Ausnahmsweise erstrahlt der Himmel Hamburgs in hellen Blautönen, anstatt sich wie üblich in tristem Grau zu kleiden. Zwischen Busbahnhof und Wandelhalle liegen von der Hitze und den Drogen betäubte Menschen kreuz und quer auf dem Asphalt. An der Ecke Adenauerallee/Steindamm steht ein Zelt, wie man es als provisorische Krankenstation von Festivals kennt. Es ist zugepflastert mit Plakaten und einem großen Banner mit der Aufschrift: „Schluss mit der Ignoranz. Anerkennung der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“! Für ein Leben in Würde.“ Vor dem Zelt steht eine Handvoll Menschen. Sie sind in Mali, Ghana oder Nigeria geboren und zogen ins sich wirtschaftlich aufschwingende Libyen, bis 2011 der Krieg kam. Sie sind ungefähr 350 Flüchtlinge ohne Arbeitserlaubnis und nutzen das Zelt als Informationsstand zur Protestorganisation, um gerade diese Erlaubnis als Kollektiv zu erhalten. Aber es ist auch notgedrungener Lebensraum für ungefähr zehn Personen. Der Rest lebt auf den Straßen oder in anderen Notunterkünften. Im Oktober soll diese Anlaufstelle einer Baustelle weichen.
Ein Mann aus den Balkanstaaten kommt zum Zelt und will ein altes Handy verkaufen. Patrick Owusu sitzt im Inneren und schickt ihn weg. „Mach deine Geschäfte woanders, das hier ist ein Informationspunkt!“ Er isst wie üblich Dosenthunfisch mit Weißbrot, denn mehr kann er sich nicht leisten. Der 44-jährige Ghanaer erreichte 2013 Hamburg in der Hoffnung, endlich anzukommen, denn seit 2011 treibt ihn die Unruhe.
In seiner Heimat begann er nach drei Jahren an einer Fachhochschule (polytechnical education) als Techniker auf dem Bau zu schuften. Um sich das Wissen im Umgang mit neuester Technologie anzueignen, ging er für 6 Monate nach Winnipeg, Kanada und zeugte währenddessen einen Sohn, der dort blieb. Als er heimkehrte, machte sein Arbeitgeber Pleite. Patrick gründete seine eigene Firma, bald darauf starb sein Vater und mit der Selbstständigkeit klappte es nicht.

Die Gründe, aus denen er Ghana verlassen hat, sind für uns Europäer schwer nachzuvollziehen, betont er immer wieder. „Ihr könnt nicht verstehen, wie wir dort leben müssen. Es ist einfach nicht sicher. Wieso sollten die Amerikaner sonst 2010 den Norden Ghanas zu einer No-Go-Area erklärt haben?“, fragt er, fast schreiend, während er das Brot immer wieder in die Thunfischdose dippt. Der Ausdruck „ihr Europäer“ fällt häufig und verleiht seinem Zorn einen gemeinen Ausdruck. Es ist eine Art Ventil, aber er entschuldigt sich immer wieder. „Wir Europäer“ sind ein weites Feld, das weiß auch er. Aktuell schreibt das Auswärtige Amt: „In der Provinz Northern Region, Upper West and East, wird die Sicherheitslage durch gelegentliche gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen lokalen Bevölkerungsgruppen beeinträchtigt.“ Genau diese international unbeachteten Konflikte machten ihm das Leben in Ghana unerträglich. „Also habe ich mich entschlossen zu gehen.“
Er brachte seine Mutter sicher im benachbarten Togo unter, verließ sie jedoch, da das prosperierende Libyen lockte. Dort fand er schnell Job und Unterkunft, wähnte sich glücklich. Die Existenz des Bürgerkrieges streitet er vehement ab – es soll lediglich Proteste gegeben haben – und schiebt die Instabilität auf den Westen; die EU und USA. Für ihn war Gaddafi der Beste, mit keinem anderen Staatsoberhaupt zu vergleichen. Von Einschränkungen der Pressefreiheit oder willkürlichen Verhaftungen will er nichts mitbekommen haben. „Ich hatte ein angenehmes Leben in Libyen“, versichert er. Bleiben, um für Gaddafi zu kämpfen, war ausgeschlossen, obwohl viele Berichte auf dem Mythos von Gaddafis schwarzen Söldnern beharren. Als die ersten Bomben der Franzosen fielen, verließ er das Land so schnell er konnte. Bald intervenierten ebenfalls die Briten, die Gaddafi vorher noch hofierten – ebenso wie die Bundesregierung es getan hat.
