert. Hier eine unbedeutende Vase auf einem kleinen Tischlein, dort noch pro forma eine Kommode. Ein Foto von Ma’ hängt darüber an der Wand. Nach dem bedürftigen Frühstück ergriff ich den am Vorabend gepackten Duffle Bag, trat auf die Straße und verschloss die Tür. So sieht meine Morgenroutine aus, entschuldige die Ausführung, aber mein Mitteilungsbedürfnis ist groß, seit Tante May weg ist, habe ich ja wirklich niemanden mehr.
An diesem Tag schien die Sonne noch. In den darauffolgenden Wochen bekam ich sie kaum zu Gesicht. Der kürzeste Weg zur Bushaltestelle führt am Maline Creek entlang, einem kleinen Bächlein. Also ging ich rechtsherum und blieb im Schatten der Ahornbäume. Auf der anderen Straßenseite lief eine ältere Dame. Sie war ziemlich protzig angezogen und schien mir etwas überzogen – eine, die sich nie nach Harlem trauen würde, weil sie Angst davor hätte, dass wir sie auffressen. Sie ärgerte sich ununterbrochen und redete zu sich selbst, oder dachte laut. Wie auch immer. Ich konnte nicht viel verstehen, aber meine gehört zu haben, wie sie mehrmals „Nigger“ fluchte und Sachen wie „Geld“, „Dreckspack“ und „immer der gleiche Mist“ hinterhersetzte. Natürlich habe ich nichts gesagt, wieso auch? Es wäre unsinnig gewesen einen Streit vom Zaun zu brechen, ich kannte sie ja auch nicht, aber die Sache beschäftigte mich.
Also ging ich weiter und dachte daran, wie Ma’ uns früher immer gesagt hat, dass es schwarze, gelbe, weiße und rote Stifte gibt und dass man mit allen Farben schöne und hässliche Bilder malen kann. Diese Erinnerung brachte mich kurz zum Lachen, dann fragte ich mich trotzdem wieder, woher diese Wut wohl kam, was der Dame wohl passiert ist. Am Bach angekommen ging ich wie üblich stromaufwärts. Nach ein paar Schritten kam ich an eine hölzerne, leicht gewölbte Brücke. Unter ihren Balken auf dem Gras, von dem es zwischen Fußweg und Ufer nicht viel gab, kauerte ein kleiner, sagen wir mal 12-jähriger Junge. Zuerst dachte ich, dass er vielleicht verletzt sei. Er hatte den Kopf zur anderen Seite gedreht und atmete schwer. Ich setzte mich neben ihn und bot ihm einen Schluck Wasser an, weil ich dachte, dass würde ihn vielleicht beruhigen. Als er meine Stimme hörte, erschrak er ungeheuerlich, aber als er mich anschaute, löste sich die Anspannung in Luft auf und er umklammerte beinahe stürmisch mein Bein.
