Der Apfel

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Es war an einem Mittwoch, mitten in der Woche, mitten in Alltags-Gedanken und Pflichten, als Bernd Kleister einem totgeglaubten Menschen über den Weg lief. Einfach so. Ohne Vorwarnung und ganz ohne Termin. Seltsam sowas.
Es geschah beim Abendessen. Ein Geschäftspartner nannte ihm das Lokal, Bernd selber hätte es nie ausgesucht. Es war etwas heruntergekommen und verraucht, obwohl kaum Gäste anwesend waren. Ein ätzender Geruch stieg aus den Hinterzimmern, ein Geruch, der glatt auf ein Schlachthaus hätte schließen lassen können. Der stellenweise aufgequillte Holzboden knarrte bedrohlich beim Gewicht von Bernds Schritten. Die Tische waren etwas verklebt und kleine Deckchen, voll mit Flecken, waren darüber geworfen. Auf ihnen standen verstaubte Kerzenstummel, so alt wie der Laden selbst, vermutete Bernd.
Sein Termin dauerte nicht lang, beide Parteien waren sich schnell einig, wie die ganze Sache abzuwickeln sei und Bernds Geschäftspartner, welcher hier aus Gründen der Diskretion und Sicherheit nicht genannt werden soll, verschwand auch gleich wieder aus dem Lokal. Bernd blieb noch einen Augenblick, es wäre unklug gewesen ihm allzu schnell zu folgen. Also rauchte er noch eine Zigarette und bestellte den besten Whiskey, den diese schäbige Kneipe zu bieten hatte. Gebracht wurde ihm sein Glas allerdings nicht vom Kellner, sondern von einem Mann, so etwa Mitte dreißig, gut gekleidet, glatt rasiert und mit zurück gekämmten Haaren. Sein Gang war ruhig, jeder Schritt war bedacht. Ohne zu fragen, setzte er sich auf den freien Platz Bernd gegenüber. Er hielt zwei Gläser in den Händen, in beiden war Whiskey, einer on the rocks und einer unversetzt. Langsam zerliefen die beiden Eiswürfel und ein leises Knacken ertönte. „Hier, ihr Whiskey“, er reichte Bernd das ungekühlte Glas, „lassen Sie uns trinken!“ Noch bevor Bernd Einwand erheben oder sich höflich danach erkundigen konnte, wer sein Gegenüber war, hatte der Fremde auch schon sein Glas mit dem noch Unberührten vor Bernd zusammen klirren lassen und es dann mit einem Zug geleert. „Ach, was schauen Sie denn so? Lassen Sie mich raten, sie finden, es sei eine Schande Whiskey mit Eis zu verwässern, habe ich nicht recht?“, während er sprach, winkte er dem Kellner zu und dieser erschien auch gleich, um das Glas des Fremden wieder zu befüllen. Der Whiskey floss nur zaghaft aus der Flasche und doch wirbelten die beiden schrumpfenden Eiswürfel zügig im Glas umher.
„Also, wenn Sie mich fragen, dann ja, man sollte Whiskey wirklich nicht mit Eis verwässern, aber andererseits haben Sie das Glas auch direkt mit dem ersten Schluck geleert. Also will ich mal darüber hinweg sehen.“, Bernd lächelte dem Fremden freundlich zu, „Mein Name ist Kleister, Bernd Kleister. Sehr erfreut“.
„Oh, es gibt keinen Grund sich vorzustellen, ich weiß genau, wer Sie sind.“, entgegnete der Fremde kühl, „Aber ich muss zugeben, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass Sie wirklich mal in mein Lokal gestolpert kommen.“
„Ihr Lokal? Sie sind also der Inhaber? Glauben Sie mir mein Freund, das hätte ich auch nicht gedacht. Sie müssen nämlich wissen, ich komme nur sehr selten in diesen Teil der Stadt. Aber Sie haben es wirklich nett hier. Ganz ehrlich!“, log Bernd, „Dieser alte Stil, in dem Sie ihr Etablissement eingerichtet haben, spricht mir doch sehr zu. Nur sollten sie vielleicht mal ein paar Fenster öffnen. Es liegt nämlich ein ganz seltsamer Geruch in der Luft.“ Seltsam war noch gelinde ausgedrückt, wie Säure breitete sich die Atmosphäre des Lokals in Bernds Nase aus.
