Wir besitzen nicht viel. Wir wollen nur Bescheidenes; ein Stück vom großen Brotlaib gegen den Hunger, und etwas Wasser gegen den Durst, und einen regenfesten Dach über den Schädel gegen die Launen der Witterung – das ist ausreichend, aber das ist nichts Selbstverständliches.
Wir kommen von weit her und wissen nicht, wie lange wir bleiben werden. Unsere Füße sind, wegen dem unsagbar langen Marsch, aufgeschwollen und zuweilen, wenn wir ruhen, da tun sie auch weh. Und unsere Glieder sind mittlerweile bleiern schwer. Sie drücken uns auf die morastige Erde und scheinen, uns zu Moor zu machen. Darüber lässt sich aber hinweg sehen, wenn man bedenkt, wovon wir fliehen.
Wir suchen weniger als Nichts, nämlich ein Stück Frieden im weltweiten sozialen Krieg, und es scheint, auch dies Wenige hat seinen Preis, allemal in Europa – wie so viel heute; selbst freie, gebildete Gedanken kosten ein paar Kilo Reis. Da muss man sich schon entscheiden: will man gebildet sein und verhungern oder ungebildet bleiben und überleben? Da fragen die Unbetroffenen theatralisch amüsiert: wer von den beiden ist eigentlich der dumme Komödiant?
Manchmal sagt ihr: wir hätten eine Wahl – Eine Wahl, die haben wir nicht; man kann eine friedvolle Welt nicht herbeiwählen. Man wird jäh in die Umstände gestürzt und dann trimmt der stumme Zwang. Mögen die Umstände feindselig sein, so machen sie dich mit der Zeit feindselig. Mögen sie egoistisch sein, so machen sie dich mit der Zeit egoistisch. Mögen sie linkisch sein, so machen sie dich mit der Zeit linkisch. Die fatalste Tugend des Menschen ist sein Gewohnheitssinn, und der Mensch kann sich an alles gewöhnen, an Liebe ebenso wie an Verbrechen, an Zärtlichkeit ebenso wie an Gewalttätigkeit.
Je menschlicher die Individuen sich gebären, desto verfestigter vertieft sich die Herrschaft der Unmenschen über Menschliches. Wisst ihr, ich halte es, angesichts so vieler Moralwörter, die um unser Herz und unseren Verstand wie Sabotageakte schwirren, für völlig berechtigt von Mensch und Unmensch zu sprechen; eben da veritable Menschen schwer zu finden sind. Die jetzige Ordnung ist eine Zwangseinrichtung der Unmenschen; deswegen gewinnen sie jedes Duell gegen einen Menschen. Widerlegen sie mich und ich will ein Unmensch sein, der in einem Duell gegen einen Menschen tödlich scheitert: kennen sie einen Menschen, der einmal gegen einen Unmenschen gewonnen, ich meine damit, endgültig gewonnen hat?
Gewiss, ihr werdet sagen: aber denken sie doch differenzierter, es gibt nicht nur schwarz und weiß.
Ja, werde ich euch antworten, aber eure Differenzierung schafft schwarz und weiß, und hat bisher herzlich gar nicht Armut beseitigt.
Merkwürdig, was Umstände aus einem intelligenten Tier so machen; den einen machen sie zu einem Unternehmensberater, den anderen zu einem rechtlosen Flüchtling.
Aber auch sie, die Lebensumstände, kosten, nämlich oftmals so viel wie ein üppiges Paket Wertpapiere, Aktien und Anleihen, die sich nur wenige und ganz und gar nicht wir uns leisten können – nur jene, welche geschäftig genug sind, um zu verstehen, wie man den Menschen ihr Schicksal bereitet. Der Rest erleidet ihr Schicksal wie eine gesetzliche Verordnung. Doch was soll’s; wir verstehen nichts von der Spekulation, die den Brot- und Wohnpreis bestimmt.
Wir fliehen vor den großen Verbrechen, denen heute jeder ausgeliefert ist, und werden selbst zu Gesetzesbrechern.
Ihr gebt uns Namen wie Dieb, Betrüger, Grabscher, Lungerer, Viehzeug und Islamist; heißt es. Darüber sehen wir auch hinweg. Wir haben viele Unwägbarkeiten gesehen. Gegen solche Namen sind wir bereits immun. Ihr hört ja auch nicht auf unsere Wörter. Wieso sollen wir auf eure Namen hören? Wir wollen nur unser Leben retten.
Aber ich, Namenloser, wollte euch was anderes sagen: euer Unheil ist, dass ihr uns alle Wege nach und nach versperrt und zuschüttet. Ihr verwandelt unsere Sehnsucht nach bisschen Friedlichkeit – Schub für Schub, doch unnachgiebig zäh – zur wüsten Verzweiflung, die mit steigendem Maß auch steigende Preise zu zahlen bereit ist. (Alles hat heute nun mal seinen Preis. Das Leben ist ein nicht unwesentlicher Kostenfaktor, wie die Europäer sagen, und darum muss man die Dinge in Preise ausdrücken, um verstanden zu werden.) Denn dies, was ihr Schutz und Ordnung durch Kontingente, Lager und bewaffnete Grenzbeamtschaft, die einprügeln, wenn man Hilfe ruft, nennt, ist, wie gesagt, euer eigentliches Unheil und aller Verderb.
Denn wisset: Vertriebene sind wir – Verbannte! – wider Willen – Und mögt ihr uns Verbannte auch mit Verzweiflung übermannen, so wird der Verzweifelte immerzu beharrlicher in seiner Suche nach einem Weg, unter Umständen nach einem Ausweg. Der Verzweifelte wird einen Weg finden. Mag dieser Weg auch ein verzweifelter Weg sein.
Immerhin – ein Weg wird immer da sein, solange der Vertriebene atmet, kann der Verbannte noch verzweifeln.
Von Mesut Bayraktar, 7. April 2016
Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur