Konsumbewusstsein statt Revolution? – Eine Analyse der „Macht des Konsumenten“

Ob Nachhaltigkeit, fairer Handel oder biologischer Ursprung – für immer mehr Menschen, die sich in irgendeiner Weise kritisch mit der heutigen Gesellschaft auseinandersetzen, steht der Preis beim Kauf von Produkten nicht mehr im Mittelpunkt. Es wird bewusst auf Fleisch aus Massentierhaltung verzichtet, streng aufs „Fair Trade“-Siegel geachtet und Filialen von Primark, H&M oder McDonalds lediglich aufgesucht, um gegen deren Eröffnung zu protestieren. Anstatt einfach das preiswerteste oder beste Produkt der gewünschten Qualität auszuwählen, wird nach eigenen Kriterien entschieden, von welchem Unternehmen der Umsatz ein Stück weit erhöht werden soll und vor allem – von welchem nicht. Zu dem befriedigenden Gefühl, nicht den Grundregeln der Konsumgesellschaft erlegen zu sein, mischt sich schnell die Frage, inwiefern man mit seiner Entscheidung etwas verändert hat. Diente sie vornehmlich dem eigenen Gewissen oder ist man vielleicht doch ein kleiner Teil von etwas Größerem, ganz nach dem Motto: „Wenn es alle machen würden, dann…“? Und wenn dass der Fall ist, sollte nicht versucht werden, andere ebenfalls davon zu überzeugen, in dieser Weise zu handeln?

Haben Konsumenten die Macht mit gezieltem Kaufverhalten zumindest in gewissem Gerade einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken?

Um diese Frage zu beantworten, muss die Gesellschaft, die verändert werden soll, zunächst kurz betrachtet werden. Unser Wirtschaftssystem basiert darauf, dass private Unternehmen Arbeiter gegen Lohn beschäftigen, um Waren herzustellen und dann untereinander darum konkurrieren, diese zu verkaufen. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, muss das Produkt von möglichst hoher Qualität und möglichst geringem Preis sein. Damit nichtsdestotrotz der maximale Gewinn aus der Produktion gezogen wird, besteht das Ziel der Unternehmer darin, die Produktionskosten so niedrig wie möglich zu halten oder wie sie es wahrscheinlich formulieren würden: die Produktion zu optimieren. Die beiden effektivsten Schrauben, an denen der Kapitalist (=Unternehmer) zu diesem Zweck drehen kann, sind die Lohnabhängigen und die Umwelt. Jede Lohnerhöhung z.B. verringert entweder den Profit oder erhöht den Preis des Produkts, was wiederum der Wettbewerbsfähigkeit schadet. Genauso sieht es mit umweltfreundlicher oder nachhaltiger Produktion aus, die in der Regel teure Technologie oder Spezialkräfte erfordert. Aus ihrem Ziel, möglichst hohe Gewinne zu erzielen und ihrer Pflicht, im Wettbewerb mitzuhalten, ergibt sich demnach für die Unternehmer das grundlegende Interesse, Lohn- und Umweltschutzkosten möglichst gering zu halten.

Es ist dieses System aus untereinander konkurrierenden Privatproduzenten, welches die Ursache dafür darstellt, dass ein Großteil der Lohnabhängigen weltweit unter katastrophalen Arbeitsbedingungen ausgebeutet wird und weder dem Abholzen der Regenwälder noch der Verschmutzung der Weltmeere oder der Erderwärmung wirksam entgegengetreten werden kann (zur Frage globalen Klimaschutzes: http://nous-online.net/schriften/oekonomie-betrifft-jeden-entweder-wir-aendern-die-welt-oder-die-welt-veraendert-uns/). Obwohl die Bewahrung unserer Umwelt, genauso wie faire Arbeitsbedingungen, im gesellschaftlichen Interesse sein müssten, ist die Verwirklichung davon im Kapitalismus nicht möglich. Denn im Kapitalismus ist es nicht die Gesellschaft, welche die Kontrolle über die Produktionsmittel (und damit der Wirtschaft, Basis des gesellschaftlichen Lebens) hat, sondern ein verschwindend kleiner Teil ihrer Mitglieder und folglich richtet sich die Produktion auch nach deren Interessen (Profitmaximierung) und nicht etwa dem allgemeinen oder gesellschaftlichen Willen.