„Ihnen missfällt der Geruch? Das wundert mich jetzt aber Herr Kleister, denn wenn ich so vor Ihnen sitze, dann meine ich den gleichen Duft von ihnen zu vernehmen. Zwar ist er von einer Schicht teurem Parfüm überdeckt, aber dennoch ist er da. Also lügen Sie mich nicht an! Ich habe nämlich einen guten Riecher für die Wahrheit.“
„Sie sind mir aber ein Scherzkeks Herr…? Wie war noch gleich ihr Name?“
„Mein Name ist Martin Macheath.“
„Macheath, Macheath…Irgendwo habe ich diesen Namen schon einmal gehört. Macheath…ach, was solls. Nun Herr Macheath, ich verlasse Sie dann jetzt, ich habe noch einen Termin. Ich würde zwar wirklich gerne noch ein wenig mit ihnen plaudern, aber sie wissen ja wie das ist, Zeit ist Geld. Also entschuldigen Sie mich..“
„Sie gehen nirgendwo hin Kleister! Setzen Sie sich sofort!“, befahl Macheath Bernd mit strenger Stimme. Dieser blickte verwundert, noch halb stehend seine unverhoffte Bekanntschaft an. Bernd war ein wichtiger Mann und so redete normal niemand mit ihm. „Haben sie nicht verstanden? Setzen!“, wiederholte Macheath mit Nachdruck. „Ähm, nichts für ungut Herr Macheath, aber ich habe es wirklich…“, bevor Bernd seine zittrige Gegenwehr beenden konnte, klatsche der Inhaber laut in die Hände und auf einmal leerte sich das ganze Lokal, wie von seinem Echo verdrängt. Die paar Gäste, die dort waren, standen sofort auf, ohne zu zahlen oder ihr Getränk zu leeren, der Barkeeper schmiss lächelnd seine Schürze zur Seite und lies alles stehen und liegen und zu Letzt kam ein dicker Kerl, ohne Hals, völlig verschwitzt in Hemd und Krawatte aus den Hinterräumen, schaute Macheath einen Augenblick an, nickte ihm zu und verschwand daraufhin wieder. Bernd beobachtete diesen ganzen Ablauf mit einem leicht ängstlichem Staunen. Noch immer hing er halb stehend erstarrt an seinem Platz
„Setzen habe ich gesagt! Zum letzten Mal Kleister!“, die Augen des Inhabers fixierten Bernd und brannten wie zwei rotglühende Zigarettenanzünder. „Nun…nun gut. Ich kann ja…ähm…ich kann ja noch meinen Whiskey austrinken“, zaghaft und mit verkrampften Grinsen, setzte sich Bernd wieder, woraufhin Macheath anfing zu klatschen: „Na, geht doch! Also, wollen wir dann nicht langsam zu dem Grund und Zweck unserer Unterhaltung kommen?
„Grund und Zweck? Ich…ich verstehe nicht, ich…ähm..ich habe Sie doch noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Wa…was haben wir bitte miteinander zu scha….schaffen?“, Bernd konnte sein Whiskeyglas nur mit Mühen in seiner Hand halten, er war dermaßen zittrig, dass er es lieber wieder hinstellte und auf den Schluck verzichtete.
„Sparen dir das Gestotter alter Mann. Und hör endlich auf mit den Lügen. Du weißt nicht, wer ich bin?“
„Nein…ganz ehrlich nicht. Ihren Namen, den habe ich glaube ich schon einmal ge…gehört, aber ich würde mich…mich doch an ein Gesicht wie das ihrige erinnern. Bitte, jetzt sagen Sie mir doch was sie wollen? Wollen Sie mich etwa erpressen? Sie haben gesagt, Sie wüssten, wer ich bin, oder? Sie wissen, dass ich reich bin, o….oder? Oh mein Gott, wieso nur ich?“, mit großer Gestik unterstütze Bernd seine Worte, in der Hoffnung den Fremden von seiner guten und harmlosen Art zu überzeugen. „Ich kann es nicht glauben. Du weißt es wirklich nicht? Nun gut, dann spielen wir eben, Kleister! Ich will dir eine Geschichte erzählen, hör gefälligst genau zu.“
„Eine Geschichte? A…Aber wozu? Jetzt sagen sie mir doch endlich, was hier los ist!“, Bernds Stimme wurde etwas lauter, aber das interessierte Macheath nicht.
