… oder die Demontage der Bürgerlichkeit… oder eine ausführliche Kirchenkritik… oder die Unergründbarkeit menschlicher Gefühle. Auf diesen drei Grundpfeilern steht das 1830 kurz vor der Julirevolution veröffentlichte Werk von Marie-Henri Beyle, besser bekannt als Stendhal. Gerade diese historische Kontextuierung zeugt von der explosiven Vorhersehung und den Krankheiten, die der Autor der Gesellschaft attestierte. Geprägt von eigenen Kriegs- und Politikerlebnissen wie dem Italien- und Russland-Feldzug an Napoleons Seite war er in der Lage seine Hellsichtigkeit in eine greifend echte Gesellschaft in teilweise zum eigenen Schutze fiktionale Städte zu transferieren, ohne dabei auch nur ansatzweise die Realität aus den Augen zu verlieren. Er tut dies in einer Art und Weise, die Honoré de Balzac anlässt zu postulieren, dass es Stendhal mit seinem bestechenden Realismus gelingt, das menschliche Herz zu verletzen – nicht umsonst ist er einer der wenigen in Nietzsches ecce homo gelobten Menschen. Allerdings sagen seine Figuren nur in den seltensten Fällen das, was wir gerne Wahrheit nennen. Die Heuchelei ist omnipräsent. Der Bourgeoisie muss jedenfalls beim Angesicht ihres detailgetreuen Spiegelbildes das Herz in die Hose gerutscht sein. Der Roman muss sie erschüttert haben.
Der junge Sonderling Julien Sorel leidet unter der Tyrannei und Gier seines Vaters, einem Sägemühlenbesitzer und den idiotischen Sticheleien seiner beiden Brüder. Er wächst – so wie Stendhal selbst – ohne Mutter auf. Es fehlt ihm an der für das damalige Provinzleben erforderlichen Rohheit, mit der er aus seinem Umfeld nur so bombardiert wird. Seine Zartbesaitetheit veranlasst ihn dazu, lieber zu lesen, als zu schuften. In tiefer Verehrung Napoleons wünscht er sich in die revolutionäre Hochzeit zurück, in der er durch das Militär einen raschen gesellschaftlichen Aufstieg hätte bewirken können. Im Verdruss über verpasste Gelegenheiten stürzt er sich in Tagträume. Fern davon ein dummer, einfallsloser Provinzler zu sein, verfolgt er sein Ziel auf dem Weg der geheuchelten Frömmigkeit. Ein alter Pfarrer bringt ihm Alter von 14 Latein bei, er lernt die Bibel auswendig und wird mit 19 Jahren Hauslehrer der beiden Bürgermeistersöhne. Die Gesellschaft ist begeistert von seinem Talent, doch niemandem entgeht seine zärtliche Bestechlichkeit, welche ihm später noch häufig zugutekommt und nicht minder gefährlich wird. Er beginnt, die Leiter zu erklimmen, um „sein Glück zu machen“.
In seiner Besonderheit zieht der blasse Jüngling nicht nur den Bann seiner Mitmenschen auf sich, sondern auch die Sympathien der Leser. Für Ersteres geht dieses Empfinden so weit, dass sich eine Dame, der Julien während des Gottesdienstes in den Rücken schießt, für seinen Freispruch einsetzt. Ein bekannter Abbé gesteht Julien sogar den „göttlichen Funken“ ein, diesem Niemand aus der Provinz. Dies soll keineswegs bedeuten, dass unser Held keine Feinde in der Gesellschaft hat – immerhin ist er Napoleonverehrer. Dies ist neben der Hypokrisie seine zweite große Heuchelei.
Stendhals Figuren sind beinahe restlos von stetiger Dynamik geprägt. Sie unterwerfen sich der Beständigkeit des Wandels, verändern ihre Meinung in allermenschlichster Willkür, werfen ihre Prinzipien, ihre Ehre, ihren Stand über Bord.