Während sich die Umwelt nicht wehren kann (wenn Überschwemmungen oder ausbleibende Ernten hier nicht metaphorisch als „Gegenwehr“ gesehen werden), ergibt sich für die Lohnabhängigen, welche die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft darstellen, sogar die Notwendigkeit, ihren Interessen Ausdruck zu verleihen. Um den Unternehmern, die, wie oben beschrieben, grundsätzlich das Ziel verfolgen, die Produktionskosten niedrig zu halten, etwas entgegenzusetzen, organisieren sie sich in Gewerkschaften, um gemeinsam für Interessen zu streiten, allen voran mit dem Mittel des Streiks. Die Theorie des bewussten Konsums setzt jedoch nicht hier, im Produktionsprozess, sondern erst später, beim Kauf der fertigen Waren, an. Wie genau stellen sich die Anhänger der „Konsumentenmacht“ das vor?

Die Idee ist, dass ein Produkt nicht (nur) gekauft wird, weil es das preiswerteste der gewünschten Qualität ist, sondern weil es bestimmte Anforderungen erfüllt, die unabhängig vom Preis-Leistungsverhältnis sind. In Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen kommen im Grunde nur Umweltfreundlichkeit und die Frage, ob es unter gerechten Bedingungen hergestellt und vertrieben wurde (Lohn der Arbeiter, soziale Absicherung der Kleinbauern usw.), in Betracht. Damit sich hier etwas ändert, müsste nun ein große Anzahl Menschen beim Kauf von Produkten darauf achten, die guten, sprich arbeiter- und umweltfreundlichen Unternehmen zu bevorzugen und die schlechten zu meiden. In dieser Weise sollen sich die Konzerne nur am Markt behaupten können, wenn sie ihre Produktionsbedingungen den Ansprüchen der konsumbewussten Verbraucher anpassen, welche dann eine Art Kontrollinstanz darstellen würden. Nach und nach müssten immer mehr Unternehmen auf Umweltschutz und faire Arbeitsbedingungen achten, bis sich schließlich irgendwann ein gewisser Standard durchgesetzt hätte. Soweit die Theorie, doch ist sie auch umsetzbar?

Welcher Konsument hat denn überhaupt die erforderliche „Macht“?

Theoretisch müssen alle Menschen, um zu (über-)leben, Verbrauchsgüter konsumieren und somit gehören auch alle zum potentiellen Kreis der bewussten Konsumenten. Offensichtlich können aber all jene, für die es täglich ums blanke Überleben geht, nicht darauf achten, was sie von wem kaufen. Damit fallen die über 2 Milliarden an Mangelernährung leidenden Menschen von vornherein raus. Geht man weiter davon aus, dass diese schon zu wenig haben, dann dürfte die Zahl derer, die gerade genug haben und ebenso wenig auf ihren Konsum achten können, noch weit höher liegen. Ohne das im Detail auszurechnen, lässt sich festhalten, dass lediglich Personen mit gewissen finanziellen Mitteln eine potentielle „Macht“ als Konsumenten haben und diese sich auf umso mehr Bereiche ausweitet, desto größer die Mittel sind. Ein großer Teil der Weltbevölkerung ist bezüglich ihres Konsums „machtlos“.

All jene, die im jetzigen System am meisten ausgebeutet werden, deren verbesserte Lebenssituation ja eines der Hauptziele darstellt, sind also von vornherein von der Partizipation an einer konsumbewussten „Bewegung“ ausgeschlossen. Die Veränderung kann nur von denen ausgehen, die von der Gesellschaft, die sie verändern wollen, noch in unterschiedlich hohem Maße profitieren. Dazu können zwar auch besserverdienende Arbeiter zählen, jedoch nicht in ihrer Eigenschaft als Lohnabhängige, sondern als privilegierte Konsumenten. Die meisten Mittel hätten jedoch zweifellos die Unternehmer, was zu der paradoxen Konstellation führt, dass jene Klasse, die als Eigentümer der Produktionsmittel die bestehenden Probleme, allen voran die Ungleichheit, erst verursacht, diese nun in ihrer Rolle als kaufkräftige Konsumenten bekämpfen soll. Die Theorie basiert im Grunde auf der Überzeugung, dass es entweder falsch oder nicht möglich ist, die grundlegende Struktur unserer Gesellschaft, das Privateigentum an Produktionsmitteln, zu überwinden, es aber trotzdem möglich sein muss, gewisse Verbesserungen zu erreichen.

Doch welches Interesse eint die bewussten Konsumenten und wieviel können sie tatsächlich bewirken?