„Hör mir einfach zu, es wird schon alles ein Sinn ergeben Kleister. Also, die Geschichte, die ich dir erzähle, diese Geschichte handelt von einem Mädchen. Einem naiven, blauäugigen, herzensfrohen, aber vor allem lebendigen Mädchen. Sie lebte in einem kleinen Reihenhaus, etwas abseits der Stadt mit ihrem Vater zusammen. Die Beiden kamen äußerst gut miteinander aus, zwar war das nicht immer so, aber seit einem Autounfall, der ihrer Mutter das Leben kostete – da war sie gerade mal 14 Jahre alt –, verband Vater und Tochter ein starkes Band der Einsamkeit, eine Einsamkeit, die aus dem Schmerz eines Verlusts entsprang, den nur sie glaubten zu kennen und zu verstehen. Und so kam es, dass sowohl sie als auch er im Geheimen entschieden, das Leid des Anderen zu lindern und notfalls sogar das eigene Glück für den Anderen zu opfern. Beeindruckend, nicht? Oh, du siehst etwas angespannt aus und du hast noch gar deinen Whiskey gekostet. Trink, der war teuer! Du willst nicht? Nun dann hör einfach zu.“, Macheath stand während er seine Erzählung fortsetzte auf und begab sich redend zur Bar, um sich noch ein Glas einzuschenken. Bernd folgte seinem Peiniger verwirrt mit den Augen, staunend über die Wörter aus seinem Munde „Als das Mädchen dann ihren Schulabschluss machte und die Blüte ihrer Jugend und Schönheit erreichte, kam es zu ihrer ersten heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Vater seit Jahren. Ihr Vater bestand darauf, einen weiteren Kredit zu nehmen um seine Tochter auf die Universität schicken zu können, das Mädchen aber, welches selbstverständlich von den familiären Engpässen Bescheid wusste, wollte alles daran setzen, ihren Vater davon abzuhalten. Einen weiteren Kredit, das hätte er nicht stämmen können. Nach langen Diskussionen und Streitereien, schaffte es das Mädchen einen Kompromiss auszuhandeln, der lautete, dass sie die nächsten drei Jahre in seinem Geschäft helfen würde, um sich das Geld für die Universität selber zu verdienen. Nach längeren inneren Krämpfen, stellte sich ihr Vater immer mehr auf diese Vereinbarung ein. Ja, er freute sich sogar, dass seine Tochter ihm noch ein wenig erhalten blieb und befand es nach einigen Überlegungen sogar für entschieden gut, dass sie vor der Universität noch echte Arbeitserfahrungen sammeln würde.