Der verdammenden Kirchenkritik, welche ja schon der Gesinnung des Helden inhärent ist, gibt der Schriftsteller verschiedene sich selbst entlarvende Geistliche zum Sprachrohr. Allerdings muss ich bei aller Verehrung für das Werk sagen, dass mich der Konflikt zwischen Jesuiten und Jansenisten, der nichtsdestotrotz eine zentrale Rolle spielt, persönlich kalt gelassen hat. Man könnte sagen, er ist unzeitgemäß und nicht wirklich ins 21te Jahrhundert transferierbar. Wenn man aber nach eleganter und allgemeingültigerer Kirchenkritik sucht, wird man durchaus fündig, gerade was die reziproke Machtsicherung von Adel und Klerus angeht. Aber auch die Scheinheiligkeit der Kirche wird angeschnitten. So fragt sich der Held in seiner ironisch implizierender Manier: „Was werde ich denn mein ganzes Leben lang tun? Ich werde den Gläubigen einen Platz im Himmelreich verkaufen. Wodurch wird ihnen dieser Platz sichtbar gemacht werden? Durch den Unterschied zwischen meinem Äußeren und dem eines Laien.“
Stendhal gelingt es, durch die Beziehungen Julien Sorels zu den mit ihm in Kontakt tretenden Adeligen und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Gefälle die Schwächen der Bourgeoisie preiszugeben. Ihr Stolz und ihre Konventionen werden durch eine Spiegelung mit im literarischen Sinne kleinstmöglicher Verzerrung wiedergegeben und können höhnend interpretiert werden. Während des Lesens kann man sich herrlich über die Einbildung und Überheblichkeit der höheren Stände lächerlich machen sowie aufregen. Aber eben aufgrund der ikarischen Hybris des Helden muss man sich von Zeit zu Zeit mit Entsetzen an die Stirn schlagen, wenn er völlig kopflos, aber dafür voll von Herz handelt. Man bekommt nicht nur die Abgründe des menschlichen Daseins im Allgemeinen zu spüren, sondern im Besondern auch die der menschlichen Liebe.
Julien Sorel ist ein Don Juan in zweierlei Hinsicht. Er liebt viel und innig, hat jedoch ebenso die linkische Ader. „Je mehr ich zu gefallen strebte, um so linkischer wurde ich“. Dieses Motto von Kant wird Stendhal mit großem Bedacht einem Kapitel Namens „Eintritt in die große Welt“ vorangestellt haben. Die Liebe ist in diesem Roman ebenso unbeständig wie die Ziele der Protagonisten. Sie schwanken zwischen Zweckliebe und völliger Hingabe. Besonders Julien leidet unter Zerrissenheit, ausgelöst durch die Schizophrenie seiner größten Schwächen – Liebe und Macht. Obwohl die Liebe ihn ständig den Eifer des Klassenkampfes aus den Augen verlieren lässt – man könnte von einem Kampf zwischen dem materiell-gesellschaftlichen Adel und dem von Julien vertretenen „Adel des Herzens“ sprechen – stehen ihm Intelligenz und Intuition stets günstig zu, was ihn nicht davon freispricht, auf Hilfe angewiesen zu sein, die er sich auf seine Art und Weise sichert. In diesem Kampf funktioniert die Befriedigung der Eigenliebe, angekurbelt durch blinden Ehrgeiz, als klassischer Störfaktor.
Das Werk hat seine humoristische Momente, in denen man als Leser selbstgefällig vor sich hinschmunzelt, aber hauptsächlich präsentiert es den Ernst des Lebens und den mit ihm verbundenen Schmerz. Seine thematische Vielseitigkeit wird durch die einheitliche Form der klaren Sprache Stendhals umbunden wie ein sorgfältig geschnürtes Paket voller Abgründe. Ein kunst- und liebevoll angefertigter Klassiker, wie die aufschlussreichen Fußnoten Stendhals verraten.
Rezension und Titelbild von Lukas Schepers, 16.Juni’16
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