Das vorliegende Werk handelt von einem Briefroman, der formal zwei Adressaten und dieselben Absender hat: die junge, hübsche Warwara Alexejewna – eine verarmte Näherin, die ihre Mutter verloren hat – und den alten, aufrichtig naiven, stillosen Makar Alexejewitsch – den kalligraphierenden Kanzleibeamten, der sich einsam von Tag zu Tag über die Runden windet. Beide leben in einem der zahlreichen Petersburger Armenviertel des russischen Zarenreiches des mittleren 19. Jahrhunderts. Ein Jahr lang schreiben sie sich inmitten qualvoller und bitterster Armut wechselseitig Briefe. Sie erbauen einander und zeigen bedingungslose Solidarität in Besitzlosigkeit. Der alte Makar Alexejewitsch ist tief verliebt in Warwara Alexejewna. Warwara Alexejewna wiederum verliebt sich in Makar Alexejewitsch; nicht zuletzt aufgrund seiner außerordentlich selbstlosen Liebenswürdigkeit, die er trotz Not, Mangel und Elend aufbringt. Dann – eine gemeinsame Zukunft lediglich in rühriger, utopischer Hoffnungsversenkung möglich – sieht Warwara Alexejewitsch einen Ausweg aus ihrer leidigen Armut. Sie heiratet widerwillig einen reichen Gutsbesitzer. Noch ein letztes Mal schreibt Makar Alexejewitsch ihr einen Brief.
Es ist herzzerreißend, zu verfolgen, dass der soziale Abgrund, der die beiden Armen voneinander unsäglich trennt, eine Zusammenkunft unmöglich macht. Trotz dieser Einsicht, die beiden klar ist, korrespondieren sie miteinander und tragen sich wechselseitig Wärme, Zuversicht und zuweilen auch Freude zu. Die Psychologie der Armen, die es noch heute im kolossalen Reichtum massenweise – beginnend bereits inmitten unserer Gesellschaft – gibt, wird offenbar. Diese Psychologie der Armen, eingebettet in zähen sozialen Kausalitäten, wird im vorliegenden Werk mit der literarischen Subtilität eines jungen Dostojewskis von gerade einmal 23/24 Jahren geschildert. Die seelischen Leiden, die mentale Zermürbung, die physische Zerrüttung und gleichsam die naive Gutgläubigkeit der Besitzlosen wird vor dem Hintergrund sozialer Schranken, die infolge schrankenloser Ausbeutung allseitig wie Marmorsäulen emporragen, hier auf mehreren Linien gezeichnet. In dieser Psychologie wird das geknechtete, unterdrückte Bewusstsein deutlich, das trotz alledem moralischen Halt in dem spezifischen Stolz des Armen findet, statt verworfen und liederlich unterzugehen, zu dem es alle Bestimmung hat. Doch es gibt nicht auf. Denn es will nicht sterben und es verständigt sich allmählich kraft der umstehenden Zwänge – zwar tödlich schleichend, aber doch fortschreitend – über die Gründe seiner Beschaffenheit. Diese Gründe, zu denen es mit viel Leid vordringt, sind Gründe außer es, es sind soziale Gründe aus der stumm obwaltenden Mechanik der Zustände. Doch bevor es soweit kommt, sich selbstverständigt zu erheben, hat es im Innersten Halt in seiner Würde. Der Briefroman bewegt sich im seelischen Äther genau dieses Stadiums, mit dezenten Verweisen auf die soziale Ordnung – eine Selbstverständigung intuitiv ahnend, diese aber keinesfalls durchdringend. Diese Psychologie des Armen, und so legt es uns der raffinierte Dostojewski auch dar, manifestiert sich in diesem Stadium darbend in all seinem Tun und Handeln mit dem unheimlich bedrückenden und den Puls zum Rasen bringenden Schamgefühl. Dem unverständigen Schamgefühl folgt, wie bekannt, die Paralyse.
Wer kennt solche Szenen nicht, in denen ein großmäuliger Bauer in Lumpen seine Stimme im Hals verliert, wenn ihm der fein geputzte Bürgermeister vorsteht? Oder wenn der über Jahrzehnte in ein und demselben Betrieb arbeitende Familienvater, der sich dann und wann über seine Misere unter seinen Kollegen beschwerte, durch den wortgewandten Mehrheitseigner gemeinsam mit dem Standortleiter nach Stand und Befinden des Betriebs befragt wird, womit der Arbeiter mundtot erstarrt, statt die betrieblichen Unzulänglichkeiten kühn vorzutragen? Oder wer kennt nicht das peinliche Erröten des unbelesenen Arbeiterjungen, wenn seine aus wohlsituiertem Haus kommenden Schulkameraden ihm böswillig zum Vorwurf machen, dass er die Grimm-Märchen nicht kenne? Kurz, die Würde der Armen manifestiert sich in Scham. Oder wie schon der alte Karl Marx sagte: “Die Scham ist schon eine Revolution; … Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht.” Ja, auch unsere Zeit bräuchte Scham, viel Scham, um seine Schuld zu vertilgen, die sie in frivoler Weise verdrängt.
Der kurze Briefroman ist das Erstlingswerk des herausragenden Dostojewski‘. Zu Recht hat dieser Roman ihm bereits in seinem jungen Alter den ihm gebührenden Ruhm zuerkannt, mit dem er noch Größeres schreiben sollte. Aber warum, werden sich die Leser nun fragen, haben wir den Nebentitel der Rezension „Bekenntnis eines Schriftstellers“ genannt? Das möchten wir den Lesern gerne abschließend beantworten.
Dieser Roman ist nicht lediglich ein Erstlingswerk, mit dem jeder Meister seine literarische Bahn betritt. Es ist mehr als ein solches Werk. Es ist Bekenntnis und Kampfansage zugleich, es ist persönliches Manifest und universelle Anspruchserhebung zugleich, es hat einen Doppelcharakter und in einem der beiden Elemente eine zu seinerzeit noch undenkbare und allenfalls als unverschämt, ja impertinent geltende Neuheit: die Erhebung der anonymen Volksmassen auf die Bühne der Weltliteratur, namentlich „Arme Leute“. In diesem Sinn könnte man sagen, dass Dostojewski der erste proletarische Romancier ist.
Worin nun aber der Doppelcharakter seines Bekenntnisses liegt? Darin – und ausschließlich darum handelt der Briefroman – dass Dostojewski seine Liebe zur Literatur bekennt – das wird insbesondere in der Schwärmerei zur Literatur des Makar Alexejewitsch und der rührenden literarischen Erfahrung Warwara Alexejewna deutlich – und dass er ferner die Literatur in den Dienst der ungeheuerlichen Mehrzahl der armen, verachteten, stummen Kreaturen stellt; der Anonymität der unterdrückten Bevölkerungsklassen. Damit wird in der Geschichte der Weltliteratur ausgerufen: beginnen wir mit der literarischen Selbstverständigung der Geknechteten und Erniedrigten. Was aber das Genie eines Dostojewski‘s fernerhin auf literarischem Weg zu sagen vermag, ist: “Ja, die Armut ist immer aufdringlich: Das Stöhnen der Hungrigen stört die Satten im Schlaf!”*
Von Mesut Bayraktar, 29.Juni’16
Weitere Rezensionen auf Nous:
Fjodor Dostojewskis “Der Spieler” oder Das Bewusstsein eines Knechts
Maxim Gorkis “Die Mutter” oder Lektionen im Klassenkampf
Lew Tolstois “Anna Karenina” oder Der beständige Wandel
*Zitat aus dem Roman
Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur
One thought