Im zweiten Jahr ihres Abkommens, da kam das Mädchen eines Tages, wie aus heiterem Himmel mit einem jungen Mann nach Hause. Dieses dumme Ding; sie hatte sich verliebt. In einen arroganten Widerling aus schlechtem Hause. Du kennst solche sicher selbst, nicht Kleister? Nun, da der Vater aus dem gleichen gutmütigen Holz geschnitten war, wie seine Tochter, verfiel auch er dem Charme des jungen Mannes, dem keine Lüge zu schade war, um das zu bekommen, was er wollte. Er umgarnte das Mädchen mit allen Mitteln und für den Vater hatte er immer ein gutes Wort übrig. Es ging tatsächlich so weit, dass der Vater sogar anfing, den jungen mit Sohn anzusprechen. Und, wenn es mal Streit gab zwischen dem jungen Paar, da ergriff der Vater stets Partei für seinen neuen Sohn und besänftigte sogar im Notfall seine Tochter und erinnerte sie stets daran, wie gut er doch zu ihr sei. Ein Jahr ging diese Scharade, die nicht nur dem Mädchen echt vorkam, sondern bald auch dem Jungen.“
„Genug! Was soll das Ganze? Ich will ihre Geschichte nicht hören! Kommen Sie zum Punkt, verdammt!“, Bernd erhob sich und schrie den Inhaber, der noch immer hinter der Bar stand, an. „Oh, du stotterst ja gar nicht mehr. Wie interessant! Bleib ganz ruhig, wir haben es gleich geschafft. Gut so. Ich komme sofort wieder zu dir Kleister. Also, wo war ich? Ach ja, wir waren im dritten und letzten Jahr meiner kleinen Erzählung angelangt. Und als endlich der Tag gekommen war, der Tag des Abschieds, verwarf das Mädchen, zu ihrer eigenen Überraschung, ihren Entschluss zu bleiben. Das Geschäft lief gut und ihr Vater schien dermaßen zufrieden, dass sie befand, dass ein Opfer zu bringen nicht von Nöten sei. Sicher, die Entscheidung fiel ihr dennoch nicht leicht, aber den nötigen letzten Schubs hat der Junge ihr gegeben, der es Leid geworden war, seine Freundin mit ihrem Vater teilen zu müssen. So wagte das Mädchen den ersten Schritt in ihrem Leben allein. Nun, nicht ganz alleine, sie hatte den Jungen bei sich. Aber das Lösen von ihren heimischen Wurzeln, den Vater zu verlassen, das kam ihr so vor, als ob man ihr das Sicherheitsnetz bei einem Drahtseilakt abgenommen hätte. Ach, wenn ich nur aufhören könnte an dieser Stelle zu erzählen, aber es geht nicht. Es muss sein.“
„Verflucht, was soll dieser Unsinn. Und dann lebten alle glücklich bis an ihr Lebensende? Wieso zum Teufel erzählen Sie mir das?“
„Nein, Kleister, sie lebten nicht glücklich bis an ihr Lebensende. Zwei Monate nachdem das Mädchen weggezogen war, um zu studieren, erhielt sie die Nachricht, dass ihr Vater, ebenfalls wie die Mutter, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Es hieß, er war betrunken und ist viel zu schnell gefahren. Es kam zu einer Kollision zwischen ihm und einem anderen Wagen. Das Mädchen machte sich natürlich fürchterliche Vorwürfe, den Vater allein gelassen zu haben und selbst der Junge vermochte es nicht, sie zu trösten. Sie schien verloren, aber ein Gedanke kam ihr, der ihr Mut machte. Das Geschäft, sie würde das Geschäft ihres Vaters weiterleiten und dadurch wäre dem Vater auf immer ein Denkmal gesetzt. Dieser idiotische Gedanke, ich weiß wirklich nicht wieso, gab ihr neuen Mut. Also packte sie ihre Sachen und fuhr zurück nach Hause, nur um festzustellen, dass ihr Haus nicht mehr ihr Haus war, nur um herauszufinden, dass ihre neue Firma überhaupt nie ihre Firma war und nie sein werden würde. Kannst du dir das vorstellen, Kleister? Nein, bestimmt nicht. Die Wahrheit war, das Geschäft ihres Vaters lief katastrophal. So katastrophal, dass er sich gezwungen sah, im zweiten Jahr ihrer Vereinbarung einen geheimen Kredit aufzunehmen, um nicht schließen zu müssen und um genug Geld an seine Tochter zu zahlen, die doch so fleißig mithalf bei allen Belangen. Er fingierte die Bücher, nur damit sein kleiner Engel nichts von all dem mitbekam und unschuldig weiter ihr Geld für die Universität Zusammensparren konnte. Herzzerreißend oder Kleister? Ja, das fand das Mädchen auch, sie fand es so zerreißend, dass sie sich, gepeinigt von einer unumstößlichen Schuld, die gefangen in der Vergangenheit war, das Leben nahm.“
Macheath nahm einen großen Schluck, schenkte sich nach und blieb einen Augenblick still.