Entscheidend ist der Blickwinkel einer Person. Für den Westen sind die Rebellen Kämpfer im Namen der Demokratie, für Patrick sind es von der NATO inszenierte Lichtgestalten, die vorgeschoben wurden, um Gaddafi zu beseitigen, der ein Dorn im westlichen Auge geworden ist. Dass die Aufständischen nicht gerade Behüter demokratischer Werte sind, macht er an der aktuellen Lage Libyens fest. Es herrscht totales Chaos, es wird gefoltert und getötet, der IS erhält Einzug und der Übergangsrat befindet sich im Clinch mit den vereinzelten Brigaden und Milizen, die aus schwer zu bestimmenden Milieus stammen und gegensätzliche Ziele verfolgen. Die Legitimation der Kämpfe durch diktatorische Züge in Gaddafis Regime sind für ihn überhaupt nicht zu begreifen. Es ist eine sehr komplizierte und unübersichtliche Situation in der Grautöne vorherrschen. Für Patrick steht jedoch fest: „Die Bomben der NATO haben mich obdach- und hoffnungslos gemacht.“
Während er vom Kriegsgeschehen erzählt, wird er immer aufgeregter. „Du kannst das nicht verstehen, oder warst du jemals in einem Kriegsgebiet?“, ruft er mit lauter Stimme. „Stell dir vor, du gehst jetzt zu Penny, kommst raus und BOOM, eine Straße weiter schlägt eine Bombe ein“, fährt er jetzt schreiend fort, während er die Arme schützend über dem Kopf zusammenschlägt. Davor galt es zu flüchten und das tat er auch. Damit begann Patricks Odyssee.
Seine Mutter lässt er zurück. Wieso sollte sie auch mitkommen, fragt er. Falls sie die Fahrt überleben sollte, wäre es für sie noch schwerer als für ihn eine Arbeit zu finden und die Lebenshaltungskosten wären ebenfalls höher. Er will ihr Geld schicken, damit sie sich in Togo ein angenehmes Leben machen kann. So gesehen opfert er sich für sie.
Mit dem Boot geht es übers Mittelmeer, bis er kurz vor Lampedusa von den italienischen Behörden abgefangen wird. Auf der kleinen Insel verbringt er eine Woche, bevor es weiter ans Festland geht. In Milan wird er aufgenommen und bekommt angeblich sogar das Hotel vom Staat bezahlt. Dem Asylantrag wird stattgegeben. Zwei Jahre bleibt er dort, findet jedoch keine Arbeit und kommt 2013 nach Deutschland. Warum gerade hierher, will er nicht sagen. Nun sitzt er im Herzen der EU, dem westlichen Vorzeigeschild der Solidarität, von dem langsam der Lack abblättert. Er stellte sich darauf ein, endlich neu anfangen zu können. „Jetzt bin ich seit drei Jahren hier, habe weder Geld für mich noch für meine Familie“, sagt er und wird wieder wütender. Es ist ihm unverständlich, wieso die deutschen Behörden verlangen, dass er den Asylantrag ein zweites Mal stellen soll. Er hat die Prozedur abgeschlossen und will seine Zeit nicht vergeuden, sondern arbeiten. „Wir sind alle verbittert. Schau mich an, wie ich hier sitze und lebe“, sagt er und blickt sich in dem mit Decken isolierten Zelt um.

Während er redet, steigert sich seine Wut. Er spricht aufgebracht von Hoffnungslosigkeit, Krieg, Politik und herben Enttäuschungen. Dann kommt Nsoh Iamga ins Zelt, grüßt freundlich und setzt sich neben Patrick auf die ranzige Couch. Als dieser kurz Luft holen muss, ergreift der 25-jährige Ghanaer, der in Libyen als Maurer gearbeitet hat, die Chance und merkt leise und in gesetztem Ton – völlig gegensätzlich zu Patricks Rage – an: „Die Leute sagen, dass es schlecht ist, dass wir aus wirtschaftlichen Gründen unser Land verlassen. Deswegen sind wir teilweise nach Libyen gegangen. Aber erstens sind wir von dort wegen des Krieges geflüchtet und zweitens kommen aus den gleichen Gründen Spanier nach Deutschland und keiner regt sich darüber auf.“ Für ihn ist das heuchlerisch und erschreckend. Er fragt, wieso das so ist, denn man kann in Spanien noch wesentlich besser Leben als in Ghana. Er vermutet, dass wir den Spaniern mehr vertrauen, da sie Europäer sind. Was bedeutet das schon? Gibt oder gab es jemals aufrichtige europäische Solidarität? Sobald Menschen mit deutlich differenzierender Hautfarbe von einem anderen Kontinent kommen, stellt sich ein allgemeines Misstrauen ein. „Wie auch immer“, sagt er, „es gibt doch auch Deutsche, die auswandern, weil sie hier unglücklich sind.“ Außerdem verstehe er das Prinzip der Arbeitserlaubnis nicht. Von Menschenhand gezogene Grenzen sind für ihn eine unnütze Erfindung, denn er würde ebenso Steuern zahlen und genauso hart arbeiten wie jeder andere. Gerade, weil sie dies nicht können, bestehe die Gefahr, dass sie zwangsweise in die Kriminalität abrutschen. Nur einige wenige haben sich einer erneuten individuellen Prüfung für das Bleiberecht in Deutschland, welches sie bereits in Italien erhalten haben, unterzogen und sind somit das Wagnis eingegangen, von hier aus abgeschoben zu werden.