Ich habe ihn natürlich gefragt, was los ist und er antwortete mir, dass er sich verstecken müsse, weil er sich genommen hat, was er braucht. Mir wurde schnell klar, dass sich der Junge vor der Frau versteckte. Er stahl ihr die Handtasche und hatte nun fürchterliche Angst erwischt und auf die Wache gebracht zu werden. Natürlich sagte ich ihm nicht, wo ich arbeitete, aber dafür schimpfte ich und sagte ihm, dass er es verdient hätte, wenn die Polizei ihn erwischen würde, aber wenn du diese Gestalt da zusammengekauert unter der Brücke gesehen hättest, mit zitternden Händen und schweren Atem… Nachdem ich merkte, wie sehr meine Vorwürfe ihn verängstigt hatten, fragte ich ihn genauer nach seinen Motiven. Wieso er stehlen musste. Obwohl ich es mir auch denken konnte, denn seine Kleidung war zerschlissen und unordentlich. Seine Familie sei bettelarm, die Mutter krank, das Haus kurz vor der Räumung und er leidet unter den Gemeinheiten seiner drei älteren Geschwister. Ich nahm ihn also bei den Schultern und erklärte, dass Diebstahl nicht rechtens sei. Wenn er sein Leben verbessern will, dann müsse er verstehen, dass es in seinen Händen liegt. In jugendgerechter Sprache versuchte ich ihm zu vermitteln, dass es einzig und allein an ihm liegt, ob er im Gefängnis landet oder sich in der Schule zusammenreißt, einen anständigen Job findet oder es sogar durch ein Stipendium schafft, aufs College zu gehen. Ich konnte nicht verschweigen, dass er es natürlich um einiges schwerer haben wird, als viele seiner Mitschüler. Das hat aber nichts zu bedeuten, versicherte ich ihm. Er müsse in seiner Situation so handeln, wie es seine Situation verlange. Trotz all der Dinge, die gegen ihn sprechen, liegt jede Entscheidung bei ihm. Er sei noch jung genug, um all die Missstände zu bekämpfen, die ihn jetzt so sehr plagen, bevor sie ihn vollkommen überwältigen, sagte ich ihm. Er könne für seine Mutter sorgen, wenn er wolle auch für die ganze Familie. Ich empfahl ihm sich über Martin Luther King schlauzumachen, und wenn die Zeit gekommen wäre, dann könne er selbst Reden halten. Zum Beispiel darüber, warum der Staat in der Verantwortung steht, seine Mutter wieder gesund zu machen. „Das geht aber nur, wenn du nicht im Knast sitzt“, schloss ich mit einem Zwinkern, um nicht ganz so spießig dazustehen – du weißt ja, wie Kinder in diesem Alter sein können, was altkluge Ratschläge angeht. Er hörte mir die ganze Zeit erstaunlich interessiert zu, blieb noch sitzen, während ich meine Tasche wieder aufhob und ihm sagte, dass ich zur Arbeit muss.
Als ich mich von dem Jungen entfernte, war ich zuversichtlich, dass meine Worte einen Eindruck auf ihn gemacht haben, der sein Leben positiv verändern könnte, aber gleichzeitig beschlich mich ein unheimliches Bauchgefühl, das sich den ganzen Tag verschlimmerte. Ich machte mich jedenfalls wieder auf den Weg und musste mich beeilen, da mich dieser Zwischenfall einige Minuten gekostet hat und ich es hasse, zu spät zu kommen. Also ging ich schnell in Richtung Suburban Avenue. Der Bus kam innerhalb weniger Minuten, aber als ich einstieg und in meiner Sporttasche meine Dauerkarte suchte, merkte ich, dass ich sie zuhause vergessen habe, was mir sonst nie passiert. Wie der Zufall es wollte, hatte ich es auch die letzten Tage versäumt, zur Bank zu gehen. Allerdings fehlte mir nur ein Quarter, sodass der Busfahrer mich einsteigen lies. Ich gab ihm trotzdem das letzte Geld. Einen abwertenden Kommentar konnte er sich aber nicht verkneifen. Sowas wie: „Ist zwar gegen die Vorschrift, aber ihr habt’s doch eh schon schwer genug.“ Ich erwiderte nichts und ging nach hinten. Während ich an einem griesgrämigen Mann mit lichtem Haar vorbeikam, hörte ich ihn murmeln: „Jaja, geh ruhig nach hinten, wie es sich gehört. Gottverdamm’ Rosa Parks.“ Wie viel Rückschritt in diesen Worten steckt und mit was für einer Selbstverständlichkeit er sie so dahergesagt hat, wie normal dieses Denken ihm erschien, schockierte mich. Trotzdem sagte ich nichts. Wofür einen sinnlosen Streit anfangen, der in Nichts oder einer Schlägerei enden würde?
Als ich ausstieg, ging ich die St. Florrisant Road herunter. Kurz vor der Wache lief ich an einem Bettler vorbei, der sitzend gegen die Barriere aus Waschbeton lehnte und mich nach Geld fragte. Ich hatte ja nun wirklich nichts dabei, also sagte ich ihm, dass es mir leidtut, ich aber keinen Penny mehr habe. Er schnaufte nur kurz und schüttelte den Kopf. Als er dann aber sah, wie ich ins Revier ging, rief er mir hinterher: „Ach, der Mann ist Polizist. Klar, dass er einem Bruder keine Kohle gibt, wenn er sein Leben lang damit beschäftigt ist, seine Rasse zu verraten.“ Dieser Idiot übertrumpfte alles, was ich an diesem merkwürdigen Tag bereits gehört hatte.
An diesem Tag war die Stimmung im Umkleideraum geladen. Bei uns im Revier gibt es nur eine Handvoll Schwarze und die halten sich bei den Polizistenmorden alle reserviert – mich eingeschlossen, wie du dir sicher denken kannst. Einmal habe ich allerdings mit meinem Partner darüber geredet. Auch, wenn es mir eigentlich egal ist, welche Hautfarbe er hat, ist er weiß. Ich sag’s dir trotzdem, damit du dir ein Bild von ihm machen kannst. Er ist gut behütet in Texas aufgewachsen und dann hergezogen, als sein Alter gestorben ist. Durch diese Gemeinsamkeit konnten wir irgendwie einen Draht zueinander aufbauen. Jedenfalls beharrte er darauf, dass es eben größtenteils Schwarze sind, die hier auffällig werden und dass man mit einer gewissen Vorsicht an die Fälle rangeht und er setzte hastig hinterher, dass ich ja anders sei und nicht „typisch schwarz“. Ich hätte ihm am liebsten immer wieder gesagt, dass es nichts mit der Hautfarbe zu tun hat, sondern damit, wie man behandelt wird, was man erlebt, welche Mittel einem zur Verfügung stehen und dass all das einem all das völlig willkürlich in die Wiege gelegt wird. Aber dafür ist er nicht aufgeschlossen genug. Ihm wurden immer nur Stereotypen eingeprägt und er ist nicht bereit seine Gewohnheiten zu durchbrechen, weil es zu bequem ist. Wenn dies nicht so wäre, könnte man auch noch versuchen ihm zu erklären, wieso diese Willkür hier so von Bedeutung ist. Wieso in einem Land, in dem alle mit den gleichen Rechten und Pflichten geboren werden, die einen klauen müssen, während andere gerade ihr neues Cabrio ausfahren. Ich würde ihm gerne erklären, wie es für mich war, euch zu verlassen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte in diesem Sumpf der Bronx, der ja noch weitaus schlimmer war, als die ersten Jahre hier. Ich würde ihm erklären wollen, wie korrupt und durchschaubar es ist, Geld zu verdienen. Dass ich auch bei der Bank arbeiten oder an die Börse gehen könnte, wenn mir danach wäre, das große Spiel mitzuspielen, wenn mir danach wäre, das Leben anderer Menschen zu verhandeln und mir auf ihrem Rücken ein Vermögen aufzubauen. Und wieso ich mich trotzdem dazu entschieden habe, Polizist zu werden. Aber ich habe mir den Atem gespart. Nach dem gestrigen Tag wünschte ich mir, es nicht getan zu haben.