„Gott! Ich hab jetzt genug von diesem Quatsch! Das ist wirklich ein schlimme Geschichte, aber die passieren jeden Tag Macheath, und zwar Tausenden von Menschen. Ich werde jetzt gehen.“, wieder stand Bernd auf, er knüpfte sich die Jacke zu, als der Inhaber, der wieder Bernd gegenüber saß, einen schweren Gegenstand heftig auf den Tisch schlug. Bernd zuckte zusammen. „Was…? Ist das…ist das eine Pistole?“. Macheath hielt seine Hand über einen Revolver mit hölzernen Griff und dunklem Stahl. „Ja, Kleister, das ist ein Revolver, sieh genau hin!“, Macheath nahm den Revolver und richtete ihn auf Bernd, „Setzen! Du hast wirklich schlechte Manieren, Kleister!“, Bernd gehorchte, „hören Sie mein…“.
„Das reicht jetzt, Bernd Kleister. Genug von diesem Quatsch. Ich weiß genau wer du bist und du weißt genau wer ich bin. Wenn du jetzt nicht sofort mit diesem billigen Schauspiel aufhörst, schieße ich dir in den Kopf, verstanden?“ Ein Seufzer löste sich von Bernds Lippen. „Gut. Ich habe verstanden. Nur legen Sie die Pistole weg.“ Macheath starrte Bernd starr in die Augen, in denen er meinte sein Spiegelbild zu sehen. Dann legte er die Waffe neben sein Glas auf den Tisch. „Also, wer bin ich?“
„Sie sind Martin Macheath. Sind sind, wie sagt man heutzutage gleich, ein Gangster, ein Erpresser, ein Mörder und Dieb. Sie haben ein paar meiner Lagerhäuser ausgeräumt und niedergebrannt. Übrigens danke dafür, die Versicherung hat mich wirklich gut dafür entschädigt! Aber hören Sie, Martin, ich darf Sie doch Martin nennen, oder? Ich verstehe schon, nein, wirklich. Sie wollen Profit aus dieser Situation schlagen. Das ist doch ganz natürlich. Da kommt so ein reicher alter Sack, wie ich in ihr Lokal, nutzt es für irgendwelche geheimen Treffen mit seinen Geschäftspartnern und das alles in ihrem Revier, ohne ein Cent zu zahlen? Natürlich werden Sie da wütend, kann ich nachvollziehen. Aber Martin, nehmen Sie mir es nicht übel, dass ich es versucht habe. Also, wie wärs, wenn wir uns hier zu beider Seiten Vorteil einigen würden. Ich gebe ihnen eine Liste von meinen Lagerhäusern und ich meine nicht diese kleinen Dinger, die Sie bis jetzt ausgeräumt haben, nein, ich meine die fetten, prallgefüllten mit wahren Schätzen aus der ganzen Welt. Sie machen weiter wie bisher und ich beteilige Sie noch mit 20% am Gewinn des Versicherungsbetruges, nun, was sagen Sie Martin?“ Kein Stottern mehr, keine Nervosität mehr, Bernd saß da, als ob er solch ein Gespräch, ein Gespräch mit Männern wie Macheath jeden Tag führen würde. Macheath kam nicht umher zu staunen. „Das ist nicht dein Ernst? Bist du, elender Idiot, wirklich so beschränkt?“
„Nicht genug. Sie sind aber gierig, sie gefallen mir. Ok, ich lege noch eine beträchtliche Summe als Zeichen meines guten Willens …“
„Schluss, habe ich gesagt!“, Macheath sprang mit dem Revolver in der Hand von seinem Platz auf und warf mit voller Wucht den Tisch zur Seite. Bernd saß unbeeindruckt vor ihm. „Na, na, na mein Freund. Wieso werden sie denn gleich so wütend? Oh, und schon wieder richten sie die Pistole auf mich?“
„Schluss habe ich gesagt. Martin Macheath? Das ist deine Antwort? Was glaubst du warum ich dir die Geschichte erzählt habe? Verstehst du es immer noch nicht?“
„Die Geschichte? Ich dachte die sollte mich nur aus der Ruhe bringen. Oder was hab ich bitteschön mit dem Mädchen oder ihrem dämlichen Vater zu tun?“
„Dämlich? Sein Name war Martin, Martin Keller! Und du Bernd Kleister bist an seinem und an dem Tod seiner Tochter schuldig!