Die beiden Ghanaer versuchen Deutsch zu lernen und wissen um die Bedeutsamkeit der Sprache in Sachen Integration. Immerhin haben sie in Libyen auch Arabisch gelernt. Doch kommt es ihnen so vor, als würde die Integration unsererseits nicht zugelassen werden. Sie stehen zwischen Tür und Angel, sind schon fünf Jahre unterwegs und immer noch nicht angekommen.
Beide sind gleichermaßen überrascht und erfreut gewesen, über die verschiedensten Hilfsmittel und Solidaritätsbekundungen, die ihnen seit ihrer Ankunft in Hamburg gespendet wurden, aber das bringt sie nicht aus der Mittellosigkeit. „Natürlich sind wir dankbar, aber wir wollen unsere Angelegenheiten alleine regeln können und nicht jedes Mal fragen, ob uns jemand Brennstoff gibt, damit wir im Winter unser Zelt heizen können“, erklärt Patrick und beharrt auf individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Ob und wo das Zelt diesen Winter stehen wird, weiß keiner der beiden. „Wir machen uns noch keine Gedanken darüber, was morgen ist. Alles kann passieren“, sagt Nsoh abschließend und spiegelt damit genau die Situation wieder, in der sich diese Menschen seit einem halben Jahrzehnt befinden.
Während man sich die beiden anschaut, sich ihre Geschichten anhört und Mitgefühl aufbringt, drängt sich unweigerlich ein mulmiges Gefühl auf. Selbst für die Taten westlicher Politiker einstehen zu müssen, macht die Resultate „unserer“ Politik unmittelbar greifbar. Zu verstehen, dass diese Menschen nicht grundlos herkommen, mag vielen noch nicht geglückt sein, aber wer einmal ein Gespräch auf Augenhöhe mit den Leuten geführt hat, die von der kapitalistischen Globalisierung am schwersten getroffen werden, entwickelt schnell Empathie für die gemarterten Individuen. Die nötige Konsequenz, um die Leute nicht in der Fremde verkümmern zu lassen, ist, sie mit offenen Armen zu empfangen oder an erster Stelle Fluchtursachen zu bekämpfen und sie nicht – ob durch Bomben oder Wirtschaftsrepressalien – zu kreieren. Afrika ist nicht arm an Ressourcen, sondern an Hoffnung, denn es befindet sich im harten Griff der Marktmächte, die es melken und bis auf den letzten Tropfen Rohöl ausquetschen, wie ein Bauer, dessen einzige Kuh aufhört, Milch zu geben – mit dem Unterschied, dass es nicht „unsere“ Kuh ist. Wenn man sich anschaut, wie die Idee des Freihandels in Form von EPA’s (Economic Partnership Agreements) vorgaukelt, den Wohlstand zu bringen, um die Märkte rücklings mit kapitalistischen Billigprodukten zu überschwemmen, weiß man schon, woraus das hinauslaufen wird – Instabilität. Und wo diese Instabilität hinführen wird, sagen uns Forscher schon seit mehreren Jahren. Überrascht sind wir trotzdem und denkbar schlecht vorbereitet. Waren „wir“ so sehr damit beschäftigt, Dinge zu erschaffen, dass „wir“ nicht auf mögliche Konsequenzen geachtet haben? Waren „wir“ wirklich so naiv wie Goethes Zauberlehrling? Oder sind wir es gar noch immer?
Schrift und Fotos von Lukas Schepers, 29.Sep’16
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