Wenn sich die lohnabhängige Bevölkerung wie beschrieben zu Gewerkschaften zusammenschließt, dann verbindet sie ein klares Interesse: die Sicherung und Verbesserung der Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, sprich ihres Lebensstandards. Bewusster Konsum hingegen hat nicht die Anhebung, sondern die Senkung des materiellen Lebensstandards zur Folge. Denn letztlich kann sich der Verbraucher mit einem bestimmten Budget weniger faire als „unfaire“ Produkte kaufen, ohne dass erstere per se eine höhere Qualität haben (Worin besteht für den Benutzer eines Smartphones der Unterschied, ob die verarbeiteten Rohstoffe unter „fairen“ Bedingungen gefördert wurden oder nicht?). Die Käufer von „Fair Trade“ oder Bio-Produkten haben alle das vage Ziel, die Gesellschaft ein Stück weit gerechter zu machen, wofür sie, in unterschiedlich hohem Maße und abhängig von ihren finanziellen Mitteln, auf ein Stück Lebensstandard verzichten. Dass unter diesen Bedingungen eine Massenbewegung zustande kommt, ist kaum vorstellbar.

Letztlich beschränkt die Branche sich fast ausschließlich auf landwirtschaftliche Produkte, zum Teil noch Textilien, aber praktisch überhaupt nicht auf höherwertige Waren oder Dienstleistungen. Das wird einerseits darin begründet liegen, dass die bewussten Konsumenten bei Lebensmitteln davon ausgehen, faire Produkte seien auch qualitativ höherwertiger (und so doch wieder mit gewissem Eigeninteresse handeln). Andererseits ist die Umsetzung bei großen Unternehmen logistisch weit schwieriger. Während in der Landwirtschaft lediglich überprüft werden muss, ob der Großhändler dem einzelnen Kleinbauern einen existenzsichernden Preis für seine Ware zahlt und ob dessen Anbau- oder Tierhaltungsmethoden gewissen Standards entspricht, gestaltet sich die Kontrolle in einer großen Firma, die etliche verschiedene Rohstoffe und Produkte verarbeitet, schon weit schwieriger. Und welches Unternehmen würde schon behaupten, dass es nicht fair produziere? Es gibt schließlich keine einheitliche Definition von „fairem Handel“. Doch selbst wenn sich die bewussten Konsumenten irgendwie auf bestimmte Kriterien einigen sollten, wer liefert ihnen denn die benötigten Informationen zur Kontrolle dieser? Die weitaus größten Mittel für Werbung und Lobbyarbeit, sprich Beeinflussung der Bevölkerung, haben schließlich die aktuell umsatzstärksten Unternehmen, welche mit „Fair Trade“ oder Bio meist wenig zu tun haben.

Eine Vorstellung vom Umfang fairen Handels gibt der Marktanteil vom erfolgreichsten Produkt dieser Art, dem Kaffee. Dieser belief sich 2015 in Deutschland auf etwas weniger als 3% (auch wenn die Tendenz steigend ist). Das Prinzip des fairen Handels wurde im Kapitalismus als Marktnische entdeckt und verschiedene Unternehmen erwirtschaften in diesem Bereich ansehnliche Profite. Das ist kaum verwunderlich, bedenkt man, dass es die Möglichkeit eröffnet, ein Produkt für das Vielfache des Weltmarktpreises zu verkaufen, lediglich, weil ein bestimmtes Siegel auf der Verpackung prangt. Und auch wenn am Ende ein Teil des Zusatzpreises beim Kleinbauern oder Arbeiter ankommt, bzw. für Umweltschutz ausgegeben wird, wer garantiert denn, dass nicht der Händler den größten Happen einstreicht? Dass Unternehmen die Kriterien für eines der vielen „Fair Trade“-Siegel erfüllen, bedeutet ja nicht, dass für sie plötzlich das Wohlergehen der Arbeiter oder der Erhalt der Umwelt im Vordergrund stehen. Weiterhin ist ihr Ziel die Profitmaximierung und weiterhin konkurrieren sie mit anderen Konzernen in der „Fair Trade“-Nische, wie in jedem anderen Bereich auch.

Das Kernproblem bewussten Konsums ist denkbar einfach: Es ändert nichts an der eigentlichen Ursache der Missstände. Nicht nur schützt das „Fair Trade“-Prinzip nicht im Geringsten vor der klassischen Krise des Kapitalismus, der Überproduktion (zwar ist die Idee ja gerade, die Kleinbauern vor solchen Schwankungen zu schützen, aber ab einem bestimmten Punkt ist dies schlicht nicht mehr möglich, wie die Kaffeekrise 2001 anschaulich unter Beweis stellte), auch haben im Zuge der steigenden Ungleichheit immer weniger Menschen die Möglichkeit, bewusst zu konsumieren. Herrschte vor 2007 in Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien oder Irland hierfür noch ein gewisses Potential, wird es inzwischen extrem gesunken sein. Die steigende Konzentration von Kapital bewirkt auch die steigende Konzentration von „Konsumentenmacht“ und damit die Verringerung der Anzahl potentiell bewusster Konsumenten.