„Keller? Hab ich noch nie gehört. Was wollen Sie, Junge? Ich habe genug von ihren Spielchen. Sie sagen zwar, Sie wüssten wer hier vor Ihnen sitzt, aber so langsam reicht mir das Ganze hier. Treiben Sie es nicht zu weit, sonst…“
„..sonst was, Kleister? Ich bin der Mann mit dem Revolver in der Hand! Und ich will keine weitere stinkende Lüge von dir hören. Du warst es! Du hast Martin damals den Kredit gegeben. Es war ein Sonderkredit mit grässlichen Konditionen! Er hatte keine andere Wahl mehr, denn keine einzige Bank, außer der deinen, wollte ihm auch nur einen müden Cent mehr geben. Verständlich, da sie ihm ohnehin schon mehr gaben, als er je hätte zurückzahlen können. Und am Ende hast du dir sein ganzes Geschäft unter den Nagel gerissen, alle entlassen und das Gelände verkauft. Sag es! Los. Sag, dass du es warst!“
„Puuh. Was wollen Sie eigentlich von mir? Kann sein, dass ich es war. Sowas passiert in meiner Branche ständig. Gehört zum Geschäft, weißt du, Junge. Nichts Illegales dran, ganz im Gegensatz zu deinen Tätigkeiten, wie ich meinen will“, Bernd grinste den Inhaber schelmisch an. “Wer bist du überhaupt, dass du meinst mir eine Moralpredigt zu halten. Du bist ein Gangster, ein Nichtsnutz, zerstörst das Leben anderer und willst über mich richten. Dann habe ich halt irgend so einen Martin in den Bankrott getrieben, so ist das Leben, Macheath. Du solltest das doch wissen.“
„Das Leben? Ja, das Leben! Natürlich ist das Leben ein Haufen stinkender Dreck. Eine Stadt, ein Land wie dieses, wo alle von Moral und Glauben und Nächstenliebe, von Religion und Gott sprechen, aber sich letztlich jeder nur um sich selbst schert. Wie könnte ich das leugnen? Ich weiß schon, ich bin auch nur so ein wandelnder Haufen Scheiße, aber im Gegensatz zu dir, Kleister, stehe ich dazu. Du mit deinem ekligen Parfüm und diesem dämlichen Grinsen. Ich ertrage Menschen wie dich nicht, die lügen und betrügen und sich dann vor die Leute stellen, um sich für ihren Ruhm und Reichtum beglückwünschen und loben zu lassen, wo doch mehr Blut an deinen Händen klebt, als an den Meinen. Wer hier reinkommt, den Gestank hier einatmet und dann mich sieht, der weiß mit wem er es zu tun hat, aber du..“, Macheath stand ganz dicht vor Bernd und schrie ihn spuckend an, den Revolver an seiner Schläfe, „Du willst wissen, was ich will, Kleister? Ich will eine Welt der Wahrheit, eine Welt, in der alle mit dem konfrontiert werden, was sie wirklich sind. Keine leeren Worte mehr, sondern einen Menschen, der sich selbst und seines gleichen anhand seiner und ihrer Taten bemisst. Dort liegt die Wahrheit und dort liegt auch die Freiheit. Denn erst, wenn wir sehen, zu was für einer Bestie wir uns erzogen haben, was für ein grausames und herzloses Wesen wir in uns geschaffen haben, erst dann wird in uns auch der Wunsch zur Veränderung aufkeimen. Und bis dahin, bis dahin werde ich jedem widerlichen Arschloch, welches hier so selbstgefällig in mein Lokal reinkommt, eine Kugel in den Kopf jagen. Selbst wenn es mein eigener …“