Nach zwei Stunden auf Streife machten wir unsere Pause wie so häufig beim Donutladen an der Compton Avenue. Wir bestellten also das Übliche, und während wir auf der kleinen Terrasse Platz nahmen, gingen zwei schwarze Kids an uns vorbei. Hätten auch wir zwei sein können… Sie blieben stehen, anscheinend irritiert von dem Anblick in diesen Tagen einen schwarzen und einen weißen Polizisten zusammen Donuts essen zu sehen, und riefen, dass ich mit dem Falschen esse. Bevor mein Partner irgendein gedankenloses Zeug zurückrufen konnte, erwiderte ich, dass sie sich besser darüber im Klaren sein sollten, wie kompliziert eine Unterteilung in falsch und richtig ist. Sie lachten nur und gingen weiter. Als wir aufgegessen hatten und zurück zum Auto gingen, sagte mein Partner, dass ich „diese kleinen Ghettokids“ nicht so mit mir umspringen lassen solle. Ich denke mir jetzt, dass er es eigentlich nur gut meinte, aber nach den ganzen Vorfällen dieses Tages reagierte ich sehr gereizt und warf ihm vor den Kopf, dass er nicht so herablassend darüber reden solle. Er benutzt ein Wort wie Ghettokids, um sie schlecht dastehen zu lassen, ohne zu sehen, wie sehr dieses Ghetto sie zu dem macht, was sie sind und wie sehr er und die gesamte Gesellschaft in der wir leben, dieses überhaupt erst produziert und daraufhin tausendfach reproduziert. Ich fragte ihn nur beiläufig beim Einsteigen, ob ich sie vielleicht hätte erschießen sollen und fuhr los, ohne dass er antwortete.
Naja, das war also vor zwei Wochen und seitdem gab es immer wieder Proteste und Ausschreitungen, die mein ungutes Gefühl nicht gerade verbessert haben. Die Anspannung hat so etwas wie einen Keil zwischen mich und meinen Partner getrieben. Irgendwie entfernten wir uns immer mehr voneinander. Gestern dann, nach einer halben Stunde auf Streife, die beinahe wortlos verstrich, bekamen wir einen Funkspruch, dass sich am Civic Center ein eventuell bewaffneter Jugendlicher befinde, man sich jedoch nicht sicher sei. Wir fuhren sofort dorthin. Ich erahnte aus der Ferne, dass es der Junge war, den ich damals unter der Brücke fand, sagte jedoch nichts, um nicht erklären zu müssen, warum ich den Vorfall verschwiegen habe. Während der Wagen auf dem Rasen vor dem Pavillon, unter dem er saß, ausrollte, konnte man in seiner Hand etwas Schwarzes sehen, als er von Picknicktisch aufstand. Mein Partner sprang raus, bevor ich bremsen konnte, und feuerte zwei Schüsse ab. Ich eilte zu dem Jungen, während seine große Schwester schreiend angerannt kam. Er erkannte mich nicht mehr, aber sagte noch mit schwindender Kraft, dass es doch nur eine Spielzeugpistole ist. Und ich predigte diesem Jungen, der da zu unrecht sterbend am Boden lag, dass man nicht stehlen soll. Als ich mich einigermaßen gefasst hatte und der Krankenwagen unterwegs war, schaute ich auf den Tisch, an dem er saß. Dort lagen zwei Bücher, die er, wie sich später herausstellte, aus der Stadtbücherei geklaut hat. Eines über Martin Luther King, das andere über Malcolm X.
Was für ein Scheißtag. Ich bin ratlos. Mir lag immer nur die Gerechtigkeit am Herzen. Aber wie gerecht ist es, einen kleinen Jungen mit Spielzeugpistole zu erschießen, der vielleicht gerade an diesem Tag anfangen wollte, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen? Wie kann ich überhaupt noch an irgendetwas in dieser Welt glauben, wenn sie von so viel Ungerechtigkeit beherrscht wird? Mein höchstes Gebot war es, Unschuldige zu schützen. Diese Polizistenutopie zerfällt in diesem Land täglich ein Stück mehr. Stehe ich hier überhaupt noch für Gerechtigkeit oder doch nur noch für Mord und Diskriminierung? Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mir darüber im Klaren werde. Vielleicht komme ich euch bald Besuchen, was meinst du?
Von Lukas Schepers 14.Feb’17 / Titelbild illustriert von Nadja Bamberger