Letztlich wird im besten Falle die Lebenssituation von einem verschwindend kleinen Teil der in einer Branche arbeitenden Menschen (vorübergehend) verbessert (so z.B. aktuell von 3% der Kaffeebauern) und in geringem Umfang die Umweltbelastung verringert. Es ist allerdings undenkbar, Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene zu erreichen, was einerseits an den weiterhin vorherrschenden kapitalistischen Marktmechanismen (Überproduktion, Kapitalkonzentration, Konkurrenz), andererseits an der fehlenden Möglichkeit, eine Massenbewegung aufzubauen (die eigentlich Betroffenen sind von vornherein ausgeschlossen, die anderen eint kein gemeinsames Interesse), liegt.

Welche Stellung sollten Sozialisten dann zum bewussten Konsum haben?

Der Gedanke, dass die Konsumenten im heutigen System eine bestimmte Macht besäßen, ist einerseits Resultat der Herausbildung einer Schicht besserverdienender Arbeiter in den Industrieländern (was nicht zuletzt natürlich auch auf deren Kämpfe zurückgeht), andererseits eine Reaktion auf die Entwicklung des Kapitalismus in der Phase des Neoliberalismus. Die fortschreitende Spaltung der arbeitenden Bevölkerung und Ausgrenzung jener, die sich nicht durchsetzen konnten in der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie, führte zu einem Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierung. Immer mehr setzt sich die Vorstellung durch, dass man es alleine schaffen muss, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Idee, auch der Einzelne besäße Macht, nämlich als Konsument, an Beliebtheit gewinnt. Ist die Propagierung dieser Macht, auch wenn sie maximal zu kleinen Verbesserungen führen kann, nicht dennoch harmlos?

Nein. Denn anstatt die einzige wirkliche Macht der arbeitenden Bevölkerung, die Gewerkschaften, wieder zu stärken, suggeriert es den (noch) privilegierten Werktätigen, es gäbe eine andere, individualistische Macht, mittels derer die Gesellschaft verändern werden könnte. Mit der Verlockung einer vermeintlich einfacheren Alternative wird die Kraft der Lohnabhängigen betäubt, ihr Gewissen beruhigt und ihre Gedanken in eine falsche Richtung gelenkt. Die Theorie des bewussten Konsums bindet die Menschen an das bestehende System, anstatt es sie in den Kampf für eine gerechte, sozialistische Gesellschaft einbezieht. Das Schlimmste ist jedoch, dass die Spaltung der arbeitenden Bevölkerung gleich auf mehreren Ebenen weiter vorangetrieben wird: bei den Arbeitern/Kleinproduzenten in solche, die im Nischenbereich des Fair Trade-Handels etwas bessere Arbeitsbedingungen genießen und die übergroße Mehrheit, welche weiterhin auf Schlimmste ausgebeutet wird. Bei den lohnabhängigen Verbrauchern in jene, die sich bewussten Konsum leisten können und jene, die aufgrund fehlender finanzieller Mittel zur Passivität beim „Kampf“ für eine bessere Gesellschaft gezwungen werden. Anstatt die kapitalistische Ideologie, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei, zu bekämpfen, führt die Theorie des bewussten Konsums diese in Wirklichkeit nur konsequent fort. Darin liegt schlussendlich auch ein kaum zu übersehener Denkfehler: Befürworter der „Konsumentenmacht“ handeln innerhalb der Prinzipien des jetzigen Systems entgegen ihrer materiellen Interessen und sehen das Problem darin, dass dies zu Wenige tun. In Wirklichkeit aber, ist es völlig normal das Menschen ihrem materiellen Interesse entsprechend handeln und das Problem besteht darin, dass die Lohnabhängigen sich der Unvereinbarkeit dieser Interessen mit den Grundprinzipien des jetzigen Systems noch nicht bewusstgeworden sind.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen aus moralischen Gründen auf ihren Konsum achten. Doch wenn sie mehr wollen als nur das eingangs erwähnte „gute Gefühl“, wenn sie tatsächlich etwas verändern wollen – dann müssen sie sich ihrer wirklichen Macht bewusstwerden und gemeinsam kämpfen, statt getrennt zu konsumieren.

Von Daniel Polzin, 14.April 2016


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