Ein Schuss fiel. Alles fing an zu verschwimmen und ein dunkles Grinsen, direkt vor seinen Augen verschlang die Welt in sich. War das Blut, sein Blut? Martin Macheath hielt sich an seinem Gast, der unerwartet eine Pistole aus seinem Mantel gezogen hatte, fest. Bernd schaute kalt auf ihn herab und flüsterte Macheath ins Ohr: „Sprich es nicht aus! Geh gefälligst wieder in das Grab, aus dem du gekrochen bist, Junge. Ich fasse es einfach nicht, dass du mich dazu zwingst ein Waffe zu benutzen. So etwas Primitives! Du dachtest, ich wüsste nicht, dass du es bist. Dummes Kind, natürlich wusste ich es! Schon als du mir diesen Whiskey brachtest – meinen Lieblingswhiskey! Dann das Gerede von dem Eis. Haa, und die Geschichte von deiner Kleinen war wirklich ganz rührend. Entschuldige, aber die kannte ich schon. Nach deinem stümperhaft vorgetäuschten Tod habe ich ein paar Nachforschungen angestellt. Als ich die ganze Geschichte erfuhr, paah, lass uns lieber nicht drüber reden. Du hast mich angewidert, du Schwächling! Alles wegen einer Frau! Wie ich dich gefunden habe? Oh, es war nicht schwer deine neue Identität in Erfahrung zu bringen. Allein der Name, Martin Macheath, wie lächerlich, du bist doch keine Theaterfigur! Und mit den Lagerhäusern hast du dich mir ja förmlich aufgedrängt. Aber genug.“ Bernd befreite sich mit einem kräftigen Ruck von seinem Sohn und stieß den Sterbenden zu Boden. „Wieso…hast du…wieso hast du nicht? Wieso??“
„Was stotterst du? Ich kann dich nicht verstehen, sprich lauter mein Sohn! Warum ich mich nicht zu erkennen gegeben habe?“, Bernd ging gemütlich durch das Lokal, nahm sich eine Serviette und wischte sich das Blut von den Händen und von seiner Pistole, während Martin versuchte die Luft in seinen Lungen und das Blut in seinem Körper zu halten. „Nun weißt du mein Sohn, ach, was solls! Wozu einen Sterbenden anlügen? Ich war eigentlich ganz froh, dass du weg warst. Aber dennoch, du bist mein Sohn, deswegen habe ich hier und heute gehofft, dass du deinen blödsinnigen Rachefeldzug aufgeben würdest und wir beide wieder getrennter Wege gehen können. Aber du wolltest ja nicht, du wolltest das Geld ja nicht nehmen, MACHEATH! Du hast mir keine Wahl gelassen.“
„D…DU SCHWEIN…DU MÖRDER…ICH…i..c..h…wollte doch n..nur eine Welt….eine Welt…ich wollte…doch nur die gerechte Strafe für meine…“, röchelte der Junge mit seiner letzten Kraft. Bernd ging gelassen zu seinem Sohn und kniete sich neben ihn. „Das reicht Junge, hör auf. Du bist nicht anders als ich, bist es nicht jetzt und warst es vor allem nicht damals. Oder hast du schon vergessen, dass du es warst, der mich auf das Geschäft von deinem Martin aufmerksam gemacht hat? Du warst es, der mir einen lohnenswerten Profit von dem Kredit versprach! Was? Du wolltest nur helfen? Indem du ihn zu mir bringst?? Was hast du denn gedacht, was passieren würde? Das war ein Geschäft! Da gibt es keine Freundschaft oder Gefühle! Und du wusstest das. Du wusstest das genau! Wehre dich so viel du willst, von mir aus bis zu deinem letzten Atemzug, aber hier habe ich eine Wahrheit für dich, mein Sohn: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ob dir das passt oder nicht.“ Dann erhob er sich wieder und erlöste seinen bibbernden Sohn von seinem Leid mit einem weiteren Schuss aus der Pistole. Bernd Kleister nahm noch seinen Hut und seinen Mantel und machte sich, wie von so vielen anderen Geschäftsessen auch, auf den Weg nach Hause, ohne sich nochmal umzudrehen.

Aus der 6. Ausgabe / Von Kamil Tybel, 5.Juli’16 / Illustration von Priska Engelhardt

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