Der Stereotyp

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Ein Replikat. Er ist immer dabei, aber er sagt nichts. Schweigsam. Meist wohlsituiert, lebt er von Tag zu Tag. Nach außen lächelnd, nach innen verdrängend. So wie das Vergangene, interessiert ihn nicht das Kommende. Er hat gelegentlich seine Ausschweifungen. Er sucht sich in Zerstreuung. Weiß seine Geschichte nicht oder nur lückenhaft. Er ist unpolitisch – apolitisch. Apolitisch? Entpolitisiert. Fragt nicht. Nicht interessiert. Nicht forsch genug. Eher munter in Geschwätz. Ganz Ohr in Unterhaltung. Berauscht im Unterhaltungsdelirium. Geht es um mehr, fühlt er sich überfordert. Nicht wegen einer Unfähigkeit. Nein. Er irrt. Eine List. Man sagt ihm, er verstünde es nicht. Kein Protest. Er nimmt es hin. Sieht es ein. Bleibt hörig. Entwickelt mit dem Gefühl der Überforderung Widerwillen. Einen Widerwillen zu verstehen. Trotzdem. Er geht wählen. Ein unpolitischer Wähler. Wen wählt er? Weiß er nicht. Anhalten? Keine Zeit. Denken? Ist zu wirr. Er imitiert seinen Nächsten. Sein Nächster, bewegt durch selbige Gesetze, kopiert. Er übernimmt die Stimme aller. Er wählt die, die von allen gewählt werden. Hat das überhaupt eine Bedeutung? Es ist bequemer.
Im Wachen, bewegt er sich im Gleichtakt einer Diktion. Er schreitet voran mit dem Lärm des allgemeinen Trommelschlages. Schleicht. Geht. Läuft. Funktioniert. Er tut, was von ihm erwartet wird. Er macht, was zu machen verlangt ist.
Er schläft im Wachen.
Ist er bedrückt, kauft er sich ein Shirt. Schuhe. Eine Jacke. Oder Schmuck. Eine kurze aufkommende Heiterkeit. Dann: Er spürt eine innere Ödnis. Ein Unbehagen. Nein, Unlust! Fadheit. Ignoriert es. Anschließend nimmt er sein Smartphone in die Hand. Weiß nicht warum. Er tut es einfach. Der aufleuchtende Bildschirm führt seine Hand. Seinen Finger. Er gibt ihm die Bedienung vor. Befiehlt ihm, was er zu befehlen hat. Facebook. Whatsapp. Nachrichten. Nichts Neues. Doch! Eine schon erhaltene und geöffnete Mitteilung. Er öffnet sie wieder. Liest sie abermals. Er ist befallen. Befallen von einer ihm unerträglichen Angst. Er lässt von aller Oberflächlichkeit ab. Eine Schwere zerfließt in ihm. Indes, Langeweile.

Von Mesut Bayraktar / Illustriert von Hanna Kuster

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